Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 265 im Original

Band II.Teil 3.2 Ein neuer Bilderkrieg

- Wirklichkeitsanspruch in Bildwelten heute

Diese Textfassung basiert auf dem Programmtext des audiovisuellen Vorworts zur documenta 5, Kassel 1972, synchron zu 2.000 Dias der AV-Präsentation. Der neu strukturierte Text wurde ergänzt um einige Passagen aus dem gegenüber der Documenta-Schau zwar gekürzten, ansonsten aber weitestgehend übereinstimmenden Text zum AV-Programm der Ausstellung ‚Wirklichkeit in Bildwelten heute‘ im Haus Deutscher Ring/Hamburg, Juni 1973. Abschnitt 3 wurde außerdem um die ‚Strukturprinzipien‘ der documenta5 erweitert, die dem Manuscript ‚Erläuterungen zum Konzept der d5‘ entnommen wurden. Die Didaktik wie die Terminologie dieses Vermittlungsansatzes – zum Zeitpunkt der documenta 5 noch als „Gauklertanz neurotischer Gespenster“ und „ideologischer Weihrauch“ diskriminiert (so Thilo KOCH in ‚Die Kunst auf dem Prüfstand: documenta 5‘ in: KUNSTMAGAZIN 47/1972) – sind in der Kunsttheorie, im Feuilleton wie in der Ausstellungspraxis als inzwischen nahezu selbstverständlicher Bezugsrahmen gewertet und weiterentwickelt worden. Der AV-Präsentation auf der documenta 5 ging 1968 eine ‚Besucherschulung‘ Brocks auf der documenta 4 voraus, die allerdings in wesentlich kleinerem Rahmen stattfand.

2.1 Die Bedeutung des Problems

Können Sie sich vorstellen, daß 35 000 Mann westbyzantinischer Armee gegen 27 000 Mann ostbyzantinischer Armee ein blutiges Gemetzel veranstalteten, weil die einen Bilderanbeter und die anderen Bilderfeinde waren? Der blutige Kampf um eine Frage der bildenden Kunst in den Jahren 730 bis 843 nach Christus hat bis auf den heutigen Tag kein Ende gefunden.

[Abb. Ottonische Buchmalerei; Byzantinische Ikonen]

Damals entbrannte der Bilderkrieg an Glaubensproblemen: Sind Abgebildetes (Gott und Heilige) und Abbildung identisch, eine unzertrennbare Einheit, dann darf kein Bild von Gott und Heiligen hergestellt und angebetet werden. Dann wäre Bilderanbetung und -verehrung ein Akt heidnischer Magie und also für Christen verboten.

Sind Abgebildetes und Abbildung nicht identisch, zwei selbständige, aber als Bestandteile der einen Welt miteinander verbundene Wirklichkeitsebenen, dann könnte das Abbild ruhig verehrt werden, weil das Abbild nur stellvertretende Realität der Wirklichkeit Gottes und der Heiligen ist.

Wenn man die eigenständige Wirklichkeitsebene der Abbildung gegenüber der Wirklichkeitsebene des Abgebildeten annehmen kann, dann kann man damit eine nicht sichtbare oder unerkannte andere Existenz eines Abgebildeten beweisen; ja man kann sogar Gott beweisen. Gott ließe sich beweisen, wenn die Bilder wirklich sind, wenn zum Beispiel das Wortbild Vollkommenheit tatsächlich existiert, dann existiert auch Gott, denn Gott ist das Vollkommene; zur Vollkommenheit gehört die tatsächliche Existenz; also existiert Gott.

[Abb. Produktwerbung „dato“ und „König Pilsner“]

Im heutigen Bilderstreit geht es nicht mehr um den Gottesbeweis, sondern um den Weltbeweis, den Dato- und Omobeweis, den Kunstbeweis oder den Wissenschaftsbeweis. Wir modernen Byzantiner konstruieren und entwerfen flott und freiweg Bilder, deren Wirklichkeit als Beweis der Wirklichkeit eines dahinterstehenden Abgebildeten gewertet wird. Aber die Welt besteht nicht nur aus unseren Bildkonstruktionen.

2.2 Die Zuspitzung des Problems in der Gegenwart

In allen Bilderkriegen geht es um die Frage, ob das Bild den gleichen Anspruch auf Wirklichkeit erheben kann wie das auf ihm Abgebildete; oder ob Abbildung und Abgebildetes vom Wesen her eine Einheit sind. Gibt es zwei getrennte Wirklichkeitsebenen für Abbildung und Abgebildetes oder fallen beide Wirklichkeitsebenen zusammen? Heute geht es um die gleiche Frage: nur anstatt um Wirklichkeit von Gott und Heiligen als Abgebildeten und Ikone als Abbildung wird um die Wirklichkeit von Frischwärts und Neuweiß gekämpft. Der Bilderkampf unserer Zeit wird von Wissenschaft, Kunst, Politik und Produktion mit massenhaftem Einsatz von Mikrophonen und Kameras geführt. Die Welt wurde zu einem einzigen großen Bildschirm.

[Abb. Kameragewehr von Adolf SKUBIAN; STERNreportage über Indien 1971]

Da heute für Bilder kein Blut mehr zu fließen scheint und die Opfer des Kampfes selbst zu schönen Bildern werden, könnte man den Eindruck gewinnen, als ob der Weltbeweis durch Bilder endgültig gelungen sei. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der wir den Wirklichkeitsbeweis der Bilder akzeptierten und auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens für endgültig hielten, entstand der Eindruck friedvoller kultureller Einheitlichkeit der Sechziger Jahre. Durch sie erhielten die Sechziger Jahre den Anschein einer glanzvollen Kulturepoche; einer Kulturepoche, in der Kunst und gesellschaftliches Bewußtsein dem Anschein nach übereinstimmten.

[Abb. Produktwerbung „dato“; Andy WARHOL „Campbell's Soup cans“]

Die Bildererzeugung der Pop Art hat die industriegesellschaftlichen Massenproduktionen in den Rang von verbindlichen kulturellen Leistungen gehoben, und das gesellschaftliche Leben wurde durch Pop Art in Verhaltensweisen, Vorstellungen und Bewußtsein bestimmt. Die Wechselwirkung klappte umstandslos und offenbar zum Nutzen der Beteiligten.

[Abb. Mel RAMOS; Produktwerbung; Wohnraumdesign]

Trivialkultur von Künstlern rangerhöht, wurde mit diesem ihrem neuen Anspruch wieder als Werbung benutzt. Industriell produzierte Massengüter, von Künstlern in die Kunstpraxis mit einbezogen, sogen diesen Aussagenzusammenhang in sich auf und wurden nur um so begehrenswerter. Ein Bild hoffnungsvoller Harmonie. Der eindeutige und unbestrittene Vorrang der Pop Art vor allen anderen künstlerischen Äußerungsformen gab Künstlern, Käufern und Publikum Sicherheit in Orientierung und Urteil, und es schien endlich wieder die Kunst zu geben; eine klare, allseits akzeptierte Sache. Diese Kulturepoche ist abgeschlossen.

[Abb. Comicbildchen – LICHTENSTEIN – SINALCOwerbung; Untertitel: „Comic“ --> „Kunst“ --> „Werbung“]

Gegen Ende der Sechziger Jahre wurde dieses schöne Bild zurechtgerückt von gesellschaftlichen Randgruppen wie Studenten, Hippies, Farbigen, Vietnamheimkehrern, die die Problematik unserer sozialen Existenz wieder zum Thema erhoben.

[Abb. Straßentheater; Black Power Action]

Der Anschein einer epochalen kulturellen Einheitlichkeit der Sechziger Jahre verlosch.

Heutige künstlerische Hervorbringungen sind weit entfernt von einer solchen Einheit zwischen Kunst und Lebenspraxis, von schönem Bild und Abgebildetem. Deswegen erscheint die gegenwärtige Kunstszene babylonisch verwirrt, vielfältig und widersprüchlich. Es jagen sich Stile und Tendenzen. Eine wahre Inflation sich widersprechender und gegenseitig aufhebender Produktionen entsteht mit naturwüchsiger Gewalt. Viele ziehen daraus voreilig die Konsequenz: Die Kunst könne keine verbindlichen Aussagen mehr machen.

[Abb. Vito ACCONCI; Nancy GRAVES; Jasper JOHNS; Andy WARHOL; Wohnraumdesign; Modefotografie]

Solches Verhalten ist voreilig und unbegründet, weil die Schwierigkeiten, die die gegenwärtige Kunstszene bietet, nicht auf die Kunst beschränkt sind, sondern für alle Bereiche der Gesellschaft gelten.

