Buch Bilder in Bewegung

Traditionen digitaler Ästhetik

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Erschienen
1999

Herausgeber
Hemken, Kai-Uwe

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3770152395

Umfang
240 Seiten

Einband
Broschiert

2 I. Kitsch

Der größten Zahl von Kitschobjekten begegnet man heute dort, wo animiert wird. Animation wird nämlich - ausgehend von filmischer Animation - als »Beseelung« oder Verlebendigung von totem Material aufgefaßt. Unter »Kitsch« verstehen wir Objekte, denen eine lebendige Kraft zugesprochen wird, der sich der Besitzer oder Nutzer der Objekte unterstellt. Wir begegnen einem solchen Umgang mit Objekten auf allen Ebenen: Menschen treten ihre eigene Erinnerungskraft an die Souvenirs ab; sie übertragen die Aufgabe historischer Vergegenwärtigung an Denkmale; von museal ausgestellten Werken bildender Kunst versprechen sich deren Anbeter einen tröstenden Zuspruch des Ewigen wie Pilger, die vor einem Standbild auf die Knie fallen.

Wieso suhlen sich Westler dann in dem Hochmut, nur Naturvölker seien so naiv, Steine, Hölzer oder anderes banales Material für beseelt zu halten (lat. anima=Seele; Animismus=Glaube an die Beseeltheit der Naturdinge)? Die angeblich naiven Naturvölker, so die Annahme, wollten mit der Beseelung der Objekte Verfügungsgewalt über gute und böse Geister erhalten. Wer sich solche Objekte als Fetisch, Amulett, Talisman an den Hals hänge, stärke sich durch die Kraft dieser Gegenstände in seiner Abwehr von Übeln, indem er sich unter den Schutz wohlmeinender Mächte begibt. Soweit sich auch Westler Kinderschühchen ins Auto hängen, Gespenstertattoos in die Haut stanzen lassen, Karpfenschuppen ins Portemonnaie legen, frönen auch sie dem »naiven Animismus der Naturvölker«.

Aber: Wenn dieser Umgang mit Objekten auch reiner Hokuspokus sein mag, so zeigt er doch offensichtlich Wirkung. Es kommt also auf die Wirkung an und nicht auf die Beschaffenheit der Objekte. Deswegen bedienen sich auch westliche Rationalisten der Placebos, also objektiv eigenschaftsloser Substanzen. Wie Doppelblindversuche empirischer Forschung hinreichend gezeigt haben, kann die Einnahme solcher eigenschaftslosen »Medikamente« durchaus eine meßbar heilsame Wirkung auf kranke Menschen haben. Talismane und ähnliches können als Psychoplacebos verstanden und benutzt werden.
Kitschobjekte erwecken den Eindruck, als befriedige ihr Gebrauch die Bedürfnisse der Nutzer, die Aneignung durch Kauf garantiere bereits den Verlebendigungseffekt. Im Bereich der Kunst hatte man seit der Renaissance versucht klarzumachen, daß die animistische Beseeltheit nicht in den Objekten liegt, sondern sich erst im Betrachter realisiert. Mit anderen Worten: Michelangelo schuf mit dem David keineswegs eine lebende Statue, wie das Pygmalion versuchte: Die Verlebendigung ereignet sich erst in der Vorstellungskraft des Wahrnehmenden. Animiert wird hier der Rezipient, nicht der Gegenstand. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Kunstobjekten und Kitschartikeln. Gleichwohl kann man mit einem Kunstwerk kitschig umgehen:

Ein echter Monet kann von seinem Besitzer oder Betrachter zu einem Fetisch degradiert werden, der seinen Wert aus sich habe. Solche Kitschiers sind der Meinung, die Werke sprächen für sich und aus sich heraus, sie seien unabhängig von einem sinnvollen Umgang mit ihnen; sie seien wirksam auch ohne gedankliche oder seelische Anstrengung des Betrachters. Umgekehrt kann man mit einer bloßen Reproduktion eines Kunstwerkes zu Formen aktiver gedanklicher Arbeit gelangen. Nicht das materielle Objekt spricht, sondern der Betrachter.

Wenn diese Überlegungen einigermaßen sinnvoll sind, wieso interessieren sich vornehmlich Intellektuelle, Designer und Gestalter so auffällig für Kitschobjekte? Wollen sie nur ihre Überlegenheit über den naiven Animismus schlichter Gemüter demonstrieren? Das wäre nur eine Wiederholung des besagten Hochmuts angeblich aufgeklärter Westler gegenüber den Naturvölkern.

