Buch Der Barbar als Kulturheld

Bazon Brock III: gesammelte Schriften 1991–2002, Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist

Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.
Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.

„In Deutschland gehört zu den wichtigsten Aktivisten auf diesem Feld (der Massentherapie) gegenwärtig der Performance-Philosoph Bazon Brock, der nicht nur eine weit gestreute interventionistische Praxis aufweisen kann, sondern auch über eine ausgearbeitete Theorie des symbolischen Eingriffs verfügt.“ Peter Sloterdijk in Die Verachtung der Massen, Frankfurt am Main, 2000, Seite 64

„Mit welchem Gleichmut Brock das Zähnefletschen der Wadenbeißer ertrug, die ihm seinen Erfolg als Generalist verübelten ... Bazon Brock wurde zu einer Symbolfigur des 20. Jahrhunderts, von vielen als intellektueller Hochstapler zur Seite geschoben und von einigen als Poet und Philosoph verehrt ... Er konnte wohl nur den Fehler begehen, sein geniales Umfassen der Welt nicht nur zu demonstrieren, sondern es lauthals den anderen als eine legitime Existenzform vorleben zu wollen.“ Heinrich Klotz in Weitergeben – Erinnerungen, Köln 1999, Seite 107 ff.

Sandra Maischberger verehrt Bazon Brock wie eine Jüngerin. Denn täglich, wenn es Abend werden will, bittet sie mehrfach inständig: „Bleiben Sie bei uns“ und sieht dabei direkt dem n-tv-Zuschauer Brock ins Auge. Also gut denn: „solange ich hier bin, stirbt keiner“, versicherte Bazon schon 1966 auf der Kammerspielbühne Frankfurt am Main. Erwiesenermaßen hielt er das Versprechen, weil ihm sein Publikum tatsächlich vorbehaltlos glaubte. „Dies Ihnen zum Beispiel für den Lohn der Angst Sandra, bleiben Sie bei uns“.

Bazon Brock hat in den vergangenen Jahrzehnten mit Schriften, Ausstellungen, Filmen, Theorieperformances /action teachings die Barbaren als Kulturhelden der Moderne aller Lebensbereiche aufgespürt. In den achtziger Jahren prognostizierte er die Herrschaft der Gottsucherbanden, der Fundamentalisten in Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Ihnen setzte Brock das Programm Zivilisierung der Kulturen entgegen.

Gegen die Heilsversprecher entwickelte er eine Strategie der Selbstfesselung und die Ästhetik des Unterlassens mit dem zentralen Theorem des verbotenen Ernstfalls. Das führt zu einer neuen Geschichtsschreibung, in der auch das zum Ereignis wird, was nicht geschieht, weil man es erfolgreich verhinderte oder zu unterlassen vermochte.

1987 rief Brock in der Universität Wuppertal die Nation der Toten aus, die größte Nation auf Erden, in deren Namen er den Widerruf des 20. Jahrhunderts als experimentelle Geschichtsschreibung betreibt.

Protestanten wissen, es kommt nicht auf gute und vollendete Werke an, sondern auf die Gnade des Himmels. Deswegen etablierte sich Brock von vornherein, seit 1957 als einer der ersten Künstler ohne Werk, aber mit bewegenden Visionen, die von vielen
übernommen wurden; z.B. „Ich inszeniere Ihr Leben – Lebenskunstwerk“ (1967), „Die neuen Bilderkriege – nicht nur sauber, sondern rein“ (1972), „Ästhetik in der Alltagswelt“ (1972), „Zeig Dein liebstes Gut“ (1977), „Berlin – das Troja unseres Lebens und forum germanorum“ (1981), „Wir wollen Gott und damit basta“ (1984), „Kathedralen für den Müll“ (1985), „Kultur diesseits des Ernstfalls“ (1987), „Wir geben das Leben dem Kosmos zurück“ (1991), „Kultur und Strategie, Kunst und Krieg“ (1997). „Hominisierung vor Humanisierung“ (1996), „Moderator, Radikator, Navigator – die Geschichte des Steuerungswissens“ (1996).

Deutsch sein heißt schuldig sein – Bazon versucht seine schwere Entdeutschung mit allen Mitteln in bisher mehr als 1.600 Veranstaltungen von Japan über die USA und Europa nach Israel. Gegen den dabei entstandenen Bekenntnisekel beschloß jetzt der Emeritus und elder stageman des Theorietheaters, sein Leben als Wundergreis zu führen, da Wunderkind zu sein ihm durch Kriegselend, Lagerhaft und Flüchtlingsschicksal verwehrt wurde.