Die bedeutendste und folgenreichste dieser Schwierigkeiten ergibt sich aus dem Zerfall der Gesellschaft in viele Einzelbereiche und Teilsysteme. Das bedeutet: Es gibt keinen für alle gesellschaftlichen Teilbereiche gleichermaßen verbindlichen Sinn des Lebens, für alle Mitglieder der Gesellschaft akzeptable Ziele und Rechtfertigungen des Handelns. Jeder Teilbereich muß für sich einen letztbegründenden Sinn für Leben und Handeln formulieren. Solche Formulierung kann nicht nur in Worten vorgenommen werden; sie muß als eine jeweils neue Bestimmung dessen aufgefaßt werden, was die Wirklichkeit ist.

Das Teilnehmen an dem formulierten Zusammenhang, die Erfahrung eines solchen Sinns von Leben und Handeln wird über das Herstellen und Aneignen von Wirklichkeit geleistet. Deshalb läßt sich das gegenwärtige Problem auch so bezeichnen: Was hat als Wirklichkeit unseres Lebens Geltung?
Die Antwort läßt sich schnell geben: Für jeden Menschen ist Wirklichkeit dasjenige, was ihn zum Handeln veranlaßt. Aber: auf welche Weise kann gehandelt werden?

2.3 Befragung der Wirklichkeit-Wirklichkeit in Bildwelten heute: Strukturprinzip einer Besucherschulung

Es soll untersucht werden, wie die Kunst als Beispielsbereich mit der Wirklichkeitsproblematik unseres gegenwärtigen Lebens fertig wird – durch die Ausstellung von heutigen, künstlerischen und nichtkünstlerischen Bildwelten – mit dem Ziel, die von der Kunst entwickelten Verfahren der Wirklichkeitsherstellung und Wirklichkeitsaneignung alltäglich und allgemein anwendbar zu machen, soweit sie leistungsfähig sind. So formuliert diese Besucherschule (das documenta 5-Thema) keine vorgefaßten Beurteilungen von Kunstwerken, sondern eine Methode der Konfrontation der Wirklichkeit, deren einer, wenn auch ausgezeichneter Bestandteil die Kunst ist.

Wir müssen lernen, in Bildern zu denken. In Schulen werden uns nur die Wortsprachen beigebracht. Die Bildsprachen bleiben unerschlossen und vagen Vermutungen überlassen. Das ist um so schwererwiegend, als wir heute bereits unsere Welt mehr in Bildern (durch Fernsehen, Film, Zeitung, Werbung, Dekoration, Design) als in Wortsprachen wahrnehmen.

Diese Besucherschule soll einen Beitrag zum Erlernen der Bildsprachen leisten. Zwar wird in ihr nur ein Problem, aber ein äußerst wichtiges Problem der Bildsprache erörtert und dargestellt: die Frage, welchen Wirklichkeitsanspruch haben die Bilder? Das ist etwa so zu verstehen: in der Werbung werden uns Bilder als Beweisstücke für eine Aussage angeboten. Zum Beispiel für das Weiß eines Wäschestückes, das mit einem bestimmten Pulver gewaschen wurde. Ist das hellere Weiß auf dem Werbefoto gegenüber dem graueren ein Resultat der fotografischen Bild-Erzeugung oder Beweis für Waschkraft?

[Abb. Produktwerbung]

Was wir in der Werbung noch verhältnismäßig leicht durchschauen, ist für Fernsehen, Film, Zeitung, für die künstlerische und die journalistische Bild-Erzeugung weit schwieriger, aber dennoch folgenreicher. Bilder interpretieren sich gegenseitig. Perspektiven werden erzwungen, wertende Einstellungen durch Wahl der Technik bestimmt. Solche Bild-Erzeugung ist in erster Linie die Frage der medialen Vermittlung. Was heißt unter diesem Gesichtspunkt des Wirklichkeitsanspruchs, zum Beispiel realistisch fotografieren oder realistisch malen? Realistisch malen oder fotografieren heißt nicht – wie weitverbreitet vermutet wird – zu malen oder zu fotografieren, was man sieht, sondern einen deutlichen Unterschied zu machen zwischen dem, was man sieht und dem, wie man es sieht, also zwischen dem Wahrgenommenen und den Wahrnehmungsformen zu unterscheiden.

Beispielsweise in Bildwelten wie diesen … Man muß schon ein ausgewachsener Philosoph sein, um solche Konfrontationen bei klarem Verstand zu überstehen. Welche Wirklichkeit manifestiert sich in Frischwärts und Neuweiß?

[Abb. Produktwerbung]

Was für eine Wirklichkeit sollte das sein, die als Schönheit gegessen werden kann und in der Freiheit mit einer Trockenhaube geschenkt werden kann? Welche Anstrengung des Gedankens wird einem Käufer eines Lkw auferlegt, der gewärtig sein muß, daß sein Lkw gar kein Lkw ist, sondern mehr als ein Lkw, nämlich eine rationale Kraft.

[Abb. Produktwerbung für LKWs]

Welchen hohen Grad an Abstraktion setzt es voraus, mit einem Unding sich zu rasieren oder in einem Ding über den Dingen spazieren zu fahren.

[Abb. Produktwerbung: Rasierapparat „das Unding“ und BMW „Über den Dingen“]

Alltäglich wird mit diesen Hinweisen auf Verzauberung, Veränderung, Verwandlung den Konsumenten mehr Vorstellungskraft abverlangt, als es nur je eine Kunst mit ihren phantastischsten Transformationen der Wirklichkeit, in ihren utopischsten Entwürfen einer Zukunft von einem Kunstpublikum gefordert hat.
Es scheint einem durchschnittlichen Zeitungsleser von heute ohne weiteres möglich zu sein zu verstehen, wie man die Zukunft selber machen kann, indem man Motorrad fährt, oder eine bessere Zukunft im Griff hat, indem man Ziegelsteine übereinander schichtet. Derselbe Zeitungsleser würde in einer Kunstausstellung rundheraus behaupten, daß die Künstler mit ihren Arbeiten ihm vollständig unzugänglich und unverständlich sind.

[Abb. Mitarbeiter des Baugewerbes]

Diese Einmaligkeit scheint sich auch in achtfacher Wiederholung nicht zu verbrauchen. Ein Anspruch, der weit über alles hinausgeht, was jemals von Seiten der Kunst einem Publikum zugemutet worden ist. Die Alltagswelt scheint für jedermann Leistungen als selbstverständlich anzunehmen, die jahrhundertelang nur hochspezialisierten Künstlern und Wissenschaftlern sinnvoll erschienen. Hier heißt es für kopfwaschende Hausfrauen: Wenn Sie trotz steter Verwendung eines Antischuppenmittels Schuppen haben, dann nehmen Sie das Antischuppenmittel …

[Abb. Produktwerbung Haarpflege]

Beseitigt eine gekaufte Flüssigkeit bei ihrer Anwendung Schuppen – so ist sie Antischuppenmittel; wenn aber diese Flüssigkeit keine Schuppen beseitigt, wieso ist sie dann ein Antischuppenmittel? Ist 'Antischuppenmittel' ein bloßer Name irgendeiner Flüssigkeit oder bezeichnet Antischuppenmittel auch eine an das Wesen der Flüssigkeit gebundene Eigenschaft?

Da nicht anzunehmen ist, daß alle Verbraucher von Wirtschaftsgütern plötzlich zu Philosophen geworden sind, kann die Erklärung für diese Alltagszumutungen nur darin liegen, daß wir die Wirklichkeitsfrage gar nicht mehr stellen.

Wir müssen sie aber stellen. Bei der täglichen Vervielfältigung der Welt durch Foto und Druck, durch Fernsehen und Film vermischt sich bis zur vollständigen Unentwirrbarkeit inszenierte Wirklichkeit mit Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse; Teilstücke werden als der ganze Vorgang dargestellt oder in andere Zusammenhänge gestellt: Fotos werden zum Beweisstück erhoben; Perspektiven werden erzwungen, die einzelnen Wirklichkeitsebenen überlagern sich, interpretieren sich gegenseitig; Unsichtbares wird sichtbar (und was einem unter den Nägeln brennt, wird weggefeilt).

[Abb. Produktwerbung u.a. „Signal“-Zahncreme; STERNreportage über Indien; STERNfoto „Essen“]

Als Frage nach dem Wirklichkeitsanspruch der Bilder läßt sich das Strukturprinzip dieser Besucherschule an drei unterscheidbaren Aussagenebenen festmachen:

1. der Wirklichkeitsanspruch der Abbildung dominiert
2. der Wirklichkeitsanspruch des Abgebildeten dominiert
3. Abbildung und Abgebildetes sind identisch bzw. nichtidentisch
oder
1. das System der Bilder, Objekte, Zeichen als eine Wirklichkeit
2. das Abgebildete, das Bezeichnete, das Objektivierte als Wirklichkeit
3. die Einheit oder Unterschiedlichkeit des Wirklichkeitsgehaltes, der Bild und Abgebildetem jeweils zukommt
oder
1. autonome, freie Bildwelt als Vorstellungen und Entwürfe, die sich gar nicht oder kaum auf eine andere Realität als ihre eigene beziehen
2. bildliche Darstellungen, die wesentlich als Instrumente und Verfahren des Umgangs mit einer vorgegebenen Realität verstanden werden
3. Zusammenfallen von Bild und Abgebildetem, weil
a) die Fähigkeit, diese unterschiedliche Realitätsebene auseinanderzuhalten, noch nicht entwickelt oder durch Krankheit verlorengegangen ist oder
b) nur so bestimmte historische Probleme gelöst werden können. Umgekehrt werden eine Reihe von Erkenntnisprozessen durch die Notwendigkeit bestimmt, die unaufhebbare Differenz von Bild und Abgebildetem herzustellen.

[Abb. Fotos aus dem Redaktionsteil einer BILD-Zeitung]

Beispiel: An einem Tag in einer Zeitung auf einer Seite drei Bildwelten: ein Schnappschuß von einer Südseereise, eine Illustration zu einer Südseeabenteuergeschichte und eine Reportage über HARMSTORF, der den 'Seewolf' spielte und nun mit dieser Rolle auch außerhalb des Films identifiziert wird. Ein abgebildetes wirkliches Geschehen eine phantastische Bilderfindung und ein Zusammenfallen von Phantasie und Wirklichkeit. Bei der Wiedergabe durch die Zeitung werden diese Bildwelten für einen Zeitungsleser ununterscheidbar; er nimmt alle drei Bildwelten für gleichermaßen wirklich. Die Wirklichkeit des Abgebildeten, die Wirklichkeit der Abbildung und ihre Identität müssen ihm gleich erscheinen, weil er allen drei Geschehnissen nur in Gestalt der Reproduktion durch die Zeitung gegenübersteht. So bildet das Medium Zeitung die Wirklichkeit des Ereignisses.

Da wir unser Leben nicht mehr auf unmittelbare Teilnahme an Ereignissen reduzieren können, im Gegenteil, von immer mehr Teilnahme an anderen Lebensprozessen abhängen, nimmt die Notwendigkeit, durch Medien vermittelte Wirklichkeit zu erfahren, immer stärker zu. Das Chaos des Ununterscheidbaren wächst. Da hilft nur Anstrengung der Reflexion und die Arbeit des Begriffs. Arbeit, wie sie beispielsweise Künstler heute leisten. Da die Kunst immer schon mit in Bildwelten vermittelter Wirklichkeit zu tun hatte, besteht guter Grund, die Künstler zu fragen, wie sie mit der Wirklichkeitsfrage fertig geworden sind und fertig werden.

2.4. Vermittlung durch ein Medium – mediale Vermittlung:
Inszenierende und objektivierende Fotografie als Beispiel

Die Arbeit des Verstehens kann von mehreren Aussagenzusammenhängen ausgehen. Wir wählen den einfachsten Aussagenzusammenhang: Den der Vermittlung von Botschaften.

Prinzipiell nehmen wir immer nur vermittelt wahr. Jede Vermittlung wird beeinflußt durch die Situation, in der man wahrnimmt; die Leistungen der Wahrnehmungsorgane, mit denen man wahrnimmt, und den sozialen Zusammenhang, aus dem heraus man wahrnimmt. Zu diesen physiologischen, situativen und soziokulturellen Vermittlungsbedingungen kommt noch eine spezielle hinzu – eben die des Mediums, in welchem wir uns Wirklichkeit aneignen. Solche Medien sind etwa die Fotografie, die Malerei, der Film, die Zeichnung, die Wortsprache, Instrumente, Maschinen, Zeitung.

Für mediale Vermittlung gibt es zwei Extreme, die am Medium Fotografie demonstriert werden sollen: Die Extreme sind die verselbständigten Abbildungen, sind das verselbständigte Abgebildete, oder: die Extreme sind der objektivierende und der inszenierende Gebrauch des Mediums Fotografie.

Nehmen wir den Fall einer Straßendemonstration als gegeben an, so muß eine objektivierende Fotografie darauf hinarbeiten, dieses Ereignis so fotografisch zu reproduzieren, daß sie es Dritten gegenüber, die an der Demonstration selber nicht beteiligt waren, erfahrbar macht, und zwar so, daß die fotografische Ereigniswiedergabe aus den Zufälligkeiten, Willkürlichkeiten und Beiläufigkeiten herausgehoben wird, daß das Ereignis objektiviert wird durch die Wiedergabe der tatsächlich bestimmenden Bedingungen des Vorgangs.

[Abb. STERNreportage ‚Studentendemonstration‘]

Für die objektivierende Fotografie wie für die objektivierenden bildend-künstlerischen Verfahren ist in erster Linie das Medium nur ein Transportvehikel für eine außerhalb des Mediums vorfindliche Wirklichkeit, die durch die Fotografie objektiviert wird; d.h. daß die Wirklichkeit dem Betrachter oder dem Künstler oder dem Fotografen gegenüber als selbständige und eigenständige Wirklichkeit erscheinen kann: als Wirklichkeit des Abgebildeten.

[Abb. STERNreportage ‚Studentendemonstration‘]

Inszenierender Gebrauch des Mediums Fotografie würde bei dem gleichen Material, nämlich dem Ablauf einer Straßendemonstration, auf ganz gegenläufige Resultate Wert legen. Für sie wäre in erster Linie wesentlich: Die Erzeugung einer bestimmten Wahrnehmung des Ereignisses, das Hervorrufen einer atmosphärischen Stimmung und ästhetischer Dichte, die Erzeugung einer nicht näher kontrollierbaren Einstellung des Betrachters zu dem Bild usw.

[Abb. PARIS MATCH Reportage ‚Studentendemonstration ‘ – diese beiden Bilder sind, zum „ästhetischen Bildgenuß, in schönsten Farben mit wunderbaren Lichteffekten“ inszeniert.]

Die inszenierende Fotografie will in erster Linie – wie auch die inszenierende Kunst – Bilderzeugungen betreiben; sie will Bildwirklichkeiten konstituieren; dabei kommt den medialen Hervorbringungsweisen größte Bedeutung zu. Dem Medium verdanken sich die erzeugten Bilder. In der inszenierenden Fotografie wird das Medium selber bilderzeugend eingesetzt. Das durch mediale Inszenierung erzeugte Bild soll nach Möglichkeit ganz und gar aus sich selbst bestimmbar sein. Eine autonome Bildwelt – die Wirklichkeit der Abbildung.
Im Gegensatz zum autonomen, aus sich bestimmbaren Bild der inszenierenden Fotografie verweist das Bild der objektivierenden Fotografie aus sich hinaus, auf ihm vorausgegangene und ihm nachfolgende, wobei die Interessantheit der objektivierenden Fotografie daraus resultiert, daß der Betrachter in seiner Vorstellungskraft die Fortsetzung oder Rückführung des Bildes selber vornehmen kann.

Der objektivierende Gebrauch des Mediums ist noch nicht weit entwickelt. Das Abgebildete zu objektivieren, gilt immer noch als weniger kreativ, als die Abbildung zu inszenieren.

Die Unterscheidung zwischen objektivierendem und inszenierendem Gebrauch des Mediums bestimmt auch heute die Erscheinungsformen der Kunst.

2.5 Der Wirklichkeitsanspruch des Abgebildeten dominiert 

Bei den sogenannten Neuen Realisten ist der objektivierende Gebrauch des Mediums eindeutig vorherrschend. Sie wollen allerdings nicht die abgebildeten Gegenstände objektivieren, sondern unsere durch die Medien Foto und Film veränderten Wahrnehmungsformen. Es ist für den Betrachter verhältnismäßig leicht zu erkennen, wie in diesen Bildern die Wirklichkeit des Abgebildeten objektiviert wird.

[Abb. Richard McLEAN; Don EDDY; Robert BECHLE]

Der abgebildete Gegenstand wird gegenüber der Art und Weise, wie wir ihn wahrzunehmen gewohnt sind, abgehoben. Das Abgebildete wird im Bild auch als eine von der Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeitsebene sichtbar.

Diese Maler versuchen die Befreiung des Gegenstandes von unseren Wahrnehmungsformen, wie sie durch Film und Fotografie ausgebildet worden sind. Da wir jahrelang hauptsächlich fotografischer und filmischer Vermittlung der Welt ausgesetzt waren, scheint sich die mediale Vermittlung schon zu einem Bestandteil der Gegenstände selber gemacht zu haben.

Solche Problemlagen hat es in der Kunstgeschichte mehrfach gegeben. So brachte im 15. Jahrhundert die Anwendung der Zentralperspektive die entscheidende Veränderung der Wirklichkeitswahrnehmung, da nämlich der Betrachter von einem ein für alle Mal fixierten Beobachtungspunkt aus in die Wirklichkeit hineinzusehen veranlaßt wurde.

[Abb. Albrecht DÜRER „Der Zeichner der Laute“ (1525)]

Diese Fixierung des Betrachters gegenüber dem Wahrgenommenen ermöglicht eine neue Beziehung von Mensch zu Natur im Sinne wissenschaftlicher und arbeitstechnischer Konfrontation.

[Abb. zwei Landschaftsgemälde von SEURAT]

Mitte des 19. Jahrhunderts berufen sich die Impressionisten auf die Erkenntnis, daß das menschliche Auge nur additiv sieht; daß das Bild erst durch die Integrationsleistung des Gehirns entsteht aus den vielen einzelnen, vom Auge gelieferten Bruchstücken. Impressionisten malten demzufolge integrative Bilder, die die natürliche Sehgewohnheit umkehrten.

Die impressionistischen Maler ermöglichten so, die Wirklichkeitswahrnehmung des Menschen gegenständlich zu machen und vom Wahrgenommenen abzuheben. Es wäre jedoch ein Irrtum, diese offensichtlichen Demonstrationen der Überformung des Gegenstandes durch seine jeweilige Wahrnehmung so zu verstehen, als ob die Maler den Umgang mit Dingen, die Wahrnehmungsweise der Dinge, ausschließlich nähmen und sich für die Dinge selber nicht mehr interessierten. Gerade in dieser offensichtlichen Demonstration der Wahrnehmungsweisen liegt ja für den Betrachter der realistische Verweis auf das Abgebildete und die Tatsache, daß die Wahrnehmungsform selber nur dem Gegenstand hinzugefügt wird, nicht aber in ihm als sein Wesen enthalten ist.

Das ist die Aussagentendenz eines jeden Realismus. Realistisch malen heißt eben nicht abzubilden, was man sieht, sondern zwischen Abbildung und Abgebildetem zu unterscheiden. Das tun auch die Maler dieser Bilder.

[Abb. Ralph GOINGS „AIRSTREAM“ (1970)]

Das natürliche Auge kann im Unterschied zum Kameraauge beispielsweise diese harte Gradation mit den ausgefressenen Lichträndern sowie die blaustichigen Schatten bei Sonnenlicht gar nicht wahrnehmen. Die Wahrnehmungsleistung der Kamera überträgt der Maler auf das Bild, indem er für die Herstellung des Gemäldes sich strikt an die fotografische Vorlage hält, ja, sie unmittelbar im Herstellungsprozeß durch Aufprojektion verwendet.

[Abb. Ben SCHONZEIT „40 Coupons“ (1970)]

An diesem Beispiel wird die Fähigkeit der Kamera ausgenutzt, Tiefenschärfen unterschiedlichster Art in einem einzigen Bild zusammenzubringen.

[Abb. Richard ESTES]

Hier wird die Leistung der Kamera benutzt, den Betrachterstandpunkt durch Verwendung unterschiedlicher Objektive, beispielsweise Weitwinkel, zu verlagern, ohne daß dadurch das Bild die Dimension der Nähe verlöre.

Neben den technisch medialen Leistungen der Fotografie für die Wirklichkeitswahrnehmung reflektieren diese Maler auch Handhabungen des Mediums Fotografie etwa wie hier durch die Wahl eines Ausschnitts.

[Abb. Malcolm MORLEY „RACE TRACK (SOUTH AFRICA)“ (1970)]

Das von der objektivierenden Kamera ausgeschnittene Wirklichkeitsfeld geht nicht von kompositorischen Bildordnungen aus; sie baut nicht ein Bild unter den Gesetzen der optimalen Wirkungsbalance, sondern läßt den Bildrand als willkürliche Begrenzung deutlich werden. Das Bild könnte sich ebenso gut nach links und rechts, oben und unten fortsetzen.

[Abb. Franz GERTSCH „Medici“ (1971)]

Am Beispiel Medici wird die spezifische Leistung der Fotografie, aus einem Bewegungsablauf einen sehr begrenzten Moment herauszuheben, reflektiert. Die Abgebildeten werden in einem Moment fixiert, der vom natürlichen Auge nicht fixierbar ist.

[Abb. Gustave COURBET beim Malen an der Staffelei]

Bei einem vergleichbaren Fixieren von personalem Ausdruck anhand der Mimik, wie sie in der Portraitmalerei vorkommt, wird der mimetische Ausdruck nicht als bloße Zufälligkeit eines Moments gewertet, sondern etwa als für die Personen bezeichnend oder typisch.

Alle diese Bilder erschließen zusätzlich die Dimension von Zeit. Jeder kann umstandslos und beiläufig mit einer Kamera einen Blitzlichtschnappschuß herstellen. Für die Umsetzung eines Fotos in ein gemaltes Bild wird wenigstens einige Wochen Zeitaufwand benötigt. Diese Differenz von fotografischer und malerischer Bilderzeugung geht in alle Bilder der Neuen Realisten ein. Selbst im Detail verweist das Bild auf künstlerische Techniken der Bilderzeugung: fotografisches Blitzlicht auf Kleidung und Haaren wird mit dem malerischen 'Glanzlichteraufsetzen' gekoppelt.

[Abb. Robert COTTINGHAM „Roxy Arcade“]

Die Fotografie hat neue Gegenstandsebenen als abbildungswürdige erschlossen. Diese gemalten Bilder eignen sich solche fotografisch entdeckten Bildgegenstände an.

Bevor das Kameraauge sich auf alles ausrichtete, was in der Welt vorkommt, bestand eine weitgehende Hierarchie und Ordnung der Wirklichkeit des Abgebildeten für die Malerei.

[Abb. Wayne THIEBAUD „Girl in Blue Shoes“ (1968)]

An diesem Bild demonstriert sich die fotografisch ausgebildete Augenlinie; das sehende Objektiv befindet sich etwas oberhalb der Kniehöhe des sitzenden Mädchens.

Zugleich verweist die starke Blaustichigkeit der Schattenbildung auf eine Qualität der Farbfotografie speziell bestimmter amerikanischer Farbfilme.

Man kann sagen, daß der Maler durch das Kameraauge und die Eigenschaften der fotografischen Farbwiedergabe eine neue Wirklichkeitswahrnehmung angeboten bekam und sie in diesem Bild realisierte.

[Abb. zwei Nahaufnahmen von Hinterteilen; Chuck CLOSE „John“ (1971-72)]

Wesentlich für viele Arbeiten dieser Realisten ist, daß sie die Dimension des fotografischen blow up, der Vergrößerung, bewußt berücksichtigen. Die Möglichkeit zur beliebigen Dimensionierung eines fotografisch vermittelten Abgebildeten wird in die Malerei übertragen. Da der Betrachter die Distanz zum Bild nicht beliebig vergrößern kann, um das Bild wieder in der natürlichen Größe zu sehen er würde dann nämlich nichts Genaues mehr sehen können, zwingt dieses blow up-Verfahren den Betrachter zu einer größeren Gegenstandsnähe und damit zu einer neuen Konfrontation.

Ein Hinweis vielleicht noch auf die Gruppe der Plastiken.

[Abb. John DE ANDREA; Duane HANSON]

Selbst für diese Plastiken gilt noch der objektivierende mediale Gebrauch. Einen ablaufenden Prozeß in Segmente zu zerlegen und ein einzelnes Segment stehen zu lassen, unabhängig von der zeitlichen Dauer oder der Materialkonsistenz, wurde uns durch fotografische Techniken antrainiert. Das Stillhalten des betrachteten Gegenstands, der Eingriff in einen Prozeß durch zeitunabhängige Beschäftigung mit ihm und allen seinen unterschiedlichen Details ist die Voraussetzung für solche Plastik. Ein konkretes Geschehen in allen seinen Bestandteilen wird zur Permanenzszene, ein Prozeß zum Zustand eingefroren; nicht nur lebendige Organismen, sondern auch die Dingwelt ihrer Lebensumgebung werden stillgestellt.

Um die durch Foto und Film veränderten Wahrnehmungsformen darzustellen, wenden die Maler und Plastiker monatelange Arbeit auf.

Das ist notwendig, weil sich Aussagen über ein Medium nur in einem anderen Medium besonders eindeutig und nachdrücklich machen lassen. Die Aussagen über die von der Fotografie veränderten Wahrnehmungsformen hätten die Künstler eben nicht in Fotos machen können, weil der Unterschied durch tägliche Gewöhnung im Foto nicht mehr sichtbar geworden wäre. Objektivierender Gebrauch des Mediums trifft eine klare Unterscheidung zwischen dem abgebildeten Gegenstand und der Art, wie wir ihn wahrnehmen. Realistisch malen heißt nicht, malen, was man sieht, sondern im Bild zwischen dem abgebildeten Gegenstand und der Art unserer Wahrnehmung zu unterscheiden. Gerade dadurch dominiert in den Arbeiten der Realisten die Wirklichkeit des Abgebildeten.

2.6 Der Wirklichkeitsanspruch der Abbildung dominiert

Im Unterschied zu den Realisten, die im Bild das Abgebildete herausarbeiten, entwerfen Mythologen Bildwelten ihrer eigenen Vorstellungen. Früher sagte man, die Künstler schafften ihre eigene Welt, die Welt des schönen Scheins. Die Welt des schönen Scheins, das meint, ein Künstler konstruiert in Bildern und Objekten seine Vorstellung von der Welt.

Umfangreiche, einheitliche und geschlossene Bildwelten, von einzelnen Künstlern entworfen, nennen wir individuelle Mythologien (Harald SZEEMANN).

Solche individuellen Mythologien erheben Anspruch auf die Autonomie des Bildes d.h. die Selbständigkeit des Bildentwurfs gegenüber dem Abgebildeten. In inszenierten Bildwelten dominiert die Wirklichkeit der Abbildung.

Wir zitieren beispielhaft Joseph BEUYS. An seinem Werk erstaunt, daß es BEUYS in knapp zwei Jahrzehnten gelungen ist, eine außerordentlich geschlossene Bildwelt zu konstruieren, die es mit jenen mythologischen Bildwelten aufnehmen kann, wie sie in früheren Zeiten von Generationen in langen Traditionsketten geschaffen wurden.

[Abb. Joseph BEUYS (3 Installationsansichten)]

Die Teile dieser konstruierten Bildwelt werden durch die Eigenaktionen des Inszenators BEUYS miteinander verbunden. In früheren mythologischen Bildwelten wurde die Einheit durch den immer gleichförmigen und rituell festgelegten Gebrauch der Bilder bei religiösen Handlungen hergestellt. Die Eigenaktionen des Inszenators BEUYS leisten eine beständige Verwandlung der inszenierten Abbildwirklichkeit ineinander. So entsteht der Eindruck, als könne BEUYS jedes beliebige gefundene Material in seine Bildwelt einbeziehen. Auf dieses Einbeziehen durch Verwandlung verweisen auch die von BEUYS hauptsächlich verwendeten Materialien Fett, Wachs und Filz.

[Abb. Paul THEK (3 Fotos)]

In diesem als Bildwelt inszenierten Raum hat der Künstler seine individuelle Mythologie formuliert. Sie soll eine Aussage über den Zusammenhang der Welt, wie der Künstler sie sieht, sein. Seine Vorstellungswelt erscheint als Ansammlung von Symbolen des Todes, der Energieumwandlung und der beständigen Überführung von organischen in anorganische Gestalten. Der Künstler inszeniert den Raum tatsächlich als Lebensumgebung für sich selbst.

Das umfangreiche, durchgängige, geschlossene und einheitliche Erzeugen von Abbildwirklichkeit ist einer ganzen Reihe von heutigen Künstlern gelungen.

Unmittelbar an vorliegende kollektive Bildwelten knüpfen diese individuellen Mythologien an:

[Abb. Rituelle Kleidung der Priester und Schamanen, Zauberer: Nancy GRAVES]

[Abb. Kultische Instrumente und Fetische: Eva HESSE]

[Abb. Kultische Räume: Michael BUTHE]

[Abb. Kultische Sprache: CALZOLARI]

[Abb. Kultische Handlungen: James Lee BYARS]

Erinnern wir uns an die Aussagen über den Bilderkrieg, der noch heute anhält. Für die Bilderfreunde ist die Abbildung eine eigenständige Wirklichkeitsebene der einen Welt. Die Bilderfreunde inszenieren solche autonomen Bildwelten. Früher wurde Abbildwirklichkeit als "die eigene Welt des Künstlers" oder "Gegenwelt" oder "Scheinwelt" umschrieben. Gemeint war auch damals, daß ein Künstler seine gesamte Wirklichkeitswahrnehmung als ein System von Abbildungen aufbaut.

[Abb. Kaufhauskitsch]

Ein anderer Typus von inszenierten Bildwelten (in Form kollektiver Mythologien) wird heute auch von der Industrie entworfen und hergestellt.

Für eine Reihe solcher industriell hergestellten Bildwelten, wie Andenkenartikel und Wandschmuck, hat sich der Ausdruck 'Kitsch' eingebürgert. Kitsch ist eine inszenierte Bildwelt, die vorgibt, daß sich aus ihr eine Welterfahrung entnehmen läßt. Dem Besitzer von Kitschobjekten soll das Gefühl vermittelt werden, daß er mit dem Kitschobjekt ein Weltbild, das Bild einer heilen Welt erwirbt. Aber Kitschobjekte sind nur Versatzstücke für Weltbilder, da sie sich nur als autonome Bildentwürfe darstellen, also nur die Wirklichkeit des Abbilds zeigen.

[Abb. Kaufhauskitsch]

Natürlich gibt es auch in den inszenierten Abbildungen die Ebene des Abgebildeten. Für die Konstrukteure von Weltbildern als autonomen Wirklichkeiten erscheint die Wirklichkeit des Abgebildeten nur bruchstückhaft, vereinzelt, ohne sichtbaren Zusammenhang. Erst die Inszenierung von Bildwelten scheint für die Bildergläubigen solchen geschlossenen Zusammenhang zu ermöglichen. Die Totalität und Einheitlichkeit der inszenierten Weltbilder des Kitsch deckt die Wirklichkeit des Abgebildeten vollständig zu.

Jedes Bild besteht prinzipiell aus beiden Wirklichkeitsebenen. Der Wirklichkeit des Abgebildeten und der Wirklichkeit der Abbildung. In bisherigen Beispielen dominierte jeweils eine der beiden Wirklichkeitsebenen. Entweder die Wirklichkeit des Abgebildeten, wie im Realismus und der objektivierenden Fotografie, oder die Wirklichkeit der Abbildung, wie bei den individuellen Mythologien, beim Kitsch oder in der inszenierenden Fotografie. Wir kennen aber auch eine Reihe von Bildtypen, in denen die beiden Extreme ineinander überführt werden, wie bei der Science Fiction, in der Utopie oder beim Aktionismus.

Nicht alle Relationen von inszenierter Abbildwirklichkeit und Wirklichkeit eines Abgebildeten müssen in einem konstruierten Weltbild untergehen, z.B. nicht die Beziehung von Science Fiction zur Raumfahrt. Denn immer wieder wird Science Fiction als eine inszenierte Abbildwirklichkeit überführt in die zivilisatorisch/technisch objektivierte Wirklichkeit des Abgebildeten. Das zeigen diese Beispiele für die Voraussage einer künftigen Entwicklung im Bereich der Umwelt, Kultur, Mode und Raumfahrt.

[Abb. US-Rakete; Jules VERNE: zwei Illustrationen des 19. Jh.]

Was 1844 als eine vollkommen autonome Abbildwirklichkeit von Science Fiction-Autoren konstruiert wurde, ist 130 Jahre später in objektive Wirklichkeit der Raumfahrt überführt. Phantastische Bildinszenierungen von Science Fiction-Autoren werden im Laufe der Zeit nicht selten lesbar als objektivierte Konstruktionsanleitungen. Was einst nur den Wirklichkeitsanspruch einer inszenierten Abbildung haben konnte, wurde später überführt in die Wirklichkeit des Abgebildeten.

Auch Utopien sind Konstruktionen von Abbildwirklichkeit, aber im Unterschied zu Science Fiction entwickeln Utopien nicht nur Vorstellungen über technische Systeme, sondern inszenieren Weltentwürfe im Hinblick auf ganz konkrete Veränderungen unseres Lebens. Utopien wollen möglichst weitgehende Alternativen zu den gegebenen Lebensumständen bieten. [Abb. ARCHIGRAMM Design] Das Gegebene soll sich an dem möglichen ganz anderen orientieren. Beispielsweise: im Bereich der Utopie des Städtebaus können eben nicht nur phantastische Entwürfe technischer Konstruktionen angeboten werden, sondern es muß eine Gesamtheit gesellschaftlicher Lebensformen entwickelt werden. Wer so tut, als ob utopische Entwürfe bereits unmittelbar als Wirklichkeit des Abgebildeten verstanden werden könnten, verhält sich aktionistisch.

[Abb. zwei Fotos von Hermann NITSCH-Aktion]

Der Aktionismus von Aufklärungskampagnen oder in Lebensäußerungen von geschlossenen sozialen Gruppen beruft sich auf vorweggenommene Utopien. Aktionistische Aktionen wie z.B. die von NITSCH wollen die Utopie von der Wirklichkeitsebene der Abbildung auf die Wirklichkeitsebene des Abgebildeten herunterzwingen. Solche Aktionen haben ihren Sinn nur dann, wenn die Beteiligten so tun, als ob die neuen vorgestellten Formen der Lebensorganisation bereits als tatsächliche gegeben sind.

Kein Bild besteht aus nur einer Wirklichkeitsebene. In jedem Bild treten sowohl Abbild wie Abgebildetes als Ebene auf. Der spezielle Charakter des Bildes läßt sich aus der besonderen Betonung oder Dominanz einer Wirklichkeitsebene bestimmen.

[Abb. Stephen POSEN (zwei Bilder, u.a. mit Tüten)]

Hier wird in zwei Bildern eines Malers sichtbar, daß sich Künstler selber nicht festlegen auf ausschließlichen Gebrauch einer Bilderzeugungsweise. Im linken Bild dominiert die Wirklichkeit des Abgebildeten; das rechte setzt mediale Vermittlung inszenierend ein; in ihm herrscht die Wirklichkeitsebene der Abbildung vor, d.h. in diesem rechten Bild verselbständigt sich die mediale Vermittlung zur Bilderzeugung.

Wir haben bisher davon gesprochen, daß die Wirklichkeit des Abgebildeten und die Wirklichkeit der Abbildung als äußerste Extreme einander gegenüberstehen; etwa in Realismus und Kitsch, oder als inszenierende und objektivierende Fotografie; dann haben wir am Beispiel von Science Fiction und Raumfahrt, Utopie und Aktionismus auf die Überführbarkeit der beiden Wirklichkeitsebenen aufmerksam gemacht. Jetzt wollen wir auf eine weitere Beziehung zwischen Abbildung und Abgebildetem hinweisen: die Stellvertretung.

[Abb. Charles WILP-Werbung]

Beide Ebenen sollen gegeneinander bedingungslos austauschbar sein. Wobei nochmals betont wird, daß die beiden Wirklichkeitsebenen in keiner Weise miteinander gleich sind oder sich auch nur annähernd ähneln. Das Verwirrende und schwer Durchschaubare der Bildinszenierung durch die Werbung besteht darin, daß die Werbung vorgibt, daß das Produkt eine eigenständige Wirklichkeit darstelle. Das leistet sie eben nicht durch objektivierten Einsatz der vemittelnden Medien, wobei das Produkt tatsächlich so sichtbar würde, wie es seinem Wesen nach ist, sondern sie zwingt die Adressaten dazu, das inszenierte Bild an die Stelle des abgebildeten Gegenstands zu setzen.

[Abb. Charles WILP-Werbung]

In den Bildwelten der Werbung vertreten sich Abbildung und Abgebildetes gegenseitig.

Die Werbung inszeniert eine Bildwelt, die vollständig autonom ist. Jeder weiß, daß das von der Werbung inszenierte Bild eindeutig sich von den abgebildeten Produkten unterscheidet. Dennoch will aber Werbung ja eine Handlungsanleitung, eine Aufforderung zum Kaufen sein; es soll nicht die inszenierte Bildwelt gekauft werden, sondern das Produkt. Deshalb zielt die Werbung auf den Austausch der vollständig autonomen Bildwelt des schönen Scheins mit der ebenfalls selbständigen Wirklichkeit des Produkts.

[Abb. Zündholzschachtelaufkleber]

Ein ähnliches Austauschverhältnis von Abbildung und Abgebildetem liegt bei der gesellschaftlichen Ikonographie als Bildwelten von Uniformen, Fahnen, Briefmarken, Schachtelsignets, Banknoten, Firmen- und Markenzeichen, Verpackungen, Abzeichen usw. vor. Für die Unterscheidung der Wirklichkeitsebenen sind die gesellschaftlichen Ikonographien nicht Bedeutungsträger, sondern Stellvertreter der Wirklichkeit des Abgebildeten.

2.7 Identität und Nichtidentität von Abbildung und Abgebildetem

Solcher allgemeinen Bilderseligkeit tritt heute verstärkt eine Gruppe von Bilderfeinden gegenüber. Der Bilderkrieg nimmt an Entschiedenheit und Konsequenzen rapide zu. Abgesehen davon, daß heute jeden das permanente Bilderangebot zu ablehnenden Reaktionen reizt und viele Beteiligte einfach die Bilder nicht mehr sehen können, gehen die Bilderfeinde dazu über, die verbildlichte Welt vom Zauber des Scheins zu befreien. Das führt zu einer Art unblutigem Bildersturm, der aber methodisch geführt wird. Bilderfeinde wollen nicht mehr extreme Gegenübersetzung oder Überführung oder Stellvertretung von Abbildung und Abgebildetem, sondern sie wollen bewußt eine qualitativ andere Relation, nämlich die Identität bzw. Nichtidentität von Abbildung und Abgebildetem.

Für die bisher erörterten Bildwelten mußte der Betrachter selber weitgehend die Leistung der Reflexion, nämlich die Unterscheidung der Wirklichkeitsebenen erbringen.

Für jene Bilder, in denen Abbildung und Abgebildetes identisch bzw. in der Identität nichtidentisch sind, wird die Beziehung von Identität und Nichtidentität selber als Bildaussage genommen. Das Bild macht seine eigene Bedeutung zum Gegenstand. Im Bild und durch das Bild reflektiert der Bilderzeuger seinerseits das Verhältnis von Abbildung und Abgebildetem. Das Bild wird zum Erkenntnismittel für den Künstler.
Zunächst Beispiele für intentionale Identität als künstlerische Technik:

[Abb. Guiseppe PENONE (zwei Abb. von jeweils zwei Aufnahmen seines Gesichts mit unterschiedlicher Mimik)]

Wenn hier auf der Abbildebene eine jeweils veränderte Mundstellung sichtbar wird, korrespondiert ihr auf der Ebene des Abgebildeten die momentane Artikulation eines Namens. Erst in dieser Einheit von aktualem Verlauf und der Erzeugung des Bildes realisiert sich die künstlerische Hervorbringung.

[Abb. Klaus RINKE (zwei Videostills)]

Wenn hier Wasser ausgeschüttet wird, so wird der tatächliche Geschehensablauf als Wirklichkeit des Abgebildeten mit der der Abbildung identisch für genau den Moment, in welchem das tatsächliche Geschehen von den Beteiligten inszeniert wird. Das Wasserausschütten soll aber nicht zu einer inszenierten Wirklichkeitsebene werden, ihre Kläglichkeit läge ja auf der Hand.

Es ist leider schwierig, dieses Moment des Identischwerdens hier in Fotografien darzustellen, da ja nicht die Fotografie die künstlerische Hervorbringung als Bild darstellt, sondern die im Prozeß hergestellte Identität der Wirklichkeitsebenen. Fotografien von solchen Prozessen stehen zu den tatsächlichen Ereignissen etwa in dem Verhältnis wie Notenschrift zur hörbaren Musik oder im Verhältnis von Tatortfotografien zur kriminalistischen Tatrekonstruktion.

[Abb. Jan DIBBETS (3 Fotos vom Meer)]

Die hier gezeigte fotographisch mediale Vermittlung des tatsächlichen Geschehens ist nur eine Vergegenständlichung der Identität von Abbildung und Abgebildetem, wie sie in dem aktualen Verlauf erzeugt wird. Die Bilder müssen deshalb möglichst ausführliche Phasenabläufe aus dem Ereignis reproduzieren; sie müssen Sequenzen bilden, bei deren Betrachtung der Adressat auf die zugrundeliegende Identitätsbildung verwiesen werden kann.

[Abb.: Vito ACCONCI (3 Fotos mit verbundenen Augen]

Die Aussage über die Identitätsbeziehung von Abbildung und Abgebildetem muß gleichsam indirekt erschlossen werden, wie an diesem Beispiel: Mit verbundenen Augen soll ein in unregelmäßigen Zeitabständen und in unterschiedlichen Höhen zugeworfener Ball gefangen werden.

[Abb. Vito ACCONCI (Foto von Person im Schneidersitz)]

Deutlicher wird die angestrebte und gewollte Identität, wenn sich die Künstler selber zu Momenten des Bildes machen. Sie sind dann selber Mittel und Zweck der ereignishaften Bilderzeugung. Ein Biß in die eigene Haut in den unterschiedlichen Phasen der Normalisierung der Druckstellen benutzt den Schmerz als Stimulans erhöhter Wahrnehmung.

Solche Operationen mit dem eigenen Gesicht vergegenständlichen das handelnde Subjekt, so daß es zu sich selbst eine Beziehung aufnehmen kann; eine Beziehung nicht zu einem dritten und fremden Objekt, sondern zu sich selbst in der Einheit und ldentität von Subjekt und Objekt.

[Abb. mimetische Transformationen von ACCONCI: Lachen-Weinen (3 Fotos) und 3 Videostills von Körpern in Bewegung]

So werden realzeitliche Ereignisse und ihre Vergegenständlichung im Erfahrungsprozeß identisch.

Vielleicht sind diese Aussagen eindeutiger, wenn man auf das Beispiel Theater verweist. Auf der Bühne findet als das Stück selber ein Zeltaufbau und -abbau statt; das Stück dauert genau so lange, wie auch außerhalb des Theaters ein Zeltauf- und -abbau dauert.

[Abb. Foto von GILBERT & GEORGE]

Diese beiden Gentlemen aus England inszenieren sich zu lebenden Bildern, wodurch sie zugleich die Beziehungsform zweier Personen in einem bestimmten Moment ihres Kontaktes objektivieren. Sie haben es zu einer solchen Perfektion gebracht, daß sie sich selbst in der Einheit von Rolle und Dasein zugleich als unbelebte Skulpturen und lebendige Organismen sehen können. Sie sind singende Skulpturen, wie sie sagen. Der skulpturierte Stein beginnt zu singen. Die Materie handelt als Subjekt, und der belebte Organismus versteinert; er gewinnt die Qualität des zeitlosen, reaktionslosen, toten Materials. Lebensäußerung des Organismus und Dasein der Materie werden identisch.

In allen diesen Fällen wird die Identität von Prozeß und Zustand, von Handlung und Erfahrung erzeugt durch Arbeit, d.h. die Körperbewegung, Händereiben, Grimassieren, Operationen im Raum, Objektbelebung werden als Automatismen vorgeführt. Sie sollen aus ihrem Bezug zur Umwelt herausgebrochen werden durch Isolation, ganz so wie im Arbeitsprozeß am Fließband von einem Arbeiter zusammenhanglose Handlungsabläufe vollzogen werden.

Was so von Künstlern durch die intendierte Identität von Abbild und Abgebildetem bewußt erarbeitet wird, indem die Prozesse aus ihrer alltäglichen Zweckausrichtung ausgestanzt werden, ist von der erzwungenen Identität in der Malerei von Geisteskranken oder Kindern zu unterscheiden:

Bei Geisteskranken ist das Vollziehen der Identität von angeborenen und anerzogenen Handlungsschablonen bloße Leerformel, da bei ihnen ein Teil der Fähigkeit zur Wirklichkeitsdifferenzierung durch Krankheit verlorengegangen zu sein scheint, wodurch Identität von Abbildung und Abgebildetem erzwungen wird.

[Abb. Adolf WÖLFLI (zwei Gemälde)]

Dieser Maler sieht sich selbst zugleich als Opfer und als Täter, indem er malend sich seiner Vergangenheit konfrontiert. Er hatte ein Verbrechen begangen.

Auch für Schizophrene ist dabei zu beachten, daß sie nach wie vor Realitätsebenen unterscheiden – Realitätsebenen ihrer eigenen Vorstellung –, aber eben nicht die entscheidende Differenz einer objektivierenden Wirklichkeit des Abgebildeten und deren notwendiger Relation zu Abbildsystemen.

[Abb. Objektgestaltungen von Geisteskranken: Schlüssel und Strümpfe]

Diese Schlüssel sind funktionsgerechte Schlüssel, aber auf der Wirklichkeitsebene der Vorstellung des Kranken. In seiner Welt haben diese Schlüssel genau den gleichen realitätsgerechten Stellenwert, wie richtige Schlüssel sie für uns haben; aber mit den für den Kranken realitätsgerechten Schlüsseln lassen sich nur seine vorgestellten Schlösser öffnen, nicht aber unsere.

Diese Strümpfe konstruierte eine Kranke als Voraussetzung für eine schnelle Fortbewegung von dem Ort ihrer Vorstellung. Die Vorstellung der schnelleren Bewegung durch die großen Strümpfe ist für sie ganz real. Ebenso wie für uns die Größe eines Autos als Hinweis auf seine Schnelligkeit verstanden wird.

[Abb. Heinrich Anton MÜLLER (Zeichnung eines Gesichts)]

Dieser Geisteskranke geht sogar sehr weitgehend objektivierend und analytisch vor: so zerlegt er die unterschiedlichlen Wahrnehmungsebenen eines Gesichts in Profil- und Seitenansicht. Er konstruiert Körper und Gesicht in Bewegung und wendet die Gewandausstülpung ganz im Sinne der Tradition der Malerei als Kennzeichnung der Bewegungsspur an.

Trotz dieser Innendifferenzierung bleibt für Geisteskranke das Zusammenfallen der objektiven Welt und der Vorstellung undurchbrechbar.

[Abb. zwei Kinderzeichnungen]

Auch in der Kindermalerei wird Identität erzwungen. Jedes von Kindern wie immer gebildete Abbildungssystem setzen sie mit dem Abgebildeten gleich.

Also dieses oder dieses Bild wird gleichermaßen für eine Objektivation von Haus gehalten. Für Kinder ist die Abbildung auch das Abgebildete. Kinder setzen so die fiktive Wirklichkeit der Abbildung, die sie ersinnen, als objektive Wirklichkeit des Abgebildeten, weil sie noch nicht gelernt haben, beide Ebenen zu unterscheiden oder in gewollter Weise ihre Identität auszubilden.

Wenn die 'naive Malerei' eines erwachsenen Malers aber die erzwungene Identität der Kindermalerei ihrerseits nachahmt, dann führt sie in diese Identität einen Unterschied ein. Es bleibt zwar bei dem erzwungenen Identischwerden von Abbildung und Abgebildetem, aber mit dem deutlichen Hinweis darauf, daß es sich dabei um erzwungene Identität handelt.

[Abb. Neil JENNEY (Gemälde aus der Serie „The Bad Years“ 1969-1970), Mädchen weint, weil die Puppe zerbrochen ist.]

Der naive Maler macht darauf aufmerksam, indem er kindliche Identitätserzeugung nachahmt. Die Kindermalerei eines erwachsenen Malers reflektiert auf die Nichtidentität von Abbildung und Abgebildetem in ihrer dennoch bestehenden Einheit.

Das ist ein schon sehr komplexer Vorgang, der bereits Erkenntnis hervorbringt. Alle höheren Systeme von Wirklichkeit unserer sozialen Welt können in Wissenschaft und Kunst nur durch erzeugte Nichtidentität erschlossen werden. Nichtidentität in der Identität herzustellen, ist ein Erkenntnisprozeß.

Zur Verdeutlichung zitieren wir zwei allgemein bekannte Künstler mit ihren Verfahren der Erzeugung von Nichtidentität.

"Das ist keine Pfeife" steht auf diesem Bild von MAGRITTE zu lesen, und doch ist eine Pfeife gemalt; aber das ist eben eine gemalte Pfeife und damit keine Pfeife.

[Abb. René MAGRITTE „La trahison des images“ (1929)]

Die Pfeife soll so bestimmt werden, daß in diesem Bild alle Wirklichkeitsebenen erfaßt werden können; dazu gehört eben auch, daß die Pfeife keine Pfeife ist.

Alle Wirklichkeitsebenen zugleich bestimmbar zu machen, setzt eine Sprache voraus. Die Nichtwortsprache des Bildes ist aber noch nicht soweit entwickelt, daß sie diese Leistung erbringen könnte. Deshalb greift die Mehrzahl der Künstler auf Wortsprache zurück, um ihre teilweise bildsprachlichen Formulierungen der Wirklichkeitsproblematik stützen zu können. Bei Bildern von MAGRITTE oder Surrealisten wie DALI kann diese wortsprachliche Äußerung auch als eine Literarisierung des Bildes, als eine Hinzufügung zum Bild erscheinen; sie muß nicht unbedingt auf dem Bild vergegenständlicht sein.

Daß diese bildlichen Darstellungen von Nichtidentität von einer leistungsfähigen Wortsprache abhängen, ist auch der Grund dafür, daß beispielsweise MAGRITTEsche oder surrealistische Bilder so gern mit Bildkommentaren und Titelerweiterungen versehen werden.

[Abb. Objekte von Claes OLDENBURG]

Ohne solche Kommentare kommt OLDENBURG aus, der allerdings auch jeweils nur ein Verfahren der Herstellung von Nichtidentität anwendet, z.B. die Transformierung von Materialqualitäten in Gestaltqualitäten und umgekehrt. Der Austausch von Gestalt und Material erzwingt die Reflexion auf die bestimmenden Größen einer konstruierten Bildwelt. Solche Verfahren der nichtidentischen Übertragung der quantitativen Entfaltung sind für Künstler und Wissenschaftler außerordentlich wichtig geworden.
Dafür einige Beispiele im Schnellstverfahren.

Physikalische Kernforschung ist auf Vergegenständlichung von Kernprozessen in Fotografien angewiesen. Fotoplatten werden dem Teilchenstrom ausgesetzt (realer Prozeß und Vergegenständlichung werden identisch). Aber darüber hinaus müssen die entstandenen Vergegenständlichungen mit Hilfe von Theorien und Methoden aus dieser bloßen Identität des Fotos mit dem Prozeß überführt werden in Nichtidentität der Erkenntnis.

[Abb. Gino DOMINICIS (3 Videostills eines Sprungs)]

Zwar können Menschen fliegen, aber eben doch nicht fliegen. Dieser Mann enthüllt uns solche Nichtidentität in seinem bis ans Lebensende andauernden Versuch, dennoch mit den Armen fliegen zu lernen.

[Abb. Giovanni ANSELMO (Portrait)]

Identität von Abbildung und Abgebildetem im Spiegelbild wird in dem Moment, wo man in den Spiegel schaut, hergestellt. Die Nichtidentität in dieser Identität erzeugt die Aufschrift rechts am Hals des sich Spiegelnden, die er in seinem Spiegelbild immer nur links sehen kann. Das Moment der Nichtidentität entsteht als Aussage: Niemand kann sich selbst so sehen, wie ihn andere sehen.

Augen sind ein Spiegelbild für jemanden, der einen anderen ansieht. Die aufgesetzten Haftschalen aus Einwegspiegelglas verweisen denjenigen, der einem anderen in die Augen sieht, auf sich selbst.

[Abb. Dan GRAHAM]

Zwei objektivierend eingesetzte Kameras werden als Wahrnehmungsorgane der beiden Männer anstelle ihrer Augen verwendet, während sie sich in entgegengesetzter Richtung umkreisen. Die Identität von Wahrnehmungsapparat und Wahrnehmendem wird in der Gegenläufigkeit der Bewegung und der Beziehung zweier gleicher Systeme aufeinander durchbrochen, wenn die dabei entstehenden Aufnahmen gleichzeitig über Monitoren als Bilder ablesbar werden. Das Moment der Nichtidentität entsteht in der Reflexion darauf, daß Kamera und Kameramann immer nur sich selbst sehen, wenn sie das vor ihnen ablaufende Geschehen aufnehmen.

[Abb. Marcus RAETZ]

Ein gefaltetes, geknautschtes, etwa 120 cm langes brettartiges Objekt, Kunstharz verstärkt, mündet an einem Ende wie selbstverständlich aus der Fältelung des Materials in den Schriftzug wir. Am anderen Ende entsteht aus dem Abschluß der Fältelung der Schriftzug ich. Aus der materialen Einheit des Objekts und seiner beiden Enden entspringt das Moment der Nichtidentität von ich und wir in ihrer Identität.

[Abb. Ben VAUTIER „Imaginez autre chose“, Siebdruck/Serigraphie (1980-1989)]

Eine exemplarische Differenz in der Einheit. Der Text lautet: "Stellen Sie sich etwas anderes vor"; etwas anderes als den Satz: stellen Sie sich etwas anderes vor. Die Aussage des Satzes trifft auf ihn selbst zu, er wird dadurch in sich selbst ein anderer.

Objekte werden benutzt. Nur während sie benutzt werden, sind sie als Objekte sichtbar; unbenutzt sind sie ein Haufen Material. Die Objekte legen eine bestimmte Benutzungsart durch ihre materiale Gestalt nahe, sind aber keine Instrumente, an denen bereits der Verwendungszweck deutlich sichtbar wäre. Der materiale Objektcharakter und der erst im Gebrauch der Objekte erzeugte Instrumentalcharakter ergeben einen Selbstunterschied der künstlerischen Arbeit.

[Abb. Sol LeWitt (3 Bilder von Kubus, Loch und Kubus im Loch)]

Der Kubus ist die materiale Erscheinung und der Träger der Attribute eines Kunstwerks. Der Kubus wird vergraben, das Werk zur Nichtidentität gezwungen in der Anstrengung des Künstlers. seine künstlerische Hervorbringung eben nicht bloß in der Materialgestalt des Werks identisch aufgehen zu lassen.

[Abb. Guiseppe PENONE (2 Fotos von seinen Baum- und Astskulpturen)]

Das ist eines der bedeutendsten Werke der Bilderfeinde in ihrer Kraft der Reflexion. Ein Baum wird zu einem Balken zurechtgesägt. Der Künstler schält aus dem Balken wieder den Baum heraus; denselben Baum zur Zeit seines Wachstums, als der Baum noch Jahre jünger war als der Balken. Wo Natur in Gestalt des Baumes bloß als vorgegebene Objektwelt behandelt wird, um sie in beliebige Abbildrealität des Balkens zu überführen und als solche zu gebrauchen, wird hier mit einem weiterführenden Schritt der menschlichen Weltaneignung durch Arbeit die Natur aus ihrer Identität von Baum und Balken in die Nichtidentität gerettet.

[Abb. Ben VAUTIER]

Beliebige Gegenstände werden vom Künstler nebeneinander in einer Art Lehrmittelschrank aufgereiht. Im Lehrmittelschrank einer Schule aber wird jedem Gegenstand ein Schild mit seinem Namen zugeordnet. Der Name steht für das Wesen des Gegenstandes. Der Name Generator z.B. ist für uns in der Alltagssprache identisch mit dem Gerät, das Strom erzeugt. Der Künstler zwingt uns, darüber nachzudenken, daß Name und Gegenstand in Wahrheit nicht identisch sind, sondern nur füreinander stehen. Er zeigt das, indem er in seinem Lehrmittelschrank uns vertrauten Gegenständen andere Namen gibt oder zu eindeutigen Namen uns unbekannte Gegenstände zuordnet.

[Abb. Edward KIENHOLZ „Five Car Stud“, Installation (1969–72)]

Autos stehen kreisförmig aufgereiht; ihre Scheinwerfer schneiden aus der Dunkelheit eine Szene, auf der sechs Männer einen Neger peinigen und kastrieren. Wäre die Darstellung identisch mit einem bestimmten Verbrechen von bestimmten Personen, dann hätte der Künstler die Täter nicht mit karikaturhaft verzerrten Masken versehen. Durch die Verwendung der Masken hat der Künstler die Möglichkeit zu zeigen, daß nicht sechs bestimmte Männer einen Neger überfallen, sondern daß jeder von uns gesellschaftliche Gewalt ausüben könnte. Nicht bestimmte Täter werden dargestellt, sondern die Gewalt gegen Menschen.

[Abb. Hanne DARBOVEN]

Reihungen von Daten werden durch ganz formale Rechenoperationen miteinander zu abstrakten Bildsystemen ausgeschrieben. Sie formieren Bilder, deren Inhalt ihr Zustandekommen ist.

Soweit handelt es sich nur um erzeugte Identität von Prozeß und Zustand. Da aber das ausgeschriebene Blatt als abhebbares Resultat des gestischen Artikulationsprozesses von Künstlern verstanden wird, werden Zustand und Prozeß in ihrer Einheit dennoch unterscheidbar.

2.8 Summierung

Nach dieser Darstellung aus unterschiedlichen Beispielsfeldern sollen in einem Beispielsbereich nochmals die drei Wirklichkeitsfelder resümiert werden. Wir wählen dazu Titelbilder der Zeitschrift SPIEGEL.

[Abb. SPIEGEL-Titelbilder]

Da Künstler heute nicht mehr das Monopol auf die Bilderzeugung besitzen, was jahrhundertelang der Fall war, bietet der SPIEGEL ein gutes Beispiel. Denn es ist berechtigt anzunehmen, daß Spiegeltitelbilder unter Berücksichtigung aller überhaupt kalkulierbaren Faktoren hergestellt werden. Die obere Reihe zeigt Titelbilder, deren vorherrschende Wirklichkeitsebene das Abgebildete ist. Die mittlere Reihe kennzeichnet die Dominanz der Wirklichkeit der Abbildung. In der unteren Reihe stehen Titelbilder, deren wesentliche Kennzeichnung aus der Erzeugung von Nichtidentität in der Identität von Abbild und Abgebildetem ist. Untersucht man die drei Bildcharaktere, dann stellt sich auch hier die erreichte Nichtidentität als leistungsfähigste Aussageweise heraus. Ihr kommt der Charakter von tatsächlicher Erkenntnis zu.
Nichtidentität und also Erkenntnis hervorzubringen, ist ein schwieriges Unterfangen, dem Künstler mit ihren noch weitgehend unausgebildeten Bildsprachen kaum gewachsen sein können. Sie versuchen es immerhin, unter Zuhilfenahme der langen Tradition philosophischen Denkens; sie versuchen, die Bilderkulisse zu verlassen mit Hilfe der zahlreichen Methodiken der empirischen Wissenschaften.

Ob sie allerdings ihr Ziel als Künstler erreichen können und nicht doch eben Philosophen und Wissenschaftler werden müssen, ist zumindest fraglich.

Das hängt auch von unserer aller Beteiligung und Stellungnahme in dem kommenden Bilderkrieg ab. Für diesen Bilderkrieg gibt es keine Genfer Konvention der Kunst, keine Flucht in künstlerische Eigengesetzlichkeiten. Denn dieser kommende Bilderkrieg ist wie die bereits historischen Bilderkriege keine ausschließliche Angelegenheit der Kunst, sondern eine Frage nach der Konstruktion der Wirklichkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft.

Immerhin geben die Künstler ein Beispiel. das wir mit großer Aufmerksamkeit studieren müssen, denn im kommenden Bilderkrieg gibt es keine Neutralen, aber eine Unzahl von Opfern: die Bildanalphabeten.

Die Bildbeispiele aus der heutigen Kunstpraxis sind im Katalog der documenta 5, Kassel 1972, dokumentiert.

siehe auch: