Das Publikum verlangt von den Künstlern, daß sie innovativ seien. Die Kreativität der Künstler müsse sich darin beweisen, etwas Neues zu schaffen. Wie aber soll man Kunstwerke oder Leistungen in anderen Bereichen als neu, gar als völlig neu erkennen können, wenn man sich dabei nicht auf das Alte bezieht? Witzbolde könnten zwar auf die Idee kommen, ein neues Produkt mit dem Aufdruck anzubieten: „Neu nur mit der Aufschrift Neu“ ; aber erfolgversprechender ist die Werbung für das neue Produkt, wenn die Warenaufschrift mitteilt, in welcher Hinsicht etwas Neues geboten werde, z.B. leichter oder billiger oder schneller oder kleiner als das entsprechende bisherige Produkt. Mit dem Komparativ, dieses Produkt sei anders als das vorhergehende, wird notwendigerweise auf das alte Produkt Bezug genommen für die Qualifizierung des Neuen.
Das Alte ist das längst bis zum Überdruß Vertraute; das Alte ist so konventionell oder redundant geworden, daß es uns kaum noch auffällt und wir es demzufolge auch kaum noch wahrnehmen. Man hat sich angewöhnt, das Neue als das Moderne anzusprechen – und wer kann sich leisten, nicht modern sein zu wollen oder nicht als modern zu gelten.
Die meisten Zeitgenossen glauben, die Forderung nach Modernität sei ein Kennzeichen unseres Jahrhunderts, in dem sich die Innovationen nur so überschlagen haben, in der Technik, in der Wissenschaft, in den Künsten, in der Lebensführung oder in der Einstellung zur Natur.
Die Auffassung, erst die Menschen des 20. Jahrhunderts seien modern eingestellt, ist falsch. Vielmehr müssen wir anhand von schriftlichen Zeugnissen historisch früherer Kulturen und Gesellschaften anerkennen, daß man immer schon mit der Unterscheidung von neu und alt, von modern und traditionell die Leistungen und die Lebenseinstellung der jeweiligen Zeitgenossenschaften bewertet hat.
Im 17. Jahrhundert wurde in Frankreich der Streit zwischen den Alten und den Neuen sprichwörtlich (Querelles des Anciennes et des Modernes). Die Künstler der Renaissance bedienten ihre Auftraggeber mit Hinweis auf ganz neue Verfahren (Brunelleschis Konstruktion der Domkuppel in Florenz) oder mit Hinweis auf nie dagewesene Maniera (wörtlich: Stil und Auffassung; die Manieristen traten in die Nachfolge Raffaels). Aber schon Sokrates hat sich heftig gegen die Neuerungssucht der marktschreierischen Sophisten zur Wehr gesetzt, die ihrer Klientel beibrachten, wie man alteingesessene Politiker der Polis mit dem Vorwurf, veraltet zu sein, mattsetzen konnte. Noch viel früher, nämlich auf den Tontafeln von Ninive, wird darüber geklagt, daß die guten alten Sitten durch „Neuerer“ ausgehebelt würden: früher hätte man noch die Alten geehrt, jetzt täten die Jungen, was sie wollen; früher wäre die Welt noch geordnet und verständlich gewesen, aber nun werde dieses Verständnis durch neue Auffassungen ins Chaos gestürzt.
Wenn mehr oder weniger zu allen Zeiten mit der Unterscheidung von neu und alt, von modern und traditionell gearbeitet wurde, kann die Forderung nach Modernität und Neuheit nicht eine spezifische Kennzeichnung unserer Moderne sein. Wir haben es vielmehr mit allen Menschen eigentümlichen Formen der Wahrnehmung und der Urteilsbildung zu tun. Immer schon waren Menschen mit neuen Situationen konfrontiert, die sie als fremd und deshalb bedrohlich einschätzen mußten. Heute wird das Neue z.B. als künstlerische Avantgarde geradezu mit dem befremdlich Unverständlichen gleichgesetzt, das verunsichert und Angst macht. Aber wer die Unsicherheit und Angst aushält, verschafft sich einen Vorteil gegenüber denen, die die Flucht ergreifen oder riskieren, im Kampf gegen das Fremde beschädigt zu werden. Wer sich dem unbestimmten Neuen stellt, aktiviert die grundsätzliche menschliche Eigenschaft, neugierig sein zu können. Wenn aber die Neugierde nicht zur bloßen Neuerungssucht, zur Neophilie, um ihrer selbst willen werden soll, muß man über den Umgang mit dem Neuen Erfahrungen sammeln. Dazu ist der Kunstbereich am besten geeignet, weil er stets Neues bietet und der Kunstfreund bei der Erprobung des Neuen keine gefährlichen Konsequenzen wie bei Testpiloten oder Testpatienten riskieren muß. Außerdem läßt sich für den Kunstbereich sehr gut angeben, welche Leistung die Neuerung, die Avantgarde zu erbringen hat. Im Kunstbereich läßt sich gut beurteilen, ob irgendein Werk oder eine Weltsicht tatsächlich neu sind oder nur vorgeben, es zu sein.
Wenn prinzipiell gilt, daß das Neue nur mit Bezug auf das Alte zu bestimmen sei, dann gilt in der Kunst, daß die Leistungen der Neuerer, der Avantgardisten, darin beurteilbar sind, in welchem Maße sie uns veranlassen, das vermeintlich Alte, Bekannte, Traditionelle auf neue Weise zu sehen.
So bewährte sich der Architekturneuerer Adolf Loos, indem er die gesamte Fachwelt veranlaßte, die Leistungen und Konzepte der vermeintlich längst bekannten Architekten Brunelleschi und Palladio mit neuen Augen zu sehen und schätzen zu lernen. Die Expressionisten waren tatsächlich Neuerer, weil sie uns nötigten, die Bilder und Skulpturen der Romanik anders wahrzunehmen, denn als bloße primitive Vorläufer der Gotik. Die Avantgarden dieses Jahrhunderts haben sich als tatsächlich leistungsfähig erwiesen, weil Sie uns die vermeintlich längst bekannten Zeugnisse der ägyptischen, der kykladischen, der minoischen, der spätrömischen oder der mittelalterlichen Kulturen vergegenwärtigten, so daß deren Wirkungen in unserer Gegenwart wieder aktiviert werden konnten. Picasso und Braque bewiesen den Kubismus als tatsächliche Neuerung, weil mit den Augen der Kubisten die Skulpturen der sogenannten primitiven afrikanischen Stämme für das 20. Jahrhundert erschlossen werden konnten. Die Nagelprobe für neue Kunst nach der Devise „Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, Traditionen neu zu werten, also neue Traditionen zu bilden“, läßt sich aber auch zwischen den Beständen dieses Jahrhunderts selbst machen. So hat etwa Sigmar Polke sich als tatsächlicher Neuerer erwiesen, weil er uns nötigte, das Werk von Francis Picabia so zu sehen, als sei der ein unmittelbarer Zeitgenosse. In gewisser Weise kann man sagen, daß erst durch die Arbeiten Polkes die Leistungen Picabias völlig neu gewürdigt werden konnten.
Mit der Etablierung der Fondation Beyeler in Riehen eröffnete sich eine Möglichkeit, die Bestände der erstrangigen Sammlungen zu nutzen, um die Leistungsfähigkeit von Neuerern zu erproben. So konnten hier Werke von Lichtenstein mit denen von Picasso und Monet und mit Werken von Leger und Dubuffet konfrontiert werden. Michael Lüthy untersuchte vor Publikum, welche Auswirkungen Lichtensteins Konzepte für unsere Sicht auf Picassos Frauenportraits der 40er Jahre und auf Monets Seerosenweiher von 1918 haben.
Ich konfrontierte Lichtensteins Gemälde Gegenstände an der Wand (1973) mit Legers Stilleben von 1924. Beide Bilder beziehen sich ausdrücklich auf Vorgaben des 17. Jahrhunderts: Lichtenstein aktiviert den Bildtypus des Trompe l’oeil, Leger hat sich im Stilleben Poussins Gemälde Rebekka und Elisar (1648) anverwandelt.
Aus der Konstellation stellten sich zwei Fragen:
- Ist es richtig zu behaupten, daß das Konzept des Stillebens im 20. Jahrhundert keine Rolle mehr spielte?
- In welchem Verhältnis standen im 17. und stehen im 20. Jahrhundert formale Kompositionsprogramme zum Inhalt der Bilderzählung?
Lichtensteins Gegenstände an der Wand (etwa 150 x 190 cm) vereinigt in sich die für die Augentäuschermalerei des 17. Jahrhunderts typische Wiedergabe eines Steckbretts mit dem Bildkonzept, die Rückseite eines Gemäldes als eigentliche Schauseite auszuweisen. An Steckbrettern befestigte man seinerzeit provisorisch – wie heute an den Türen von Kühlschränken – lauter kleine Utensilien der häuslichen Kommunikation, also Briefe und kleine Liebesgaben, Messer und Scheren, Landkarten, kleine Zeichnungen usf.
Die Absicht der Trompe-l’oeil-Maler war, die malerische Darstellung des Steckbretts so vor Augen zu stellen, als hätte man es real vor sich. Zugleich aber sollte dem Betrachter deutlich werden, daß es sich bei diesem Eindruck um eine Täuschung handele. Die Betrachter lernten also, die unterschiedlichen Realitätsebenen von realen Gegenständen und ihrer bildlichen Darstellung zu unterscheiden, gerade wenn sie dem Eindruck unterlagen, das Bild sei das reale Steckbrett. Für bürgerliche Kaufleute, Handwerker und Politiker war es sehr wichtig, zwischen den vorgetäuschten Qualitäten einer Ware und ihrer tatsächlichen Beschaffenheit, oder zwischen der Erzählung von Ereignissen und ihrem tatsächlichen Verlauf unterscheiden zu können, gerade weil von rhetorisch brillanten Erzählungen oder der täuschenden Aufmöbelung von Waren eine eigentümliche Faszination ausgeht.
Auf Lichtensteins Gegenstände an der Wand sehen wir auf der dargestellten Rückseite eines Gemäldes (über Keilrahmen gespannte Leinwand) um ein fast leeres Zentrum Hufeisen, Pinsel, eine Briefschaft, ein Leger-typisches Bildfragment, eine Spielkarte und die Darstellung ornamentaler Muster wie Schneckenhaus, Muschel und Seestern. Daß diese Dinge am Bildrand befestigt sind, scheint natürlich zu sein, da man auf dem Holzrahmen leichter Gegenstände montieren kann als auf der Leinwand. Im auffällig leeren Zentrum der gemalten Leinwand ist ein Nagel mit seinem Schatten zu sehen – das traditionelle Signet der Malerei als Augentäuschung. Schräg oberhalb des Nagels sitzt auf der Leinwand eine Fliege. Mit diesem Motiv wurde stets auf den legendären Streit zwischen Zeuxis und Parasios angespielt. Um 400 v. Chr. trafen sich die beiden Großmeister der hellenistischen Malerei, um zu entscheiden, wer der Größere sei. Parasios hatte Trauben so gemalt, daß die Vögel nach ihnen pickten; Zeuxis hatte einen Vorhang vor einem Bild als Bild so gemalt, daß Parasios versuchte, den Vorhang wegzuziehen, um sich das Gemälde anschauen zu können.
Auffällig ist nun, daß Lichtenstein uns ganz offensichtlich mit der Darstellung nicht veranlassen will, einer suggestiven Augentäuschung zu unterliegen und sie gleichzeitig zu genießen. Er ruft nur im Betrachter das Konzept der Malerei als Augentäuschung gedanklich in Erinnerung. Das will sagen: Die Wirkung von Bildern realisiert sich nicht als ihre objektive Gestalt, sondern in der Psyche des Betrachters. Der Illusionist ist nicht der Maler, sondern der Betrachter.
Nicht das Bild täuscht, sondern die Art der psychischen Verarbeitung von Wahrnehmungen setzt uns Täuschungen aus, weil unser Gehirn verschiedene Bewertungen von Wahrnehmungseindrücken ausprobieren muß, um zu einer Schlußfolgerung zu kommen.
Leger konzentriert in seinem Stilleben Dinge eines häuslichen Wohnraums in der Mitte seines Bildes, ihr Umfeld bleibt leer. Die Bildelemente (Tisch mit kugelgestaltiger Skulptur, Briefschatulle, Büchern; im Bildmittelgrund eine Ansammlung stark abstrahierter Architekturdetails) erscheinen wie zusammengeschoben, sodaß sich ein dichtes Feld von Wahrnehmungsappellen ergibt. Der Betrachter schwankt zwischen der Identifizierung von realen Objekten und formaler Bildstruktur.
Durch Lichtensteins Bild, das die Täuschung aus dem Bild in die gedankliche Operation des Betrachters verlegt, werden wir angeregt, Legers Stilleben mit einer bemerkenswerten Schlußfolgerung zu betrachten: Offensichtlich war Leger nahe daran, die abstrakte Kunst seiner Zeit der Tradition des Stillebens zuzurechnen. Er abstrahierte reale Raum- und Architektureindrücke so weitgehend, daß sie vor allem als formales Gestaltschema einer Malerei ins Auge fallen. Das Gemälde wird zu einem Wahrnehmungsanlaß, der dem Betrachter die Chance bietet, seine Vorstellung auf reale Raum- und Architekturelemente genauso zu konzentrieren wie auf abstrakte Bildordnungsschemata. Mit solchen Schemata ordnen wir auch im Alltagsleben unsere Wahrnehmung von Räumen und den in diesen Räumen verorteten Objekten. Wenn man kühnerweise aufgreift, was Leger mit seinem Stilleben nahelegt, dann stellt sich die Frage, welche Vorstellungen von Räumen und Flächen sich dem Betrachter eröffnen, sobald er abstrakte Darstellungen sieht. Können wir überhaupt abstrakt sehen, ohne zugleich unsere Vorstellungen oder Erinnerungen von realer Welt und deren Bedeutung ins Spiel zu bringen? Die historische Gattung des Stillebens hat diese Bedeutungen kanonisiert: die auf Stilleben gezeigten Gegenstände wie Musikinstrumente, Blumensträuße, Schriftstücke, Lebensmittel, Prunkgeräte, Spielzeuge etc. wurden Begriffen zugeordnet wie „Flüchtigkeit des Lebens“, „Vergänglichkeit des Augenblicks“, „Vergeblichkeit des Bewahrens“, aber vor allem auch auf die Leistungen der menschlichen Sinne und deren Täuschbarkeit bezogen. In der gegenstandslosen Malerei, etwa vom Typus des schwarzen Quadrats oder des roten Keils vor schwarzer Kreisfläche, wurden die Bedeutungen in Begriffe wie „das Absolute“ oder „die Spiritualität“ oder „die rote Revolution“ gefaßt.
Leger legt seinen Zeitgenossen Malewitsch und El Lissitzky, Corbusier und Ozenfant nahe zu verstehen, daß sie mit ihrer Bedeutungslehre der reinen Ungegenständlichkeit nichts Neues schufen, sondern die Tradition der Bedeutungslehren von Stilleben in der eigenen Zeit wiederbelebten.
Leger bezieht sich mit seinem Stilleben auf die Bildsprache Poussins. Oberflächlich betrachtet schien der Poussinsche Klassizismus das genaue Gegenteil der zeitgleichen Konzepte des Trompe l’oeil zu sein – wird doch im Bildvordergrund des Poussinschen Gemäldes so auffällig auf eine Ereignisschilderung abgehoben. Aber die von Poussin im Bildmittel- und -hintergrund dargestellte Alltagswelt der agierenden Personen wirkt von dem Ereignis merkwürdig unberührt. Architektur, Monumente und Landschaft werden im Grunde als stillgestellte Welt, eben als Stilleben geschildert.
Indem sich Leger nur auf diese Elemente des Poussinbilds in seinem Stilleben bezieht, verlagert er die agierenden Personen aus dem Poussinschen Bild in die Psyche des Betrachters. Das psychische System der Menschen ist immer der Welt konfrontiert. Es ist nicht Teil dieser Welt. Diese betrachtend wahrnehmen zu können und mit unseren Wahrnehmungen zu operieren, verlangt die Stillstellung der Welt, ihre Verwandlung in ein Stilleben.
Der Betrachter reagiert umso animierter, umso seelisch und gedanklich bewegter, je weniger die Darstellungen der Welt vortäuschen, selber belebt, animiert, bewegt zu sein.
Fazit dieser naturgemäß verkürzten Wiedergabe realer Bilderfahrung: die scheinbar so unterschiedlichen Konzepte von Lichtenstein und Leger zeigen ihre Kraft, indem sie uns Positionen des 17. Jahrhunderts mit einer neuen Sicht vergegenwärtigen. Lichtenstein macht deutlich, daß nicht die Bilder die Augen täuschen, sondern die Augen die Psyche. Leger macht deutlich, daß der noch so strenge formale Purismus des Klassizismus im 17. wie im 20. Jahrhundert nicht vermeiden kann und nicht vermeiden soll, die Welt vor allem deshalb in festen Ordnungsschemata stillzustellen, weil nur der Betrachter, nicht aber das Bild beseelt, also animiert, ist.
Je ungegenständlicher der Maler operiert, desto stärker wird das Verlangen der Betrachter, der Darstellung Bedeutungen zuzuordnen. Die aber entstammen nicht der objektiven Gestalt der Bilder, sondern den psychischen Operationen ihrer Betrachter.