Ewigkeitssuppe | 850.000 Liter des Tänzerurins | im Tiergarten, die wurden Blütenpracht. | Er sah die Toten der Commune in Pappschachteln | gestapelte Puppenkartons im Spielzeugladen. | Die schrieben Poesie des Todes, Wiederholung, Wiederholen. | Dann träumte er vom Kochen mit geheimen Mitteln | Zwerglute, Maulkat, Hebenstreu und unverderblich Triomphen. | Das war gute Mahlzeit des lachenden Chirurgen, | der ihn bis auf die Knochen blamierte.

Die Herausgeberin Anna Zika ist Professorin für Theorie der Gestaltung, FH Bielefeld. Von 1996 bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin um Lehrstuhl für Ästhetik, FB 5, Universität Wuppertal.

Die Gestalterin Gertrud Nolte führt ihre – botschaft für visuelle kommunikation und beratung – in Düsseldorf. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für Graphikdesign und Buchgestaltung

Noch lieferbare Veröffentlichungen von Bazon Brock im DuMont Literatur und Kunst Verlag:

Actionteachingvideo „Wir wollen Gott und damit basta“, 1984;

„Die Macht des Alters“, 1998;

„Die Welt zu Deinen Füßen – den Boden im Blick“, 1999;

„Lock Buch Bazon Brock“, 2000.

Erschienen
01.01.2002

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Zika, Anna

Verlag
DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-8321-7149-5

Umfang
953 S.: Ill.; 25 cm

Einband
Gebunden

Seite 600 im Original

IV.33 Stehprogramme und Standtechniken

Ein Gespräch mit Ulrich Giersch

[Giersch:] Das Stehen wurde lange Zeit mit einem bloßen Herumstehen, häufig mit einer unangenehmen, anstrengenden Wartesituation in Verbindung gebracht. Daß Stehen aber auch eine Kunst sein kann, die bei bestimmten Arbeitsprozessen im Vergleich zur sitzenden Haltung bedeutend effektiver ist und daß dafür im Laufe der Geschichte immer wieder ein entsprechendes Ambiente geschaffen wurde, hat sich allmählich in den verschiedensten Bereichen erwiesen. Und es ist die klassische Säule in allen Varianten, die das Modell sowohl für das freie Aufrechtstehen als auch für die Funktion einer adäquaten Stütze liefert: Denn selbst der moderne Stehsitz oder „Stitz“ ist eine kleine Säule, auf der man seinen Rumpf abstützt. Überhaupt ist die Säule ein fundamentales Bauelement, das zentrale Stand-, aber auch Spielbein der Architekturgeschichte. Vielleicht werden die Menschen bereits angesichts einer gutproportionierten Säule zu einem unverkrümmten Aufrechtstehen angeleitet. Kann man im Hinblick auf die Säule von solch einer Übertragungsfunktion sprechen, fungiert sie schon durch die bloße Anwesenheit als eine Art Stehhilfe?

[Brock:] Die Herleitung der Säule erfolgt in der Tat einerseits aus der anthropomorphen Gestalt, also aus der Ähnlichkeit zum stehenden Menschen, andererseits aus der Analogie zum Baumstamm. Eine Zeichnung, die aus dem 18. Jahrhundert datiert, zeigt in einem Wald wie zufällig in einem Viereck gewachsene Bäume, deren Kronen nach innen zusammengezogen sind, so daß die vier Baumstämme die Säulen bilden und die Kronen das Dach. Die andere Herleitung ist die griechisch-römische, wo die Säule aus der Analogie zur Menschengestalt entwickelt wird, deswegen heißt das Oberteil der Säule auch Kapitell: Caput ist das Haupt. (Die Schaftformen standen anfangs noch primär auf monolithischen Steinen – ein Stein wie ein Körper. Erst später hat man sie aus technischen Gründen in Trommeln zerlegt, da Transport und Bearbeitung einzelner Säulenscheiben einfacher war.) Die wohl stärkste Übertragung eines architektonischen Körpers auf den Menschen und seine Haltung geht von der Säule aus: „Er steht wie eine Säule“.

Entstanden ist die Steinsäule aus der Holzbauweise; die ganze Ornamentik wurde aus der Umsetzung von Holz in das Material Stein entwickelt. Beispielsweise erinnern die Guttae und Mutuli an die ursprünglichen Metallnägel und -köpfe im Holzgebälk; als dies umgesetzt wurde von Holz in Stein, hat man das als Ornamentalform übernommen. Aber ganz sicherlich ist der Übertragungseffekt auf die menschliche Haltung allein deswegen in der griechischen Tradition am stärksten, weil in der Säule die Analogie zum Menschenkörper gemeint war.

So gesehen leistet die Säulen-Architektur einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Steherziehung. Im weitesten Sinne lassen sich davon dann die kulturellen und zivilisatorischen Praktiken zur eigenen Positionierung in der Welt herleiten.

Im Hinblick auf das soziale Leben stellt sich für den Menschen die Frage nach dem eigenen Stand und der Bedeutung seines Standes. Im Stand trägt er auch das gesamte soziale Gebäude, denn die Institutionen sind ja standhafte Formen des Sozialen. Und Standhaftigkeit ist an die Behauptung der Position am Ort gebunden. Vermutlich läßt sich eine solche Metaphorik bereits an den Pfahlbauten festmachen: da wurde die Säule als Pfahl in den Boden gerammt und bildete das Postament des Unsichtbaren; Gründungen, die wie die Säule auf die Vertikale ausgerichtet waren. Bei den Griechen bilden die Säulen dann das Postament des Sichtbaren.

Das durch die Säulen getragene Stehprogramm hat sich wohl nur in der griechischen Kultur derart plastisch entwickeln können. In der folgenden architektonischen Entwicklung spielt die Säule kaum noch eine so zentrale Rolle.

Die Säule wurde vom Pfeiler weitgehend verdrängt, weil der vom Bauaufwand viel einfacher zu handhaben ist als die Säule. Auch die großen zentralen Bauaufgaben seit der Romanik ließen sich nicht mehr, wie zum Beispiel die Ausweisung der Vierung, durch Säulen zeigen, sondern die Ableitung aus dem basilikalen Bau im christlichen Longitudinalbau macht es notwendig, den Rhythmus der Säulen zumindest im Hinblick auf die Vierung durch Pfeiler zu ersetzen; gleiches gilt für die Portalwände. Diese Umorientierung im Bauen auf den Pfeiler hat dann die ursprüngliche Analogie zur Menschengestalt etwas verblassen lassen, obwohl der Pfeiler als Grundmotiv in der christlichen Ikonographie der sakralen Architektur immer noch vorkommt: „Auf diese Steine will ich bauen“ – damit sind natürlich nicht einfach nur die Grundsteine gemeint, sondern das sind die Pfeiler, die Vierungspfeiler. In der Moderne gab es die Umsetzung des Pfeilerprinzips in die gesamte Architekturhülle in Gestalt der Stahlträger. Allerdings sieht man den Stahlträgern nicht an, daß sie tragende Säulen, bzw. Pfeiler sind, weil sie sich über den gesamten Baukörper erstreckt haben.

Das grundlegende Gefühl, was denn eine Säule in Analogie zur Menschengestalt ausmacht, das haben die Architekten verloren, weil sie die Säule nicht mehr als Menschengestalt aufzufassen wußten. Dadurch kommt es dann zu vollkommen unproportionalen und völlig unangemessen gestalteten Säulen. Wenn man in der Moderne nach Beispielen einer Säulenarchitektur sucht, dann findet man nur noch die gegossene Betonröhre, die völlig unproportional ist und deren Querschnitt zu ihrer Höhe keine Beziehung mehr hat, deren Leib auch nicht mehr durch Kannelierungen strukturiert ist.

Neben der Säule als Zeichen für die eigene Standfestigkeit haben sich in der späten griechischen Kultur bereits andere Säulenformen ausgebildet, Formen, die aber immer noch an die anthropomorphe Gestalt erinnern.

Im hellenistischen Griechenland, etwa um 170 v. Chr., also nachdem sich die Römer durchgesetzt hatten, kommt die abgebrochene Säule als Grabstein bzw. als Epitaphstele auf. Eine ungefähr Dreiviertel hohe Säule, oben abgebrochen als Zeichen des abgebrochenen Lebens. Auf solchen Mementosteinen für das Leben eines Verstorbenen bleibt der Kopf weg.

