Worum ging es in Ihrer Ausstellung „Die Macht des Alters“?
In multikulturellen Lebensgemeinschaften, wie wir sie in unserer heutigen Gesellschaft vorfinden, kann es jedenfalls nicht mehr um kulturelle Identitäten, getragen von Religionszugehörigkeiten, ethnischen und genetischen Abstammungen gehen. Vielmehr muss man sich auf Gesetzmäßigkeiten analog zu denen der Naturevolution beziehen. Eine dieser kulturevolutionären Gesetzmäßigkeiten ist die extragenetische Vererbung: die Einflussnahme auf die Nach-uns-Kommenden durch kulturelles Schaffen, wie es in Mitteleuropa seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde.
Die Kenntnis kultureller Übertragungsmechanismen ist für die Entwicklung einer universalen Zivilisation unverzichtbar, etwa beim Aufbau von Institutionen, die für die kulturelle Übertragung über die Generationengrenzen hinaus zuständig sind, wie etwa Museen. Im Museum werden kulturelle Merkmale über Generationen – und nicht nur unter den gleichzeitig Lebenden – extragenetisch vermittelt. Dies geschieht durch Auf-Dauer-Stellen, aber nicht im herkömmlichen Sinne als Fest-Zementierung oder Beendigung der Evolution. Ganz im Gegenteil: das Auf-Dauer-Stellen im Museum oder im Denkmalschutz ist ein Aufbewahren und Verfügbarhalten. Dafür ist grundlegend, was wir in der europäischen Tradition mit dem Begriff des Alterns verbinden: hier wird das Alter der Menschheit nicht durch das bestimmt, was hinter uns, sondern durch das, was vor uns liegt. Dazu bedarf es einer Zustimmung zu gleichen Grundannahmen und Grundbedingungen, wie sie das Grundgesetz vorsieht. Die museale Übertragung kultureller Merkmale vollzieht sich außerhalb von Familien-, Stammes- oder Religionszugehörigkeiten und auch außerhalb von spezifischen Kunstauffassungen, die von politischen oder wirtschaftlichen Interessengruppen dominiert werden. Jeder, der in die Institutionen der Wissenschaft und der Künste eintritt, die das extragenetische, also kulturelle Lernen ermöglichen sollen, muss seine Sprache, seine Religions- und ethnische Zugehörigkeit aufgeben oder zumindest hintanstellen. Er kann sie als Folklore pflegen, darf aber nicht mit einer Gleichberücksichtigung innerhalb der offiziellen Kulturpolitik rechnen.
Was für einen Zeitbegriff setzen Sie voraus?
Sicherlich keinen naiven, wonach Zeit sich pfeilartig aus dem Dunkel der Vergangenheit voranbewegt und eine gewisse Wahrnehmbarkeit in der Gegenwart erlaubt, um sich dann wieder ins Dunkel der Zukunft zu verflüchtigen. Ich benutze einen Zeitbegriff, der mit den Geschichts- und Kunstwissenschaften, mit dem künstlerischen Tun und vielen anderen Bereichen verbunden ist. D.h., ich begründe das Interesse an der Vergangenheit damit, dass alles Gewesene zugleich ehemalige Zukünfte bedeutet; geschichtliches Arbeiten lässt erkennen, in welchem Verhältnis Menschen in einer bestimmten Zeit zu ihren Zukunftsannahmen standen.
Gibt es Grundtypen der Zukunftsannahme?
Ja, alles ist letztlich auf zwei Grundbewertungen der Annahmen reduziert, nämlich auf Furcht und Zittern einerseits und auf Hoffnung auf Veränderung im positiven Sinne andererseits. Man fürchtet, dass etwas kommt, und reagiert darauf entsprechend, oder man hofft, dass etwas so bleibt oder sich noch optimiert und verhält sich entsprechend anders. Wer eine bestimmte Annahme über die wirtschaftliche Entwicklung in der Zukunft hat, wird einen Kredit aufnehmen oder es bleiben lassen. Wenn er befürchtet, dass Absatzchancen für das Produkt, das er mit dem Kredit entwickeln will, zu gering sein könnten, wird er diesen nicht aufnehmen, weil die Zinsen zu hoch sind. Glaubt er hingegen, in Zukunft mit dem Produkt reüssieren zu können, wird er den Kredit sogar zu relativ hohen Kosten aufnehmen, weil er meint, die Zukunft darin schon antizipieren zu können. Wer einen Kredit aufnimmt, vergegenwärtigt ein zukünftiges Handeln als Jetztmöglichkeit. Zukunft gibt es folglich nur für die jeweils gegenwärtig Agierenden.
Der Durchschnittsbürger hat sich bisher kaum darauf eingestellt, dass er nicht gegenwärtig sein kann, wenn er nicht zukünftig ist, und nicht zukünftig, wenn er nicht veraltet ist.
Der junge Mensch muss wissen, dass seine einzig verbindliche Zukunft das Alter ist. Wenn er unter dieser Voraussetzung nicht sein Bewusstsein in den aktuellen Tag einbringt, hat er auch keine Jugend. Man muss wissen, dass sich alltägliche Zumutungen, wie Einstieg mit Siebzehn in ein Arbeitsverhältnis und Abzug eines Lohnanteils für die Rente, nicht der beliebigen Willkür eines Generationenmodells verdanken, sondern im Wesen des Versicherungswesens liegen, das eine Antizipation von Zukunft bedeutet. Die Zukunft, nämlich das Alter, ist primär von Interesse für die jungen Leute. Eine Versicherung können sie zwischen ihrem neunzehnten und dreißigsten Lebensjahr noch bequem und kostenerträglich abschließen; danach wird es schwieriger. Wenn heute ein junger Mensch dazu angehalten ist, ein Bewerbungsschreiben mit einem Lebenslauf zu begleiten, so fragt sich heute kaum einer mehr, was Biographiepflicht bedeutet: nämlich sein eigenes Leben historisierend zu sehen. Die meisten missverstehen das als eine ihnen aufgezwungene Drangsalierung durch potentielle Arbeitgeber. Kaum einer hat verstanden, dass er unter der Zeit-, d.h. Biographiepflichtigkeit steht und dass er ein historisches Bewusstsein auszubilden hat. Mich interessierte stets, ob die Generation, die pausenlos die Möglichkeit hat, sich aus dem aktuellen Fernsehangebot oder über Recording historische, also alte Filme anzueignen, ein anderes Verhältnis zur Zukunftsantizipation hat. Bis heute gibt es leider keine empirische Studie, die darüber Aufschluss gibt. Auch Wissenschaftler haben sich wohl noch nicht hinreichend mit der Bedeutung der Biographie- und Geschichtspflichtigkeit von jedermann beschäftigt. Bisher konnte also nur die generelle Vermutung geäußert: je höher die Schulbildung, desto geschichtsfähiger das Bewusstsein und desto ausgeprägter die Antizipationsfähigkeit von Menschen. Das mag generell so stimmen, obwohl heute den Durchschnittsabgängern an der Universität nach unserer Erfahrung nicht gerade besondere Fähigkeiten zur Antizipation zugesprochen werden können. Sie sind auf demselben Konsumentenniveau wie andere gemäß den Massenmedienangeboten auch.
Es ist gewiss so, dass der Bildungsgrad, wenn man Ökonomie studiert, von vornherein den Zugang zu spekulativen Annahmen über die Entwicklung von Börsenkursen, bestimmten Produktklassen oder Marktsegmenten größer war und auch noch ist. Aber die banale Frage, ob sich damit in drei Jahren noch Geld verdienen lässt, ist heute nur noch eingeschränkt zu beantworten.
Die Vergangenheiten sind ehemalige Gegenwarten, in denen man sich auf die Zukunft bezogen hat, während die jeweiligen Gegenwarten zukünftige Vergangenheiten sind. Wer historisch denkt, verfügt über einen pompejanischen Blick, der das Gegenwärtige immer sub specie futurae sieht: Er sieht alles Jetzige dergestalt in Entwicklungsperspektiven, dass die jeweilige Gegenwart keine Dominanz im Sinne von Absolutheitsansprüchen welcher Art auch immer gewinnen kann.
Wird die Gegenwart also nicht als Übergang zur Zukunft verstanden?
Das eigentliche Interesse an Zukünften kann man nur den jeweils gegenwärtig Lebenden zugestehen. Denn die zukünftig Lebenden existieren noch nicht, und die ehemals Gelebthabenden haben nur noch eine Stimme im Hinblick auf das Beispielhafte ihrer Annahmen aus der Zeit von vor hundert, fünfhundert oder zweitausend Jahren.
Zeit ist im wesentlichen eine Frage der Antizipation von Zukunft in der jeweiligen Gegenwart. Geschichte wird also nicht im Hinblick auf die Vergangenheitserfahrung, sondern von der Zukunftsannahme der Menschen her geschrieben, und die war um 1300 eine andere als um 1500. Geschichte darf sich nicht darauf beschränken zu schildern, wie etwas gewesen ist, denn die Wahrnehmung des Gewesenen hängt davon ab, was man in seiner Gegenwart unter dem Druck der Zukunftsannahmen für bemerkenswert und bedeutsam hält. Es ist eine Allgemeinerfahrung, dass jede Generation mehr oder weniger ihre eigene Vergangenheitsaneignung unter dem Druck ihrer jeweiligen Zukunftsannahmen betreibt. So vergegenwärtigt sich jede Generation auch ihren Tizian, ihren Dürer oder ihren Caspar David Friedrich auf jeweils ihre Weise als historisch vollkommen neu. Eine Lehre kann aus der Geschichte nur ziehen, wer sich auf die je konkreten historischen Handlungsanlässe bezieht und ihre je spezifischen Zukunftserwartungen oder -befürchtungen berücksichtigt.
Adolf Muschg spricht vom „Diebstahl an Gegenwart“, der dadurch begangen wird, dass man immer nur auf das wartet, was kommen und erwartet wird.
Das glaube ich nicht. Für mich ist das Zeitschöpfung. Jeder, der so vorgeht, ob institutionell in Museen oder individuell als Dichter oder bildender Künstler, betreibt Zeitschöpfung, keinen Zeitdiebstahl. Hinter diesem Reden vom „Diebstahl an Gegenwart“ verbirgt sich ein bekanntes Modell. Man behauptet, es sei unstatthaft, die Historie unter den Zukunftsannahmen einer Gegenwart zu sehen, weil sie dadurch verfälscht werde. Aber man verfälscht sie in jedem Falle. Es kommt nur darauf an, sie dann als diejenige zu erkennen, die wir nicht nachzuahmen vermögen. D
ie Geschichte lehrt uns gerade nicht, Sachverhalte und Situationen ließen sich beliebig oft wiederholen; sie stellt im Gegenteil deren Irreversibilität dar. Die Erfahrung der Geschichtlichkeit ist die Erfahrung des Verlustes von Möglichkeiten, die historisch lebende Menschen hatten, wir aber nicht. Wir können sie nur als verlorene gegenwärtig halten. Mercier begründete die Idee einer Geschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt des „was-wäre-gewesen-wenn?“ (1). Wenn wir diese unverwirklicht gebliebenen Möglichkeitsformen aufbewahren, so vergegenwärtigen wir uns Geschichte. Aber das Aufbewahren der Möglichkeitsform, also der Entscheidungsmöglichkeiten von Lucrezia Borgia oder Napoleon, bedeutet nicht, dass wir sie noch aktualisieren können. Vielmehr sind die Figuren für uns in der ungeheuren zeitlichen Ferne von Geschichte wichtig, wobei der gestrige Tag genauso fern ist wie der vor 5000 Jahren. Man bekommt einen Sinn für die Notwendigkeit, sich zu entscheiden und weiß, dass man die Alternativen nicht immer offen halten kann, was heutige Historiker auch wissen. Als Beispiel dafür fällt mir das Jahr 1989/90 ein, als das sogenannte Fenster historischer Möglichkeiten, nämlich die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands und der gemeinsame Eintritt in die NATO etc., nur ganz kurze Zeit offen stand. Danach war das, obwohl theoretisch unter anderen Bedingungen jederzeit wieder denkbar, faktisch nicht mehr möglich. Dieses Fenster der Möglichkeiten erscheint auch in physikalischer oder evolutionärer Hinsicht, also etwa in Bezug auf die Entwicklung der Arten: Es gab jeweils mehrere Alternativen, aber man kann sich jeweils nur für eine entscheiden. Man muss den Sinn für die Notwendigkeit dieser Entscheidung schärfen in dem Bewusstsein, dass die gewählte Option womöglich nicht die optimale oder irgendwie rechtfertigbare ist. Tatsächlich entscheiden sich Menschen selten für die günstigste oder einfachste Möglichkeit. Es verhält sich daher keineswegs so, dass sich unsere Zukunft immer freudiger, immer besser oder größer gestaltet.
Wie wird Zeit im Schatten von Angst und im Licht von Hoffnung erlebt?
Angst ist, anders als die unbegründete Furcht, ein kulturevolutionär entwickelter Kontrollmechanismus, um Risiken zu vermeiden. Eine Angst oder Furcht, die auftritt, um ein zu großes Risiko nicht eingehen zu lassen, ist eine begründete und absolut positive Erfahrung. Hypochonder, die pausenlos um ihre Gesundheit bangen, leben besonders lange, weil sie gar keine Risiken eingehen. Folglich kann die Zeiterfahrung unter dem Druck der Angst außerordentlich produktiv sein. Umgekehrt ist Zukunftsantizipation unter dem Eindruck naiver Bedenkenlosigkeit oder eines gewissen Optimismus außerordentlich gefährlich. Auf diese von der Anthropologie her beschreibbare Bewertung der Evolution kommt es an und nicht auf den platten, allseits propagierten Hoppsa-jetzt-kommen-wir-Positivismus, der behauptet, Angst sei für zupackendes Handeln schädlich. Diese Position ist ganz falsch. Menschen, die Risiken vernünftig kalkulieren, tun das immer unter der Annahme, etwas könnte schief laufen. Umgekehrt richten Hauruck-Draufschläger, also die Vabanquespieler in der Geschichte, immer die größten Desaster an.
Wozu neigen Sie selber?
Ich bin Pessimist aus Optimismus. Früher war ich gnadenlos optimistisch im herkömmlichen Sinn und ständig peinlich, ängstlich oder wütend berührt, wenn sich mein Optimismus nicht erfüllte. Die Menschen waren nicht so, wie ich es von ihnen erwartete, um meine Art von optimistischer Zukunftssicht verwirklichen zu können. Jetzt sehe ich die Dinge realistisch, d.h. pessimistisch. Ich bin dabei wesentlich ruhiger und gelassener, also eigentlich optimistischer, weil mich nichts von dem, was passiert, überrascht. Immer den schlimmsten Fall annehmend, versuche ich, diesen zu vermeiden. Je vernünftiger ich kalkuliere, desto risikoloser wird alles und desto optimistischer kann ich sein.
Sehen Sie sich in der Nähe von Ernst Bloch?