Als etwa Susan Sontag in den sechziger Jahren diesen Fragen nachging, schlug sie vor, den bewußten Umgang mit der verführerischen Objektmagie des Kitsches deutlich von der Unterwerfung unter die Objektmagie zu unterscheiden. Sie kennzeichnete den bewußten Umgang mit Kitsch als »camp«. Sie riet also nicht zu elitärer Distanzierung gegenüber den Phänomenen des Kitsches, sondern erkannte darin ein aufklärerisches Potential. Objekte (also Souvenirs, Talismane etc.) können durch ihre offensichtlich banale, sogar völlig unangemessene Gestaltung, durch die Wertlosigkeit des Materials und durch ihre billige Serienherstellung von vornherein signalisieren, daß man sie nicht als Träger von Gedanken und Vorstellungen werten kann. Je »kitschiger« also ein Objekt sei, desto direkter zwinge es den Besitzer oder Betrachter, sich auf sich selbst oder seine kleine Kommunikationsgemeinschaft (=camp) zu orientieren. Denn alle Dinge in der Welt haben für den Menschen nur einen Wert mit Blick auf ihre Beziehung zu anderen Menschen, also mit Blick auf die Kommunikation. Wer bewußt Kitschobjekte in diese Kommunikation einbringe, macht seinen Partnern klar, daß es in der Beziehung nicht um die Objekte geht, sondern um die immer wieder beschworenen »geistigen oder seelischen Werte«. Die 150%igen Kitschobjekte, also die »camp«- Werke, erfüllen diese Voraussetzung optimal. Es kommt also darauf an, mehr und mehr Menschen der verschiedensten Kommunikationsgemeinschaften zu einer bewußten Nutzung der »camp«-Gegenstände anzuleiten. Die bis dato »kleinbürgerlich« genannte Beurteilung von Artefakten ging davon aus, jene Werke am höchsten zu schätzen, bei denen zwischen Inhalt und Form die größte Übereinstimmung herrscht - so als könne es eine vollständige Identität von psychischen Aktivitäten und sprachlicher Gestaltung geben. Wenn das tatsächlich gelten sollte, könnte man nur Tautologien produzieren nach dem Muster »eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«. Die ästhetische Aufladung von sprachlicher Gestaltung, also auch von Bildern, Skulpturen, Musikstücken, Architekturen, entsteht aber gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen und Willensäußerungen einerseits und der Unmöglichkeit, sie in eineindeutigen Gestaltungen zu repräsentieren, andererseits. Wer die Identität von Gedanke und gestalterischer Tat, von Vorstellung und sprachlichem Ausdruck erzwingen will, wird zum Dogmatiker und eben zum Produzenten von leeren Formeln, von Gestaltungsfloskeln, von Klischees. Wenn also 150%ige Kitschobjekte die Unangemessenheit, die Nichtidentität von Inhalt und Form, von Gedanke und sprachlichem Ausdruck, von Bewußtsein und Kommunikation offensichtlich werden lassen, haben sie ein hohes ästhetisches Aktivierungspotential.

Auch in der Kunst unseres Jahrhunderts ist dieses Potential genutzt worden, indem Künstler ganz bewußt in ihren Gestaltungen die ästhetische Differenz von gedanklichem Konzept und Gestaltung der materiellen Zeichenträger vor Augen führen. Deshalb wirken so viele Arbeiten von zeitgenössischen Künstlern wie Karikaturen; denn auch die Karikatur nutzt, wie die »camp«-Methode, die Übertreibung, um die ästhetische Differenz sichtbar zu machen. Der Vorwurf, dieses Vorgehen sei bloß witzig oder ironisch-dadaesk, unterschätzt die Bedeutung, die die Erfahrung und die Einsicht in die Unangemessenheit von Aussagen und Sachverhalten haben - eine Einsicht, die sich normalerweise in einem befreienden Lachen äußert. Deswegen fordern ernsthafte Wissenschaftstheoretiker seit Lichtenbergs Zeiten, auch in den Wissenschaften das Evidenzerlebnis der ästhetischen Differenz zu nutzen, um sich von dem Kitsch philosophischer Tiefsinnigkeit à la Heidegger und genialischem Getue der ultimativen Problemlöser, zum Beispiel der Plutoniumindustrie, zu befreien. Gegenwärtig führt der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Richard Rorty diese Entkitschung der Wissenschaften seinem Publikum mit großem Erfolg vor. In den Künsten haben ähnliche Demonstrationen von Andy Warhol oder Jeff Koons erheblich dazu beigetragen, ästhetische Differenz oder offensichtliche Unangemessenheit als Erkenntnis- und Gestaltungsmethode durchzusetzen.

An ihrem Beispiel zeigt sich, daß eine produktive Nutzung des Placebo-Effekts auch möglich ist, wenn man den Psychomechanismus kennt, dem dieser Effekt seine Wirkung verdankt. Kitschobjekte haben also gerade für diejenigen erkenntnisstiftende Funktion, die nicht auf sie hereinfallen.