1. Stille
Es liegt nahe anzunehmen, daß erst in der industrialisierten Welt Stille zum Thema wurde; aber von den römischen Satirikern bis zu Goethe beklagten Bewohner der vorindustriellen Zeitalter den Verlust der Stille, selbst der nächtlichen Stille. Juvenal wettert gegen das ununterbrochene Gelärme in der Großstadt Rom. Der kühle Satiriker wertet die Zumutungen nicht vorrangig als private Belästigungen, sondern als Zeichen fürs Chaos des öffentlichen Lebens, das seinen römischen Ordnungssinn gefährdete. Der zunehmende Lärm, die fehlende Stille wiesen auf die Überforderung hin, die Ordnung der Res publica noch zu gewährleisten.
Goethe erregte sich vornehmlich über das enervierende Hundegebell und Kindergekreische. Aus der Art, wie er darauf reagierte, läßt sich entnehmen, daß es ihm um mehr ging als die Störung seiner konzentrierten Arbeit. Lobte er nicht emphatisch das tätige Schaffen der Handwerker und Händler, Gaukler und höfischen Sozialagenten? Was ihn störte, war offensichtlich der Mutwille des Lärmens; Mutwille ist der Feind der Autorität; sie sah er bedroht durch die Ohnmacht, sich schweigenden Respekt zu verschaffen.
In Abwandlung eines seiner skandalträchtigen olympischen Worte, daß man sich eher mit Ungerechtigkeiten abfinden könne als mit der Störung der Ordnung, läßt sich sagen, daß man leichter unbeschadet Jahre im Lärm zyklopischer Schmieden verbringen könne als Stunden im mutwilligen Gelärme Unzivilisierter.
Durch Jahrhunderte wurde die Störung der Totenruhe wie ein Kapitalverbrechen behandelt. Auch wenn heute Friedhofsstille als erschreckend empfunden wird, weil sich unter ihrer Last jede Lebensäußerung verliere, war vormals Friedhofsstille geboten, um den Respekt vor den Toten zu bekunden. Ihre übermächtig spürbare Anwesenheit erforderte äußerste Zurückhaltung, um kein Sakrileg zu begehen.
Wie verträgt sich diese Haltung mit volkstümlichen Praktiken, sich durch Lärmen der rachsüchtigen Geister zu erwehren? Die alemannische Fastnacht trägt heute noch Züge dieses Ursprungs im animistischen Denken, das natürlicher ist als die raffinierte theologische Begründung der Erhabenheit Gottes, in der die Toten ewig präsent bleiben. Animistische Vitalität vertreibt im unbändigen Lebenslärm die Vorherrschaft des Todes über die Lebenden. Die christliche Frömmigkeit entfaltet sich in der Erhabenheit der Stille, in der erst die Anwesenheit Gottes und seiner Heerscharen von Toten wahrnehmbar wird.
So wurde Schweigen zum Beweis konzentrierten Hörens auf die Stimme des Herrn. Das konnte Gottes Dienern zur Regel der Lebensführung werden, etwa den Schweigemönchen, den Trappisten, aber auch Weltmenschen, zumal, wenn ihre Herren von Gottes Gnade herrschten.
Das gebotene Schweigen in der Anwesenheit des Höherrangigen mutwillig, übereifrig oder auch nur spontan zu brechen, galt als Angriff auf den durch Exponierung, auratisches Strahlen und ehrfurchtgebietendes Ritualverhalten Ausgezeichneten. Noch die bürgerlichen Familien trainierten ihre Sprößlinge auf solche Auszeichnung des Familienvaters und der Alten; sie durften nicht unaufgefordert sprechen.
Seit Schulen die Enkulturation Heranwachsender übernahmen, manifestierte sich Disziplin und Funktionstüchtigkeit als Fähigkeit, in Stille zu verharren – mehr oder weniger verbrämt als pädagogisches Mittel, die Konzentration der Schüler zu befördern. In den Schulpausen achtete man darauf, daß der vitalistische Lärm nicht zur animistischen Austreibung der Lehrerautorität überschwappen konnte; er wurde bestenfalls als Entlastung für den Stau der Motorik während der Schulstunden hingenommen.
Aus solchen und vielen anderen historischen Auszeichnungen der Stille haben bis heute das stille Gedenken, das ergriffene Schweigen, die Stille vor dem Sturm, der Stillstand der Entwicklung nicht nur metaphorisch überlebt. Hinzugekommen sind die tödliche Stille als zerstörerische Langeweile oder als erzwungener Entzug von Wahrnehmung in der Einzelhaft, die erschreckende Stille der Weiten des Weltalls, die sich als kosmisches Verlorenheitsgefühl und als Verlust heimatlicher Orientierungssicherheit manifestieren.
Deswegen sollte man den allseits beklagten Verlust der Stille nicht nur mit Blick auf medizinisch gebotene Streßentlastung durch Kuren und Ferien immer wieder erörtern. Nicht regulierbare Lärmbelästigung wird den Zeitgenossen vielmehr zum Terror, weil auch sie den Lärm als Zeichen für den Zusammenbruch von Ordnungen und Regularien, von personaler oder funktionaler Autorität, als Überforderung von Wahrnehmungskapazität und Orientierung empfinden.
2. Das stille Bild
Die Bilder- und Lärmflut der mediatisierten Welt läßt die Sehnsucht nach dem stillen Bild wachsen, so scheint es. Je schneller die Bilder laufen, je unstrukturierbarer die stimmlichen Appelle Attraktivität nur noch behaupten, desto höher wird die Erwartung an die herkömmlichen stillen Bilder der Malerei, der Skulptur, der Architektur und der Musik. Fanden deswegen Tendenzen zu Reduktionismus in der konstruktiven Kunst, zu Minimalismus in der Musik, zur Banalisierung des Materials in der Skulptur und zum Formalismus und Konzeptionalismus in der Architektur besonderes Interesse, zumal in der Entgegensetzung zum lauten Pathos der Expressionisten, zur lärmigen Technikorgie futuristischer Animisten?
Lärm schlagen, auf den Putz hauen, lautstarke Manifestation subkultureller Banden und von Trägern politischen Geltungswillens erschrecken nur denjenigen, der nicht an ihnen teilnimmt. Dennoch scheinen Schweigemärsche überzeugender zu sein, die stumme Anklage gewichtiger und das sprachlose Elend ergreifender. Sogar die braunen Horden inszenierten den Höhepunkt ihres Selbstbewußtseins als feierliche Stille, durch die der Führer, selbstergriffen bis zur rituellen Starre, in die Aura des höchsten Wesens erhoben wurde.
Heute erlebt man dergleichen nur noch in Kunsttempeln, etwa vor den Ikonen der Kunstgläubigen in Gestalt von Malewitsch-Werken. Der politisch diskriminierte Führerkult kann im konsensgetragenen Künstlerkult fortleben, so lange die Werke der Künstler als Manifestationen höheren Wesens, gar des Absoluten, mißverstanden werden. Die Radikalität moderner Künstler ist aber erst gerechtfertigt, wo sie mit ihren Bildern nicht mehr die Anwesenheit, die illustrierende Bebilderung oder den Wirklichkeitsbeweis für das Absolute vorzugeben behaupten, sondern dessen Abwesenheit zum Thema werden lassen.
Das große stille Bild vergegenwärtigt das Abwesende, das Mangelnde, das Unerreichbare als Anwesendes. Jede Arbeit radikaler moderner Künstler verweist darauf, daß das Gelingen eines Kunstwerks durch noch so große Meisterschaft nicht mehr erzwingbar ist. Auch hierin folgt die Künstlerschaft, seit sie sich in Analogie zum weltenschöpferischen Gott etablierte, den gedanklichen Vorgaben der Theologen. Die hielten ihren Geltungsanspruch mit dem Denkbild des unerkennbaren oder des abwesenden Gottes noch aufrecht, als ihrer Klientel der Glaube an die animistische Beschwörungspraxis verlorenging. In der negativen Theologie ließen sie ihre gedankliche Leistung nicht nur mit dialektischen Tricks unwiderlegbar werden; sie kamen vielmehr auf psychologische Erfahrungen zurück, die jedermann besitzt, nämlich in der Erfüllung des Wünschbaren weniger Befriedigung zu finden als im Mangel. Nie spürt man die Bedeutung des Nächsten oder Partners nachhaltiger als in seiner Abwesenheit. Selten ist man intensiver auf Schönheit, Gutheit oder Wahrheit orientiert als in der gestalterischen Wüste, in der Beliebigkeit von Verhalten und Handeln, und in der verzweifelten Einsicht, nur vermuten, aber nicht sicher sein zu können, was an behaupteten Wahrheiten dran ist.
Die großen stillen Bilder vergegenwärtigen den Verlust, ja die Unmöglichkeit selbst meisterlicher Könnerschaft, die Forderung nach dem Schönen, Guten und Wahren noch zu erfüllen. Sie kritisieren Wahrheitsbehauptungen, moralische Selbstgewißheit und ästhetische Normativität, aber nicht als bloße kontrafaktische Behauptungen, sondern ermöglichen die Orientierung an diesen Denknotwendigkeiten gerade dadurch, daß sie mit ihren Werken nicht mehr behaupten, des Absoluten, des Geistes, des Gottes teilhaftig geworden zu sein. Die großen stillen Bilder sind Beispiele dafür, wie man diesem erzwungenen Relativismus, Pluralismus standhalten kann, ohne in Gleichgültigkeit, Beliebigkeit oder existentielle Selbstmitleidigkeit zu verfallen. Die ausgeprägteste Tradition, Bilder in diesem Sinne still werden zu lassen, entstand in der Malerei mit der Gattung des Stillebens, nature morte, natura morta, still life.
Seit 20 Jahren herrscht in den kunsthistorischen Studien ein auffälliges Interesse für diese Gattung vor; in Deutschland manifestiert durch große Ausstellungen wie Stilleben in Europa im Landesmuseum Münster 1979 oder die Leselust in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 1993. Die Untersuchungen zum Stilleben führten zu der vergessenen Tatsache zurück, daß diese Bilder des stillen Lebens, der auf Dauer gestellten Naturerscheinungen, auf eine bemerkenswerte Weise sprechen: durch eine Dramaturgie der Sprachlosigkeit. Stilleben sind nicht bloß schmückende Genrebilder, Vitrinen der Dekoration. Sie machen von der Methode, das wimmelnde Leben stillzustellen und die Erscheinungen zu fixieren, Gebrauch wie die historischen Naturwissenschaftler, wenn sie Leben stillstellten, um es studieren zu können. Sie sezieren aber die Blumen, Früchte und Pflanzen, die Jagdbeute und Nahrungsmittel, die Möbel und Schmuckstücke, die Trophäen und Pokale nicht, um deren Anatomie, Materialbeschaffenheit oder Funktionslogiken kennenzulernen. Die Stilleben-Maler untersuchen vielmehr kulturelle Wertigkeit und sprachlich kommunikative Leistung der Objekte unserer Lebenswelt, um herauszustellen, welchen sinnvollen Gebrauch wir von den Gütern des irdischen Lebens machen können und machen sollen.
Die Vielfalt der gegebenen oder hergestellten Dinge schätzbar werden zu lassen, verlangt, sie in Ordnungsgefüge theoretischer, politischer und sozialer Vorstellungen einzupassen und diese ordnende Anschauung in anschaubare Ordnung zu überführen. Solche Ordnungsgefüge sind für Menschen offensichtlich unverzichtbar, obwohl sie der Vielfalt natürlicher Ausprägung des Lebens und seinen ständig wuchernden Formen kaum zu entsprechen vermögen. Nur als Stillgestellte, als Tote ist die Natur ordnend betrachtbar; nur in der dauernden Stille konzentriert zu erfassen.
Was die Natur uns aufzwingt, nämlich das Leben der Tiere und Pflanzen zu töten, damit wir uns von ihnen nähren, gilt offensichtlich auch für die geistige Nahrung durch Erkennen und Vergewisserung. Die kulturelle Ordnung der Verhältnisse, ihre sinnbildliche Vergegenwärtigung, dient in erster Linie dazu, die Gesetzmäßigkeit unseres natürlichen Daseins und unseres Lebens in der Natur akzeptabel werden zu lassen. Tötung ist die Bedingung der Anverwandlung, der Einverleibung. Die symbolische und allegorische Repräsentation des Todes als Voraussetzung des Lebens wird durch Kulturen umso mehr gewährleistet, je intensiver sie auf das Erzwingen von Dauer in Bauten, Bildern, Kulten, in Sitten und Gesetzen ausgerichtet sind.
Das Streben nach Tausendjährigkeit aller Kulturen zeichnet für die soziale Existenz des Menschen die Bedeutung aus, die für das natürliche Leben der einzelnen Organismen der Tod hat. Das Wechselspiel von Allegorisierung und Symbolisierung in den Stilleben formt das Wechselspiel von Dauer der Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten in Kultur und Natur zu der unabwendbaren zeitlichen Beschränkung individuellen Lebens aus. Allegorisierungen gehen von begrifflichen Formulierungen aus und unterwerfen die konkreten Erscheinungen dem Gebot der Dauer, das sie nicht erfüllen können, weil sie verwelken, verwesen, zerbrechen, verschwinden. Die Symbolisierungen gehen von den je einzelnen Manifestationen des natürlichen oder kultürlichen Lebens aus und abstrahieren von ihnen Begriffe, die sich zu Ordnungen fügen lassen.
Diese Parallelbewegung von Top-Down-Anschauung und Bottom-Up-Erkenntnis garantiert die Sprachmächtigkeit und Anschauungsfülle der Stilleben. Sie werden zu großen stillen Bildern, wo sie die Anschauung des Gesetzmäßigen, der akzeptierten Ordnungen mit der Erkenntnis vermitteln, daß jedes einzelne und konkret Gegebene in dieser Welt gerade durch seine Vergänglichkeit auf alle Zeit aufgehoben ist in der Ewigkeit der Natur und der kulturell erzwungenen Dauer.
Die heute wieder so sehnsüchtig nachgefragten großen stillen Bilder können sich zwar nicht mehr auf die Gewißheiten niederländischer Stilleben-Maler stützen, aber deren Verfahren gewinnt an Interesse. Mit der Wiederkehr der Allegorie beschäftigen sich nicht nur Kunsthistoriker und Ästhetiker; die Naturwissenschaftler haben ihrerseits die Parallelbewegung von Top-Down- und Bottom-Up-Denken wiederentdeckt. Im Unterschied zu bisherigen Auffassungen läßt sich inzwischen selbst für die pauschal sogenannten abstrakten Künste eine Ikonographie aufzeichnen. Die Lesbarkeit solcher Werke als große stille Bilder ist dann gegeben, wenn ihre materielle Vergegenständlichung als Zeichengefüge Rekonstruktion der allegorischen und symbolischen Sprachoperation ermöglicht und die wechselseitige Bedingtheit beider erreicht wurde. Es gelingt, diese Operationen den heute gängigen sprachwissenschaftlichen Differenzierungen von pragmatischer, semantischer und syntaktischer Dimension aller Zeichengefüge anzuschließen. Noch tönt es etwas spekulativ, die abstrakte Kunst der Gattung Stilleben zuzurechnen. Wir sind ja auch immer noch nicht bereit, vorurteilsgewiß zu untersuchen, wie die abstrakte Kunst in der Geschichte des ornamentalen Gestaltens zu beschreiben ist.
Aber mit Markus Brüderlins Arbeit (über die Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst) (1) haben sich die Chancen erhöht, die Beziehungen zwischen Stilleben, ornamentalem Gestalten und abstrakter Malerei der verschiedensten Ausprägung zu sehen und für sehr viel aufschlußreicher zu halten, als man es bisher wagte. Die Einheit der drei Gattungen läßt sich als das nachgefragte große stille Bild definieren.
3. Das große stille Bild
Zumindest seit dem ausgehenden Mittelalter bemühten sich die Maler, ein Manko ihres Metiers zu kompensieren. Verglichen mit der Alltagswahrnehmung schien die Bildwahrnehmung über den Sehsinn eine Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmungstätigkeit zu sein.
Mit imponierender Raffinesse erfanden sie Bildkonzepte, durch die Erzählweisen, szenische Detailgenauigkeit und eine Reihe formaler Effekte den Betrachter dazu anhielten, Bilder auch zu hören, ihnen taktile Reize abzufordern oder jene spezifischen Valeurs zu schätzen, die den Geschmacks- und Geruchssinn aktivieren.
Michael Baxandall hat darauf aufmerksam gemacht, wie etwa Kaufleute des 15. Jahrhunderts durch multisensuelle Bildwahrnehmung trainiert wurden, in Märkten und Magazinen angebotene Waren auf Materialqualität, Lagendichte oder Farbechtheit zu prüfen.
Zentralperspektivische Raumdarstellungen, vor allem des Naturraumes, trainierten die Fähigkeit der Fernreisenden, Wegebeschaffenheit mit Blick auf Transportprobleme wie Zeitaufwand und Sicherheit abzuschätzen.
Die Porträtmalerei übte die soziale Intelligenz ein, mit der man charakterliche Eigenschaften, situatives Verhalten und kommunikative Eigentümlichkeiten potentieller Vertragspartner zu antizipieren und zu bewerten lernte.
Durch die Landschaftsmalereien wurden die Betrachter angehalten, Klima und Atmosphäre zu erspüren; Reisealtäre und Studiobilder trainierten Konzentrationsfähigkeit durch Ausblendung aller äußeren Wahrnehmungsreize. Die Historien- und Aktionsbilder, Festapparate und Gesellschaftsinszenierungen eröffneten den Zugang zur Selbstwahrnehmung im Rollenverhalten.
Die empathische Bildkraft erfaßte den ganzen Körper des Betrachters – ein mentales Training, das auf Selbstbeherrschung und Selbstpotenzierung ausgerichtet war.
Durch diese Wirkungen von Bildwahrnehmung eröffnete sich die Erfahrung – lange bevor man explizit die natürlich gegebene Synästhesie ansprechen konnte –, daß über das Sehen auch alle anderen Sinne stimuliert werden können.
Das Arbeiten mit Modellen, die die Maler intensiv wahrzunehmen hatten, um sie ins Bild umzusetzen, nötigte sie, die Wirkung von Bildern in dem Maße zu kalkulieren, wie in die Gemälde ihre Wahrnehmung außerbildlicher Gegebenheiten (z. B. von Modellen) eingingen.
Die Bildwirkungen der Malerei näherten sich nicht nur der natürlichen Alltagswahrnehmung an, sondern überboten sie durch die Fähigkeit, Fernes nahe heranzuholen, akustische Wahrnehmung wie Schmerzens- und Freudenschreie, Tierlaute und die Geräuschkulisse von Lebensräumen fast so zu intensivieren, wie das spätere technische Verfahren durch Lautstärkeregelung erreichten. Malereien vermochten den Betrachter ins schwerelose Taumeln zu versetzen oder im strukturlosen Raum zu verorten.
Auf dem Höhepunkt solcher Bildwirkungskalküle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Bildwerke bewußt als multimediale, synästhetische aufgefaßt – entweder durch potenzierende Addition künstlerischer Gattungen in Präsentationseinheit wie beim Wagnerschen Gesamtkunstwerk oder durch Bildentgrenzung wie bei Turner respektive Monet.
Heute belegen die Neurowissenschaften, daß die Synästhesien natürlich vorgegebenen Kooperationsformen der neuronalen Leistungszentren entspringen: die natürliche Alltagswahrnehmung rechnet immer schon mit multisensueller Wahrnehmung.
So bedeutend und folgenreich auch die Erfindungen der Künstler gewesen sein mögen, mit ihren gattungsspezifischen und Gattungsgrenzen überschreitenden Werken die Wahrnehmung von Artefakten von der Vorherrschaft des visuellen Sinnes zu befreien, – so sehr evozierte gerade diese Tendenz auch gegenläufige Bemühungen: die immer schon natürlich gegebenen und artifiziell verstärkten Synästhesien zu entkoppeln.
Auf diese Anstrengung richtet sich ein Gutteil radikaler künstlerischer Konzepte der Moderne. Das bei Mondrian zum Äußersten getriebene Bemühen um die Zweidimensionalität der Bildfläche ist dafür genauso ein Beleg wie die Arbeit von monochromen Malern oder der Kampf gegen die Assoziations- und Interpretationszwänge, den Newman, Rothko oder Judd durch konsequente Vermeidung von Bildsuggestivität führten.
Diese Tendenzen der radikalen Moderne konstituieren das große, stille Bild; es vereint in sich die Tradition des ornamentalen Gestaltens, des Stillebens und die der absoluten Malerei.
Ornament und Decorum thematisieren den nichtbildlichen Raum, dessen Definition die explizit als Bildfeld ausgewiesenen Wahrnehmungsangebote erst ermöglicht. Das Ornament markiert den bildlosen Raum; demzufolge sind jene Ornamentformen am leistungsfähigsten, also epochenübergreifend, die sich nicht mehr auf Abstraktionen von Gestaltwahrnehmungen zurückführen lassen; es ist das abstrakte Ornament der reinen, anschauungsleeren Formen.
Aus der Tradition des Stillebens rekrutieren die großen, stillen Bilder die Dramaturgie der Sprachlosigkeit, will sagen die Erfahrung des Bildbetrachters, daß nicht das Bild, sondern er spricht. Die im Stilleben angebotenen Sujets erfordern vom Betrachter Begriffsbildungen, mit denen er top down die Allegorien formuliert, die es ihm ermöglichen, auf dem Stilleben überhaupt etwas zu sehen. Wenn er dann, von begrifflichen Ordnungen ausgehend, die einzelnen Sujets identifiziert, wird er wiederum genötigt, in einer bottom-up-Bewegung den Gegenständen der konkreten Anschauung, den Sujets, Erkenntnisse abzufordern, die ihm seine eigene Wahrnehmungsoperation erschließen. Er wird zum Wahrnehmenden seiner eigenen Wahrnehmung und nicht bloß seiner Wahrnehmung des Bildwerks.
Aus den Konstrukten absoluter Malerei, also aus der Bemühung, zum Beispiel Farbe selbst als Form und nicht mehr als Attribut von geformten Gegenständen – auch der Bildwerke als Gegenstandsform – zu verstehen, geht in die großen, stillen Bilder die künstlerische, vormals theologische Strategie ein, das Bild ex negativo zu formulieren, also durch Abwesenheit als Form der Anwesenheit, durch Scheitern als Form des Gelingens, durch Auflösung als Formbildung, durch Verhüllen als demonstrative Kraft des Zeigens, durch Schweigen als Echobildung.
Still wird das Bild, indem es nicht selbst spricht, auch nicht monosensuell anspricht, sondern den Betrachter zum Sprechen bringt. Groß wird es durch die ausdrückliche Thematisierung des Bildumraums als Nichtbild, als Denkraum, auf den sich der Betrachter konzentriert.
Das große stille Bild ist also ein Anlaß zur Selbstwahrnehmung der Wahrnehmung im Verhältnis von Allegorisierung der Begriffe und begrifflicher Fassung der Anschauung; es entkoppelt nicht nur die zwanghaften Synästhesien, sondern auch die konventionalisierten Beziehungen von Begriff und Anschauung. So gewinnt es die Kraft, die Wahrnehmungen von immer schon mitlaufenden Urteilsschablonen zu reinigen.
Damit gerät es verdächtig nah an Charakteristiken von Meditationsobjekten wie Mandalas oder Ikonen respektive Topikrepräsentationen, wie sie für Untersuchungen der empirischen Psychologie verwendet werden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die Nähe zum Anschauungs- und Erkenntniswert von Verbildlichungen der Wahrnehmungsaktivitäten, wie sie etwa Positronen-Emissions-Tomographen liefern, zu virtuellen Bildern also.
Das Verlangen nach den großen stillen Bildern aktiviert zur Abwehr des täglichen Trommelfeuers von Aufmerksamkeitsappellen die Autorität der Stille. Im Schweigen der Bilder gelingt es dem Betrachter, sich dem Zwang zu entziehen, immer bloß auf die Wahrnehmungsgebote reagieren zu müssen. Die Bilder werden zu Echos der Gespräche, die der Betrachter mit sich selber führt. Diese inneren Dialoge überschreiten die Privatheit, sobald sie zur Parallelbewegung von Allegorisierung und Symbolisierung führen – soweit sich also die typisierten Anschauungen entleeren und die konventionalisierten Begriffe erblinden.
In der Stille als der Vergegenwärtigung des Abwesenden und der Abschattung des penetrant Gegenwärtigen entkoppeln sich Anschauungsformen und Begrifflichkeiten – ein mentales Training der Entleerung, ein Freiräumen der Wahrnehmungsfelder. In dieser stillen Leere gewinnt der Betrachter Freiheit, die ihm nur Bilder gewähren: die Freiheit wegzusehen.
(1) M. Brüderlin: Die Einheit in der Differenz: die Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts, Diss. Wuppertal 1994.