Wenn Sie auf den Begriff der Utopie anspielen, so haben wir unsere eigenen Vorstellungen: wir sehen die Utopie nicht mehr als anzustrebenden Idealzustand im reinen Nirgendwo, sondern als erfüllte Utopie im Überall. Nehmen Sie das Beispiel von Globalisierung etwa im Hotelwesen: Wenn Sie Kunde irgendeiner Hotelkette sind, so können Sie so gut wie an jedem Ort der Welt deren Angebot so wahrnehmen, dass Sie schon immer vorher wissen, wo sich der Lichtschalter im Zimmer befindet und was es zum Frühstück gibt. Das Nirgendwo der Utopie hat sich folglich im weltweiten Überall erfüllt. Das gleiche gilt entsprechend für die Zeit: auch die Uchronie erfüllt sich nicht in der Nirgendzeit oder im Niemals, sondern in jedem Augenblick und im Immer, also in dem, was man mit „Ewigkeit“ bezeichnet. Von uchronischer Geltung und Rechtfertigung spricht man, wenn etwas seit unvordenklichen Zeiten so ist, anthropologische Konstanten etwa. Uchronische Annahmen sind Evidenzannahmen, und bekanntlich wird das Evidente nicht thematisiert, sondern als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt. In unserem kulturellen Alltagsleben wie auch in der zivilisatorischen Perspektive ist die Annahme von Selbstverständlichkeiten durch alle Menschen weit höher, als wir glauben. Das beginnt schon mit der Kommunikation: wir kommunizieren prinzipiell aus der Einsicht heraus, dass wir uns nicht verstehen können. Es bleibt uns von daher nur ein ganz geringer Spielraum, um mit Wahrheitsbeweisen, mit der Abarbeitung von Thesen oder mit Erkenntnisgewinn zu operieren. Man kann etwas hier und da in Frage stellen und daraus theoretische Überlegungen ableiten, wie Philosophen oder Künstler es tun. Diese Annahmen führen zu nichts weiter als zur Bestätigung der Evidenz. Kant kann soviel herumphilosophieren, wie er will. Er kommt über den Satz „Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem anderen zu“ nicht hinaus. Er untersucht die Evidenz in der Annahme von jedermann, denn jeder benutzt diesen Satz. Auf der Suche nach einer historischen Begründung fragt er, ob – und wenn ja, wann – dieser Satz im kodifizierten Recht verankert wurde. Über die Grundannahme einer Selbstverständlichkeit kommt er dabei nicht hinaus. So sehr sich Philosophen seit Platon auch bemühten, sie gelangten nicht über das Ausformulieren dessen hinaus, was wir ohnehin für gegeben halten. Egal, ob Sie die Bio- oder Neurowissenschaften nehmen, es geht stets um anthropologische Konstanten oder kulturevolutionäre Grundbedingungen unseres Erdendaseins. Auch in der Kultur werden Evidenzen produziert: viele halten es für selbstverständlich, Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder zu nehmen; in vielen Familien gibt es Hierarchien; man muss sich religiösen oder sonst wie geprägten Verhaltensnormen unterwerfen. Zu wissen, dass andere Gruppen es jeweils anders halten, hindert uns nicht daran, an dem, was wir für selbstverständlich erachten, auch weiterhin festzuhalten. Menschen neigen dazu, das von ihnen für evident Gehaltene als das entscheidend uchronische Potential von Kultur anzunehmen. Folglich veranlassen sie andere dazu, dies ihrerseits zu akzeptieren. Das führt zu den bekannten Kultur-, Klassen-, Rassen-, Geschlechter- und Generationskämpfen in der Geschichte.
Unter dem Einfluss neuer Medien droht die Gefahr, dass der Raum unter dem Diktat einer anderen Zeitkonzeption verschwindet.
Es war immer schon eine Spekulation, dass Kants Grundkonstanten der Wahrnehmung, nämlich die Kategorien der unmittelbaren Anschauung „Raum“ und „Zeit“, eine Einheit bildeten. Das verstehen die Physiker bis heute so. Innerhalb der Kulturgeschichte geht man aber von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen reversibel und irreversibel aus. Was irreversibel ist, definiert die unwahre Kategorie der Anschauung Zeit. Reversibel ist das, was wir herkömmlicherweise Raum nennen. Sie können z.B. dieselbe Strecke dreimal hin- und zurückgehen; der zurückgelegte Weg steht dabei primär unter der Kategorie räumlicher Wahrnehmung. Die Zeit, die beim Gehen vergeht, ist jedoch irreversibel: wenn Sie nach einer halben Stunde wieder zurückkehren, sind Sie schon nicht mehr ganz derselbe wie auf dem Hinweg.
Was halten Sie von Paul Virilios Beschleunigungstheorie?
Ja, das ist nun wieder ein anderes Problem. Bis vor kurzem war er ein Hymniker des Tempos, der die Kulturgeschichte mit Blick auf das Phänomen der Verschnellung von Zeit untersucht hat; seit acht Jahren ist er anscheinend vom Gegenteil überzeugt: Er plädiert nun für die Sicht der Verzögerung, der Stillstellung der Zeit und hält die Dauer für grundlegend für Uchronien, eben für Evidenzen in zeitlicher Erfahrung.
Was hat es mit der „Beschleunigung“ und „Verzögerung“ der Zeit auf sich?
Das sind lediglich Kategorien des subjektiven Zeiterlebens und ihrer Ausgestaltung. Wir alle kennen Situationen, in denen uns dieselbe objektive chronologische Zeit, z.B. zehn Minuten, einmal extrem lang und einmal so kurz vorkommen, als vergingen sie wie im Fluge. Das hat mit den Formen unserer Verarbeitung von Wahrnehmungen und Erlebnissen zu tun, ist aber höchst subjektiv und daher vor allem in der Bewertung höchst anfechtbar. Nehmen wir einmal den Fall eines Patienten – das Wort bedeutet bereits „jemand, der mit der Zeit in geduldig-wartender Weise umgeht“. Dieses geduldige Warten kann aber eine ungeheure Art von Aktivität oder Hektik auslösen. Zum Beispiel, wenn sich der Patient ununterbrochen von einer Therapie in die nächste begibt und dabei auf Leute trifft, die immer wieder etwas Neues vorschlagen. Alltägliche Formen des Zeiterlebens wie Patient-Sein, Im-Stau-Stehen, oder Arbeit im Zeitvertrag gewinnen durch die vielen Individuen, die sie jeweils subjektiv in spezifischer Weise erleben, auch wieder sozial objektiven Charakter, so dass im allgemeineren Sinn etwa von Warteschlangen, Warteschleifen oder Reformstau gesprochen wird.
Nach Sartre wäre die Versubjektivierung objektiver Zeit Ausdruck menschlicher Freiheit.
Das wird von jenen behauptet, die sich als Buddhisten trainieren. Im Europa des 19. Jahrhunderts gab es davon sehr viele, angefangen von Richard Wagner bis hin zu Adalbert Stifter. Es ist jedoch gleichgültig, ob man als kosmologisch versierter Astrophysiker in Dimensionen von hundert Millionen Jahren als Kleinstzeitmaßen rechnet oder sich als Hobbygärtner auf die nächste Salatsaison einstellt. Keine Ahnung, ob das Freiheit ist. Diejenigen, die das sagen, nehmen wohl an, es bestehe eine gewisse Freiheit in der Verfügbarkeit von Zeit. Aber nur dann, wenn man sich auf das Modell der Stillstellung von Zeit, der Erzeugung und Erzwingung von kultureller Dauer in Gestalt tausendjähriger Reiche, tausendjähriger Pyramiden, tausendjähriger Mumien oder tausendjähriger Kulturgüter orientiert. Sonst ist das wohl schwer zu behaupten. Auf diese Weise soll Zeit als Einflussfaktor auf die eigene Weltaneignung eliminiert werden. Damit glaubt man sich von der Notwendigkeit entbunden, Zeit in ihren Lebensformen auf herkömmliche Weise zu verarbeiten. Alles in allem eine intelligente Befreiung vom Problem, aber keine Lösung.
Was macht die Beschäftigung mit Zeit so notwendig?
Unsere anthropologische Orientierung auf Zukunft und Vorsorge. Allein wegen unseres psychologischen Haushalts, also aus Angst oder Furcht, müssen wir uns darum kümmern, was kommen wird. Pausenlos mit Antizipationen beschäftigt, sind wir gezwungen, darauf Rücksicht zu nehmen. Das ist ein Merkmal bei höher entwickelten Systemen in der Natur und bereits weit unterhalb der Stufe der Hominiden gegeben – zwar nicht im Bewusstsein, aber immerhin im biologischen Mechanismus. Menschen, die bei Bewusstsein sind, spielen alle Handlungen antizipierend durch und reagieren stärker auf die antizipierten Annahmen als auf das faktisch Gegebene. Denn auch das faktisch Gegebene muss durch das limbische System, also durch das Zwischenhirn, bewertet werden, und das geschieht im Hinblick auf die Frage, ob etwas Lust oder Ekel erzeugt, ob man etwas unterlassen oder ausführen soll. Die Dichotomie Lust/Unlust ist die Basis dafür, unsere Abhängigkeit von Wahrnehmungsreizen aus der Außenwelt zu kontrollieren. Es wäre schrecklich, und wir würden glattweg verenden, blieben wir an einer Reiz-, Lust- und Wahrnehmungsquelle kleben. So sind z.B. Ratten verdurstet, nachdem ihnen Sonden implantiert wurden, die unaufhörlich lusterzeugende neuronale Impulse auslösten, so dass die Tiere „vergaßen“ zu trinken. Da zeigt sich, wie notwendig es ist, dass wir durch die Bewertung von Wahrnehmungsreizen dazu befähigt sind, uns von Reizquellen abzulösen. Wir verfügen folglich über eine größere Sicherheit, wenn wir aufgrund von Antizipationen handeln. Denn es ist leichter möglich, sich von diesen Vorgaben als von einer faktischen, mit primären Bedürfnissen verbundenen Reizquelle abzukoppeln. Wenn Sie Durst haben, wird es schwer sein, sich von etwas anderem als von dem Trinkbedürfnis leiten zu lassen. Dieser Impuls verstärkt sich so, dass Sie alles vergessen und sogar unsinnige Risiken eingehen, einzig und allein aus der Notwendigkeit heraus, das System aufrecht zu erhalten. Erfahrene Bergsteiger oder Wüstenwanderer retten sich per Selbstkontrolle vor Halluzinationen, also sich verselbständigenden Antizipationen, indem sie sich klar machen, dass das, worauf man reagiert, eine Leistung des Gehirns und kein objektiver Tatbestand ist.
Erinnern Sie, wann Sie sich erstmalig und unter welchen Umständen mit der Frage befassten, was Zeit sei?
Ja, beim Zahnarzt. 1948 suchte ich als 12jähriger zum erstenmal einen Zahnarzt auf. Damals kamen bei der Behandlung noch die guten alten Bohrer zum Einsatz, die wie Steinbohrer arbeiteten. Da das sehr schmerzhaft war, überlegte ich mir, wie sich der Schmerz kontrollieren lässt, und traf mit dem Arzt folgende Übereinkunft: Ich brachte zur Behandlung einen Wecker mit und ließ mir vorher sagen, wie lange dieser oder jener Vorgang dauert. Entsprechend der Dauer eines Behandlungsabschnitts stellte ich jeweils den Wecker ein und trainierte mich darauf, während dieser Zeit keinen Schmerz zu empfinden. Es gelang mir auch, für die jeweilige Zeit, mal für drei und mal für fünf Minuten, die Schmerzempfindung vollständig zu unterdrücken. Aber kaum ging der Zeiger über die angegebene Zeit hinaus, reagierte ich wieder panisch.
Hat sich Ihr Verhältnis zur Zeit mit der Zeit verändert?
Das hängt davon ab, in welchen Zeitdimensionen man sich jeweils bewegt. Als Ästhetiker bin ich seit zwanzig Jahren auf die neurophysiologische Begründung meines Fachbereichs ausgerichtet; ich gehe davon aus, dass so etwas wie eine naturevolutionäre anthropologische Konstantenangabe für unser ästhetisches Bearbeiten der Welt möglich ist. Seit mindestens 35.000 Jahren besitzen Menschen das Gehirn, mit dem wir heute noch funktionieren. Da hat sich nichts geändert.
Meine Einstellung zur Zeit hat sich insofern gewandelt, als ich nicht mehr durch das, was man im Alltag sieht, schockiert werden kann. Also schnell wechselnde Moden und angegebene Verfallsdaten, Sollbruchstellen oder die Panik, zu spät zu kommen, die Befürchtung, nicht zeitgemäß oder up to date zu sein – so etwas verliert sich vollständig. Man ist besser in der Lage, scheinbar evidente Anforderungen wie „man muss doch mit der Zeit gehen“ zurückzuweisen.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Kunst und Zeit?
Von Augustin stammt die theologische Begründung von Zeit im Sinne des Zeitpfeils: Er kommt aus der dunklen Vergangenheit, wird in einem kurzen Teil sichtbar und verschwindet in dunkler Zukunft wieder. Der nach der Scholastik, nach dem Universalienstreit und nach Anselm von Canterbury entwickelte Zeitbegriff kam aus der bildenden Kunst, weil Maler sich mit der Frage beschäftigen mussten, wie sich etwa in der Darstellung von Marias Lebensweg ihre verschiedenen Lebensabschnitte gleichzeitig und parallel zueinander auf einem Bild veranschaulichen lassen. Sie fragten sich z.B., wie die Heimsuchung von Maria durch den Verkündigungsengel darstellbar sei. Da gibt es ein Nacheinander zeitlicher Verlaufsformen in fünf Stadien: zunächst das Erschrecken Marias; dann das Überraschtsein durch die Verkündigung des Engels; danach das Eintreten Marias in eine Diskussion mit dem Engel; schließlich das Akzeptieren des Auftrags und am Ende ihr Dank. Das musste dargestellt werden, aber auch die verschiedenen Stationen ihres Lebens nach der Verkündigung. Dazu benötigten die Künstler einen Zeitbegriff bildlicher Art. Übrigens ist Giotto der erste Großmeister, dem es mit den Arena-Fresken von Padua um 1310 gelang, das Problem aufs Raffinierteste zu lösen. Stellen Sie sich die Geschichte vor, wie den betagten Eltern Marias selbst eine Verkündigung zuteil wird und wie Marias Vater, der Hirt Joachim, im Tempel abgewiesen wird, weil er keinen Sohn gezeugt hat und zur Herde zurückkehrt. Giotto zeigt das anhand der Darstellung eines Hundes als Hund des Herrn. Das heißt, das Tier erkennt den Zurückkehrenden. Darin wird die Zeitbegrifflichkeit ausgedrückt. Dass der Hund zusammen mit seinem Herrn lebte und der Herr wegging und wieder zurückkehrt, das alles manifestiert Giotto in einem einzigen Gestus, indem er den Hund so darstellt, dass die ganze Kette zeitlicher Verlaufsformen, darunter auch die vorwegnehmenden, für jeden Betrachter erfahrbar wird.
Die Künstler haben, und das ist ein Hauptteil der Evolution in der bildenden Kunst, ungeheure Anstrengungen unternommen, um Zeitbegrifflichkeiten zu schaffen, und dabei ungeheure Resultate erzielt. Teils geschah das unter Rückgriff auf die Antike, etwa den architektonischen Grundtypus „Zentralbau“ des Pantheon. Die Künstler haben auch mit Rücksicht auf antike Mythologien geklärt, was überhaupt eine mythologische Aussage sei, nämlich eine zwar von Menschen irgendwann verfasste, aber inzwischen urheberlos gewordene. Zwar hat ein Mann namens Homer, wer auch immer er gewesen sein und wann auch immer er gelebt haben mag, die Ilias und die Odyssee aufgeschrieben, aber diese Erzählungen gewannen so sehr an Macht, dass es nicht mehr darauf ankam, wer ihr Urheber war. Es handelte sich um Erfahrungen, die für jedermann, der zum Kulturkreis gehörte, evident waren wie das Schicksal des ewigen Wanderers und Heimkehrers.
Verschiedenen Autoren, die zwischen 1435 und 1439 aus Byzanz nach Florenz kamen, um dort den Lehrbetrieb der untergegangenen Universität von Konstantinopel fortzusetzen, gelang es schließlich, den Begriff der Wahrheit in vernünftiger, auch heute für die Wissenschaft noch gültiger Weise darzulegen: demnach sind Sätze, die wir für wahr halten, nicht mehr auf einen individuellen historischen Autor zurückführbar. Vielmehr gelten sie weit darüber und über ihre Epoche hinaus. Das Urheberloswerden war in gewisser Weise eine Produktion der Zeitform der evidenten Dauer. Was wahr ist, ist wahr für lange Zeit oder sogar für immer. So ist auch die Naturwissenschaft ohne die Erfindung von Zeitschöpfungsformen wie Ewigkeit, Wahrheit oder Dauer gar nicht denkbar. Wenn sie den Gesetzen der Natur, z.B. der Schwerkraft nachhorchte, kam es darauf an, die Naturevolution, also die geschichtlichen Veränderungen unter dem Aspekt zu untersuchen, was sich nicht verändert. Folglich wurde die historische Betrachtung von Formwandel auf Formkonstanz hin (und umgekehrt) eingeführt. Im Grunde ein ungeheuerlicher Schritt, da Zeit substantiell formuliert werden konnte, was in wissenschaftlichen Operationen und Experimenten nutzbar war: objektiviert als Newtonsche Zeit, aber auch als Erfahrungs- und Erzählzeit. Diese Zeitformen haben eine viel größere Bedeutung bekommen als etwa die heute schon relativierte Newtonsche Auffassung.
Wie verändert sich die Darstellung von Zeit in der Kunst mit den Medien wie Malerei, Skulptur und Film?
Das Entscheidende in der gesamten Medienentwicklungsgeschichte ist wohl mit dem „Recording“ verbunden, also der Möglichkeit, eine einmalige Aufzeichnung bildlicher oder auditiver Art beliebig oft wiedergeben zu können. Das war mit der Fotografie für Augenblickswahrnehmung und mit dem Film durch erneutes Abspielen bereits möglich, wenn auch nur in fester Hand einiger Weniger. Erst seit dem Videorecording für jedermann fand dieses Zeitverständnis enorme Verbreitung. Es hat sich quasi den alten christlichen Vorstellungen der Wiederauferstehung von den Toten wie ein Synonym angenähert. So können wir heute Clark Gable per Film wiederauferstehen lassen oder ein authentisches, nur zufällig auf Ton aufgenommenes Ereignis beliebig häufig wiederholen.
Wie verändert sich unser Verhältnis zur Zeit per Recording?
Jedermann kann sich von der Zeiterfahrung als pfeilhaftes Vorbeifliegen aus dem Dunklen ins Dunkle ablösen und sich den geschichtswissenschaftlichen oder künstlerischen, sehr unterschiedlichen Zeiterfahrungen öffnen. Dass man nicht mehr an der kalendarischen Zeit klebt, ist grundlegend für die Alltagserfahrung. Was das bedeutet, zeigt sich, wenn man etwa bei der Silvesterparty in Kollision mit unterschiedlichen Wahrnehmungsformen von Zeit gerät: Da ist die Zyklizität, die sich aus dem Umlauf der Erde um die Sonne ergibt, also der Wechsel Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, sowie die chronologische Voranschreibung der Jahre. Beides in der Vorstellung zusammenzukriegen, bereitet uns ziemliche Schwierigkeiten. Aber es gibt das künstlerische, in der Ausstellung Macht des Alters gezeigte Beispiel des Künstlers James Cabot, das dies dennoch veranschaulicht. (2)
Mit der Ankunft Neuer Medien sollen Zeitschwellen hinfällig werden, nicht wahr?
Man mag den Eindruck gewinnen, aber die freie Verfügbarkeit ist dennoch nicht gegeben, weil wir auf rein somatischer Basis und weitgehend auch aufgrund unserer Abhängigkeit von psychosomatischen, auch mentalen Prozessen der Alterung irreversiblen, in der Evolution als sinnvoll herausgearbeiteten Bedingungen unterliegen. Davon kann man sich nicht freimachen. Wer den permanenten Wandel in den Appellen erlebt, alle halbe Jahre die Anzugzuschnitte zu wechseln, der muss sich klarmachen, warum das nicht per Dekret eines Diktators ein für allemal aus der Welt geschafft wird. Wann auch immer man dies versuchte, etwa Mao mit seinen blauen Ameisenanzügen, scheiterte der Versuch kläglich. Langsam wird also erklärlich, warum wir nicht Herrscher über die Zeit sind.
Es gibt eine Tendenz in den historischen, kulturwissenschaftlichen und sonstigen Disziplinen, den Master of Time zu machen, um ein methodisches und theoretisches Fundament für die Entwicklung von Zeitbegrifflichkeit auszuweisen. In gewisser Hinsicht sind heute sogar Naturwissenschaftler, auch wenn sie auf die neuesten Technologien ausweichen, gezwungen, Historiker zu sein. Das liegt in der Logik der Verwendung technologischer Angebote. Sie müssen sich um die Geschichte ihrer Disziplinen kümmern und selbst dann historisch denken, wenn sie glauben, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Maschinen aus der bisherigen Geschichte entlassen zu sein. Wer einen Positronenemissionstomographen verwendet, glaubt vielleicht, er benötige weder Kenntnisse der darstellenden Anatomie noch womöglich der Anatomie überhaupt. Im Gegenteil: durch den PET erweist sich die historische Entwicklung der darstellenden Anatomie erst besonders leistungsfähig. Der Historisierungsdruck steigt, und die Historisierung würden wir in unserem Bereich eher als Musealisierung auffassen. Der negativen Bewertung des Begriffs der Musealisierung lässt sich entnehmen, wie groß der Widerstand gegen den Verzeitlichungsdruck ist, obwohl jedermann dazu neigt, mit seinen Produkten, Büchern, Bildern in Archiven oder Museen zu landen. Selbst alter Plunder wird auf Trödelmärkten als „Antiquität“ zum geldwerten Gut.
Wie wichtig ist das Zeitschwellenbewusstsein?
Es ist laut Erfahrung aller Kulturen grundlegend. So, wie man im Territorium Grenzmarkierungen setzt, Furchen mit dem Pflug zieht, die den Tempelbereich markieren, Trennlinien zwischen Völkern und Stämmen absteckt, so muss man auch Grenzen im Zeitlichen setzen. In allen Kulturen gibt es Initiationsriten verschiedenster Art. Ob nun die Aufnahme in den Erwachsenenstand bei Naturvölkern, die christliche Taufe, die Konfirmation, die Verleihung von Abiturzeugnissen, die Beendigung des Studiums mit einer Diplomfeier oder die Verleihung des Lehrlingsbriefes, das sind unumgehbare Markierungen von Schwellen in zeitlichen Verlaufsformen.
Der Barock hat in der Architektur phantastische Programme realisiert. In Kassel sehen Sie noch an den Wilhelmshöher Kaskaden, wie Schwellen den Wasserlauf von oben beschleunigen, stauen oder ganz stillstellen. Die Dynamiken des Zeiterlebens werden durch solche Retardierungen oder Verschnellungen zum Bewusstsein gebracht.
Inzwischen hat man eingesehen, dass es Diplomfeiern an den Universitäten geben muss. Das alles sind Zeitschwellendarstellungen. Es werden auch immer mehr Firmen- und Tennisvereinsjubiläen gefeiert. Es werden wieder die runden Geburtstage auf eine nicht-alltägliche Weise zum Gegenstand bewusster Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen gemacht.
Wenn Feste oder Feiern der Ausdruck für die Wahrnehmung solcher Schwellen waren, so ist das bei uns durch zuviel Feiern allerdings etwas herabgewürdigt worden und nicht mehr recht tauglich für die Ausgestaltung von Zeitschwellen. An jeder Schwelle findet aber irgendetwas Entscheidendes statt, und das ist sowohl im gesellschaftlichen als auch im familiären Bereich so. In den letzten zwanzig Jahren hat das Bewusstsein für die notwendige Markierung von Zeitschwellen eher abgenommen. Wenn man glaubte, man könne das beliebig aufgeben, so verschwindet damit auch das Bewusstsein für so etwas wie die biographiepflichtige Darstellung des eigenen Lebens. Lebensläufe sind für Unternehmer nur interessant, wenn sich daraus etwas über ein zukünftiges Verhalten des Bewerbers erfahren lässt.
Was ist für Sie die prägnanteste und schönste Darstellung von Zeit in der Kunst?
Das kann ich aus dem Stand nicht beantworten. Da müsste ich mich umschauen, weil es so wahnsinnig viele exzellente Lösungen gibt. Aber aufgrund des bisher Dargestellten würde ich Giottos Hündchen in den Arenafresken nennen. Das ist die früheste derart elaborierte und bis heute noch nachvollziehbare Darstellung. Darüber weiter nachdenkend, käme ich sicherlich auf noch weiterreichende Parallelen wie die Stellung von Christus auf Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle. Früher wurde diese Pose vom Jupiter Tonans, also von einem antiken Modell abgeleitet. Das ist gewiss eine der großen, allgemeingültigen Zeitbegrifflichkeiten in der bildenden Kunst. Aber auch Robert Wilsons Theaterstücke oder Brechts Verfremdung des Zeitgeschehens auf der Bühne, also die Darlegung von Erfahrungs- und Wahrnehmungszeit, sind spannende Beispiele. Aus jeder Epoche lässt sich wohl in den Künsten eine Handvoll wirklich grandioser Leistungen aufzählen. Ich wette darauf, dass sich die Mehrzahl der Menschen, dazu ermuntert, ein musikalisches Beispiel zu benennen, auf Beethoven und im Bereich der Kunst auf Michelangelo kaprizieren würde. Aber für heute bleibe ich selbst einmal bei Giottos Hündchen.
(1) vgl. zuletzt die Publikation von R. Cowley (Hg.), Was wäre gewesen, wenn? München 2000.
(2) siehe den folgenden Text „Die Gestalt der Zeit. James Cabot“.