Bei seiner architektonischen Inszenierung La presenza del passato (Venedig, 1980) hat Hans Hollein den abgebrochenen Säulenschaft umgekehrt, von oben nach unten gehängt. Das ist wohl das beste Beispiel für eine zeitgenössische Thematisierung von Säule in Menschenanalogie, denn der Witz bei dem Holleinschen Eingang war, daß man nur unter der abgebrochenen Säule durchgehen konnte, und in dem Augenblick, wo der eintretende Betrachter unter der abgebrochenen Säule stand, ergänzte er sie wieder. Jeder, der eintrat, um die Ausstellung zu sehen, stellte die ursprüngliche Bedeutung der Säule wieder her.

Ein ebenso zentrales Stehprogramm haben sich die Griechen mit ihren Skulpturen erarbeitet. Man denke nur an die Haltung des archaischen Jünglings, des Kouros oder an die Entwicklung des Kontrapostes.


Die Griechen haben aus dem Standmotiv sämtliche Aussagen über die eigene Gattung, also über das menschliche Geschlecht hergeleitet; denn Genus kommt von genu, dem Knie. Wenn der Krieger getroffen wurde, brach er zuerst im Knie zusammen und deswegen wurde in der archaischen Plastik bis ungefähr 510 v. Chr. als einzig anatomisches Detail das Knie von den Bildhauern bearbeitet. Das ist das Besondere an dieser frontalstatuarischen Jünglingsgestalt, die den Gott anlacht und nur entweder ein Bein steif vorstellt – den Kontrapost gab es noch nicht – oder die Arme entsprechend einer Gehbewegung hält. Das war zu der Zeit alles noch anatomisch unwichtig. Nur das Knie war interessant: Der Sitz der menschlichen Gestalt ist das Knie, weil das Knie das Aufrechtstehen des Kriegers ermöglicht. Wenn das Knie zusammenbricht, kann ein Mensch nicht mehr stehen. Von dieser Ableitung des Aufrechtstehens kommen auch im heutigen Sinne unendlich viele anthropologische Behauptungen, die in der Orthopädie und verschiedenen medizinischen Spezialdisziplinen eine Rolle spielen: weil uns die Aufrichtung von der vorverwandtschaftlichen Primatenart, die noch auf vier Beinen ging, die Aufrichtung der Wirbelsäule, bis heute Probleme bereitet. Die ganze Metaphorik des aufrechten Ganges, des starken Rückens oder der Charakterschwäche als Rückgratlosigkeit – all das stammt aus jenem Motiv der Aufrichtung.

Der evolutionsgeschichtlich bedeutendste Augenblick bestand in der Aufrichtung des Menschen. Als er von den Bäumen herunterstieg, mußte er sich in der Steppe aufrichten. Dies ermöglichte den Fernblick zur Erkennung potentieller Feinde. Und das war der Grund, so gewisse Anthropologen oder Evolutionstheoretiker, weshalb sich die Aufrechtstellung evolutionär durchgesetzt hat. Dieser Moment des Stehens als Erhöhung des Menschen aus der Tierexistenz ist geradezu das Kennzeichen des Anthropos. Auch die Würde des Einzelnen wurde ja im Stehen repräsentiert, bevor er auf den Thron gesetzt wurde, der dann eben auch erhöht war. Als der Herrscher saß, mußten alle anderen ihr Aufrechtstehen aufgeben und vor ihm auf die Knie fallen; das heißt zu dieser Form der Herrschaftsikonographie gehört das Beugen des Rückens und das Herabsinken auf den Boden, das Zurück in die Tierhaltung. Oder die Untergebenen mußten sich ganz auf den Boden legen, wie zum Beispiel vor imaginierten Göttern.

So betrachtet, ist es eine kulturpolitische Besonderheit der Griechen, daß sie ihren Kouros dem Gott in völlig aufrechter Haltung entgegenschreiten lassen. Sein archaisches Lächeln ist die Bekundung der Annäherung, nicht der Unterwerfung, sondern der Anerkennung des Gottes. Der Kouros lächelt archaisch in der Sicherheit, seinen Gott zu sehen. Dieses archaische Lächeln ist nicht auf einen Partner der Statue ausgerichtet, sondern auf die Einbeziehung in die mythologische Glaubensbehauptung. Der Kouros ist derjenige, der in seiner nach ihrer Aufrichtigkeit kulturellen Welt aufrecht geht, weil sie ihm das Reich der Götter, das Reich des Nachtodes ermöglicht. Das ist eine andere Vorstellung als bei den Christen mit der Auferstehung.

Das kulturelle Stehprogramm ist demnach ein Ausdruck der inneren Haltung, die gegenüber höhergestellten Instanzen und Personen eingenommen wird.

In der Ikonographie der Herrschaft ist das Aufgeben der Aufrichtigkeit bis ins 18. Jahrhundert hinein vielfältig belegt, zum Beispiel als das Bütteln, das katzenbuckelartige Herumschlawinern, das Gesicht halb zum Boden oder schräg nach oben gerichtet, während der aufrechte Mensch immer sein Gesicht darbietet. Zu der Aufrichtigkeit gehört auch die Möglichkeit, en face wahrzunehmen; die Darstellungen von Christus in der byzantinischen Tradition sind beispielsweise solche Begründungen der en face-Darstellung. Vollkommen en face heißt vollkommen plan, also ein direktes ins-Gesicht-Sehen.

Das aufrechte Stehen hat im Zuge der Evolution und der kulturellen Entwicklung den gesamten Wahrnehmungsapparat des Menschen beeinflußt.

Durch die Aufrechtstellung kommt es zu einer ganz entscheidenden evolutionären Leistung im Hinblick auf die sinnliche Vermittlung von Welt: es ist die Herausbildung des Gleichgewichtsorgans, was eine strikte Ausrichtung auf die Vertikalität und Horizontalität bedingt. Wenn wir Kultur als das Kontrafaktische begreifen, das sich im rechten Winkel ausdrücke, den es in der Natur nicht gebe, dann ist das falsch. Denn der rechte Winkel ist tatsächlich durch unser Gleichgewichtsorgan auch Naturresultat. Im Grunde kann man die Kulturen danach unterscheiden, ob sie Aufrichtigkeit, also Frontalität, Aufrechtstehen zu ihrer Generalmaxime machen oder durch die Aufgabe der vertikalen Dimension primär verschiedene, in sich zurückgeschwungene Formen, etwa in Gestalt von Rundhütten, Kuppelhütten etc. ausgebildet haben. Der Japaner macht bis heute noch den Diener bis in die Horizontalität, was aber kein Katzbuckeln bedeutet. Ein japanisches Sichverbeugen ist eben kein Rückenbeugen im Sinne einer Charakterschwäche, sondern im Sinne einer Bestätigung der Ordnung selber, denn auch der Herrscher verneigt sich. Das ist das Besondere, daß sich sogar der höhergestellte Partner in diesem Ritual der Begrüßung seinerseits verneigt.

Das ist ein großer Unterschied zu unseren Traditionen. Diese strikte Vertikalität, die Rechtwinkligkeit als Kulturleistung, bedingt also ein anderes Koordinatengefüge im Häuserbau oder im Straßenbau.

Zum Aufrechtstehen gehört wahrscheinlich auch die Entwicklung des Begriffs der „geraden Linie“. Daß die Griechen die Geometrie entwickelt haben, dürfte ziemlich stark mit dieser Art von Bedeutung der Aufrichtigkeit, wie beim Kouros, also mit dem Stehen als der Grundfunktion des menschlichen Lebens zu tun haben. Die Karyatiden sind logische Entwicklungen aus der Analogie zwischen Säule und Mensch, denn ob ich nun eine Säule darstelle oder direkt den Menschen als Träger, ist dasselbe. Der Mensch als Tragefigur ist natürlich, soweit uns überliefert, eine Spätform. Am Erechteion auf der Akropolis sind sie im 5. Jahrhundert v. Chr. errichtet worden.

Der wichtigste Beitrag der griechischen Stehprogramme für die gesamte Skulpturentwicklung ist der Kontrapost, die Differenzierung zwischen Standbein und Spielbein.

Die Kontrapostik beginnt bei den Darstellungen des archaischen Jünglings, des Kouros, der die geschlossene Beinhaltung auflöst. Daraus entwickelt sich die Verlagerung des Körpergewichtes auf das Standbein, das Spielbein wird ausgestellt, dann kommt der Hüftschwung, die Achsdrehung im Rücken und die aufgepackte Muskulatur als Halteprogramm. Wichtig ist auch der Wippstand: die Verlagerung von den Zehen auf die Ferse und umgekehrt. Die ganze Spannweite in Bezug auf eine solche Motorik des Stehens kann man unter anderem den Unterrichtsbüchern für Boxsportler entnehmen. In allen Ringsportarten wird der aktive Stand eingeübt, denn der Gegner muß ja aus dem Stand gebracht werden. Im Gegensatz dazu sind wiederum die ostasiatischen Standtechniken interessant: hier wird der Aktionsschwung des Gegners aufgenommen und verstärkt, so daß er fallen muß. Hingegen basieren die europäischen Standprogramme der Aggressivität vor allem darauf, aus dem eigenen Stand heraus stärker zu sein als der Gegner. Das beansprucht natürlich viel mehr Kraft, während der asiatische Kämpfer nur steht und die gegnerische Standveränderung als Aktionsschwung gegen diesen selbst leitet.

Wichtig für die eigene Standfestigkeit ist natürlich auch die Beschaffenheit des Untergrundes, auf dem man sich gerade befindet ...

Am Beispiel von Lucas Cranach habe ich gezeigt, daß in der Malerei des 16. Jahrhunderts alle möglichen Materialien und Bodenbeschaffenheiten, Erde, Wiese, Schotter, Stein etc. im Hinblick auf ihre Auswirkung auf den Stand des Menschen untersucht und dargestellt werden. Cranach demonstriert auch das jeweilige Stehen, wie es etwa durch Barfüßigkeit oder eine eiserne Ritterrüstung bedingt ist. Zum ganzen Stehprogramm gehört also auch die Kulturgeschichte des Schuhwerks, das ganz verschiedene Standfestigkeiten und Balanceakte förmlich erzwingt. Man könnte das auch als eine Sonderform der Sockelung betrachten; davon gibt es zahllose Beispiele in der Kunstgeschichte. Hier gelingen manchmal ganz mirakulöse Balanceakte wie bei den Reiterstandbildern, wo Roß und Reiter auf den beiden schmalen hinteren Hufen des Pferdes stehen, also auf kleinster Standfläche das größte Volumen gehalten werden muß.

Zu den ungewöhnlichsten Stehprogrammen zählt vor allem der Kopfstand.

Die berühmteste Metapher in der Tradition von Feuerbach-Marx hieß, die Hegelsche Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Davor war es auch eine Metapher für das lebendig-begraben-Werden; mit dem Kopf nach unten aufgehängt zu werden, war eine Folter und Maßnahme im Strafvollzug. Ich habe von 1959 bis 1963/64 viele Vorträge im Kopfstand gehalten. Daß es bei dieser Haltung Parallelen zum Yoga gibt, wurde mir erst später bewußt. Ich wollte vor allem die Metapher des auf dem Kopf-Stehens wörtlich nehmen, und das geht nur, wenn man dabei auch redet. Man muß dabei auf jegliche Bewegung verzichten – denn auch der sitzende Redner macht selbst bei reduziertestem Bewegungsspiel immer noch die eine oder andere Kopfdrehung oder -neigung –, so daß man vollständig auf den eigenen Stand fixiert ist. Man kann nicht mehr mit dem Körper denken – und wenn man es richtig beherrscht, hat man das Gefühl, als verfüge man total über seinen Körper.

Seit jeher ist das Stehen eine wichtige Haltung bei der Rezitation, aber auch bei der Rezeption von akustischen Botschaften, eine Haltung, die von bestimmten sozialen Gruppen, Stichwort Stehkonvent, vorgeschrieben und rituell praktiziert wird.

Unsere Nationalhymnen sind beispielsweise eine Musikkategorie, die für das stehende Singen und Hören entwickelt worden ist. Auch die kirchliche Bekenntnismusik ist eine Art Stehmusik. Gemeinschaft wird nicht durch die Sitzenden gebildet, sondern im Wesentlichen durch die Stehenden, die füreinander einstehen. Dahinter verbirgt sich das alte Modell der lebenden Mauer, also die nebeneinander stehenden Männer mit der Waffe in der Hand. Die Bewegungsform der Stehenden ist die Phalanx, ein in sich stehender Verband, der sich als Ganzes bewegt. Das war die überlegene griechische Kampftechnik, die den Athenern den Sieg gebracht hat. Jeder stand in der Reihe starr, die Reihen wurden nicht geöffnet, kurz – es war eine Stehformation in Bewegung.

Das Motiv des Einstehens und Eingestehens ist von ungeheurer Bedeutung; man braucht ja nur die etymologischen Wörterbücher aufzuschlagen und die Begriffsgeschichte von Einstand, Eingeständnis, Ständeordnung etc. nachzulesen.

Im Hinblick auf die Vermittlung von Wissen kennen wir in der Antike die Symposien, wo man in der Regel die liegende Haltung bevorzugte; die Peripatetiker tauschten sich im Gehen aus, doch ansonsten wurde im universitären Bereich bis heute mehr oder weniger gesessen. Der Begriff Stehkonferenz zeigt aber, daß es auch produktiv sein kann, wenn sich eine konferierende Gruppe nicht zu stark in eine Situation einlebt und dadurch der Gefahr potentieller Seßhaftigkeit begegnet. Vor allem im japanischen Geschäftsleben werden in erster Linie Stehkonferenzen abgehalten. Zu den morgendlichen Besprechungen stehen alle von ihren Arbeitstischen auf, kommen dann zusammen und besprechen sich im Stehen. Wer aktiv sein Territorium ausfüllt, statt nur einen Gummibaum oder die Kinderschuhe seines Erstgeborenen aufzustellen, sichert sich sein Aktionszentrum vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit, mit anderen darin gemeinsam vorzukommen.

Allerdings hat diese Art der Auseinandersetzung auch einen Nachteil: beim Sitzen sind die Menschen mehr oder weniger alle auf einer Blickebene, während sich bei der Stehkonferenz, vor allem aufgrund unterschiedlicher Beinlängen, die Augenkontakte nicht mehr auf einer Höhe befinden. Dadurch kann es leicht zu mißverständlichen Äußerungen oder kompensatorischen Redeeinsätzen kommen; der Blick nach oben ist eben noch immer der zu einer Autorität.

Ein Trend in der Möblierung von Arbeits- und Büroräumen geht in Richtung Stehmöbel-Design ...

Die Möbeleinrichtung von Büros sollte vor allem das eigene Stehvermögen trainieren. Es muß dazu animieren, daß Arbeit wieder gemessen wird in einer Leistung, die der Körper erbringt, wenn er etwa eine Last von hier nach dort befördert. Seit mehr als fünfzig Jahren wird in unseren Büros in diesem Sinne nicht mehr gearbeitet, weil der Körper nichts leistet, sondern nur die Psyche. Erst wenn man Büromöbel und Einrichtungen daraufhin konzipiert, daß das Stehen wieder eine aktive Form der Positionierung ist und die Entwicklung des Standvermögens gefördert wird, dann kommt es auch wieder zu einer ausdauernden konzentrierten geistigen Arbeit. Denn die sitzende Arbeit ist ja deswegen so ermüdend, weil ihr kein körperliches Äquivalent entspricht. Ein lebendiger Gedanke muß verkörpert werden.

Spätestens Friedrich Nietzsche, der ständig gegen das müde Sitzfleisch polemisierte, hat an vielen Stellen seiner Schriften betont, daß alles verkörpert werden muß, daß alles Embodyment sein muß.

Sozialverbände, wie sie Firmen darstellen, sind im Grunde Begeisterungsgemeinschaften. Firmenführung bedeutet demnach, die gebündelten Energien solcher Gemeinschaften auf Ziele auszurichten. Gegen derartige Diktatur des Sitzfleisches ist die Initiative der rhetorischen Vermittlung von sozialer Gemeinsamkeit gerichtet, denn der Rhetor darf nicht sitzen. Die direkte Art des Miteinanders in der sozialen Rhetorik wird durch das Stehen gefördert, ist auf Bewegung und ein Ausschreiten im Raum ausgerichtet. Genau das verhindert die herkömmliche Struktur des Büros. In den Arbeitsräumen, die wir Büros nennen, haben technische Entwicklungen zwei große Revolutionen hervorgerufen: das eine war die Erfindung der Schreibmaschine, die ihre Betätiger – und hier wurde zum ersten Mal Frauen Zugang zu Bürotätigkeiten gewährt – zwang, an einem Ort und im Sitzen die Maschine zu bewegen. Das gesamte restliche Comptoir-Personal hockte währenddessen auf Miserikordien von erhöhten Sitzböcken mit Anlehnmöglichkeit, arbeitete also an Stehpulten. Zur selben Zeit machten die höheren Chargen aus Supervisionsgründen eine kontinuierliche Bewegung durch die Arbeitsräume. Die Frauen wurden als erste im Büro zum Sitzen verdonnert, symbolhafter Ausdruck ihrer niederen Position – nicht nur in der bürokratischen Hierarchie. Sie waren lediglich Reagens auf die Vorgaben der Maschinen und konnten selber gar nicht aktiv werden. Die zweite große technische Revolution, die das Büro erreichte, wurde durch die Mikroelektronik eingeleitet. Eine der Errungenschaften dieser Revolution war das drahtlose Telefon. Mit diesem kabellosen Sprechapparat wird fast jeder im Stehen oder in einer Schaukelbewegung telefonieren, die nicht sehr fern von einer gewissen Krankheitserscheinung kasernierter Tiere im Zoo ist – dem Hospitalismus. Zumindest wird er den inneren Impuls verspüren, sofort stehend zu kommunizieren. Warum? Weil er über die akustische Wahrnehmung seinen Gesprächspartner vor sich sieht und in einem lebendigen Austausch sofort kommunikativer Teil des sozialen Miteinanders und Interaktionsmodells wird. Das Sitzen zeichnet sich durch eine auch physiologisch bedingte Art der Sedierung, des Stillstellens aus. Im Prozeß der sitzenden Entspannung verliert der Sitzende jegliche Form der Aktivität. Die modernen Bürosessel hatten wenigstens versucht, mit ihrer Kompressionsfederung mobiler zu machen, und der Sitzende wurde hin und wieder mal ein bißchen in die Höhe katapultiert. Das ist aber nicht weitgehend genug gelungen. Mit der Einführung der Stehmöbel in die Büros sollte das nun in einem hohen Maße möglich werden.

Gegenüber der Verhocktheit des Sitzfleischungeheuers in den normalen Verwaltungen und Bürokratien ist die Aktivierung durch das Erlebnis der gemeinsamen Orientierung auf die Anwesenheit des Anderen notwendig, sonst wäre Soziales kaum faßbar.

Auch in Bezug auf das daran anzubindende sportliche Equipment ist darauf zu achten, daß Stehen und Gehen miteinander verknüpft werden. Früher gab es das sogenannte Laufband, wo man auf der Stelle stand, aber lief. Das hat sich an vielen Sportübungsgeräten (z.B. dem Walker) weiterentwickelt.

Dienen das neue Stehmöbeldesign und die daran geknüpften Stehprogramme vielleicht auch einer knickrigen Raumökonomie, sind Stehpulte also letzten Endes vor allem Platzsparer?

Durch Stehen Platz zu sparen, das wurde z.B. in Wien propagiert, als man vorschlug, die Toten künftig im Stehen zu begraben. Diese Art der Senkrechtbestattung hat keinerlei Vorbilder und ist wohl auch schon wieder ad acta gelegt worden. Aber im Arbeitsleben bedeutet Stehen nicht, einzementiert zu sein, denn zu jedem Stand gehört auch die entsprechende Fläche für den Standwechsel; Stehen und Gehen beanspruchen einen entsprechend dimensionierten Raum, so daß in dieser Hinsicht kaum gespart werden kann; mit der zeitlichen Ökonomie verhält es sich hingegen anders, wie das Beispiel Stehkonferenz in Japan oder die höhere Konzentration durch körperlichen Ausgleich nahelegt.

Von regelrechten Raum- und Zeitspar-Möbeln könnte man allerdings bei dem Stehimbiß-Design sprechen. Hier werden die Speisenden auch zu einer ganz anderen Haltung erzogen: während sich die Tischhöhe beim Sitzenden etwa am Ellenbogen bemißt, sind die Stehtische meist auf Brusthöhe angehoben, so daß sich der Essende nicht beugen muß. Da das Stehen auch eine ganz andere Form der Selbst-Exponierung und der sozialen Kommunikation bedingt, entscheiden Stehmöbel letzten Endes auch über das Gelingen der immer beliebter werdenden Stehempfänge und -partys.

Derartige Eigentümlichkeiten auf die Bühne, auf die Agora, den großen Platz oder den Kasernenhof zu übertragen, bedeutet, eine Anleitung zu geben, wie man eine Art von Initiativkraft herausbilden kann: angefangen von der simplen Neugierde bis hin zu der mitreißenden Begeisterung der „Bewegung“ und der enthusiasmierenden Art der Gemeinschaftsbildung.

Bei der Möblierung eines Steh-Ambientes wird natürlich auch die Tradition der Säule bzw. die Kultur der Ständer und Stelen eine Rolle spielen. Seit dem Biedermeier war etwa der Präsentationsstand für Blumenarrangements eine typische Form der Stele. Und hier gibt es noch einmal das Stehen im Stehen: wenn man den Blumentopf in einen Übertopf stellt, um ihm zusätzlichen Halt und Festigkeit zu geben. Derartige Keramikfassungen sind auch Standmotive.

siehe auch: