FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 27.12.1973
Was vor sich geht, ist schnell und ohne Aufregung dahergesagt: Bundesweit besteht die Tendenz, den Anteil der geisteswissenschaftlichen Fächer am Gesamtunterricht unserer Ausbildungsstätten zu reduziercn. Die löblicherweise unverblümten Begründungen für solche 'Umstrukturierung' mögen auf den ersten Blick ganz akzeptabel klingen: In den vergangenen 150 Jahren sei der soziale Fortschritt im wesentlichen von den Arbeitsresultaten der Naturwissenschaftler bestimmt gewesen. Das werde auch in Zukunft so sein, da sich die Probleme weltweiter Beförderung solcher Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen nur noch vergrößert hätten. Das bedeute, daß immer mehr Naturwissenschaftler ausgebildet werden müßten - was um so schneller zu erreichen sei, je weniger Schüler und Studenten der Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften ausgesetzt seien, da deren Arbeitsresultate dem sozialen Fortschritt eher im Wege stünden als ihn beförderten.
Wie gesagt, auf den ersten Blick scheinen das Argumente zu sein; darüber hinaus aber ist das ein schön gesetzter Haufen Stroh.
Fraglos haben die Naturwissenschaften und die Technik eine große Zahl von Arbeitsresultaten hervorgebracht. Den zitierten Aussagen fehlt jedoch das entscheidende Glied in der Argumentationskette: Auf welche Weise lassen sich die naturwissenschaftlichen Arbeitsresultate ins soziale Leben der Menschen einbringen bzw. wie wirken solche Resultate sich auf das soziale Leben aus? Es gibt ja wohl keine Theorie des sozialen Lebens, die von einer umstandslosen Überführung der Forschungsresultate ausgehen könnte, so als seien es die Menschen selber, die nach den ihnen wirklich undurchschaubaren, nicht beurteilbaren Forscherfunden griffen, um mit ihnen unmittelbar zu arbeiten.
1.1 Einfluß auf soziales Leben
Soziales Leben ist für jede der entwickelten Theorien weit mehr als die Summe der erarbeiteten Erkenntnisse von den Gesetzen der Natur und ihrer Anwendung. Denn die sozialen Sphären des Rechts, der Religion, der Kunst, der Verwaltung und Lebensorganisation, der Wert- und Zielvorstellungen, die allesamt einen entscheidcnden Einfluß auf das soziale Leben haben, sind beim besten Willen nicht aus der Erkenntnis der Natur zu begründen und also auch nicht aus der naturwissenschaftlichen Arbeit zu gewinnen. Was als Recht und Verwaltung, als Lebensorganisation und als Zielvorgabe das soziale Leben bestimmt, läßt sich aber ebenfalls nur wissenschaftlich ausmachen: eben als Wissenschaft vom sozialen Leben der Menschen. Das gerade wollen die Geisteswissenschaften leisten, woran nicht deshalb gezweifelt werden kann, weil 'Geisteswissenschaften' ein historischer Name ist.
Wenn scheinbar richtig vorgebracht wird, die Naturwissenschaften hätten den sozialen Fortschritt entscheidend befördert, dann ist das so lange eine unsinnige Aussage, als nicht gesagt wird, was sozialer Fortschritt denn sei. Die Naturwissenschaftler haben sich gehütet, das festzustellen, da sie wissen, daß sich solche Aussagen nicht aus ihren Arbeitsgegenständen gewinnen lassen. Das heißt für Naturwissenschaftler anderseits aber nicht, daß sie an der Frage des sozialen Fortschritts uninteressiert seien. Denn daß jemand Naturwissenschaftler sei, ist nur eine Bestimmung dessen, was sein Leben ausmacht. Auch ein Naturwissenschaftler ist ein soziales Subjekt, für das andere Bestimmungen gelten als für seinen Arbeitsgegenstand.
Nun könnte man die zitierten Scheinargumente auch anders verstehen. Dann wäre mit 'naturwissenschaftlich' nicht nur die Erforschung der Naturgesetze gemeint. Naturwissenschaftlich wären dann prinzipiell alle diejenigen Forschungen, deren Arbeitsresultate aus hypothetisch formulierten Vorhersagen und deren experimenteller Überprüfung bestünden. Bestätigt das Experiment die Vorhersagen über den Verlauf eines Ereignisses, dann sind die als Vorhersagen formulierten Erkenntnisse wissenschaftlich abgesichert und haben zu gelten. Wer von dieser Auffassung ausginge, würde damit behaupten, daß es keine Wissenschaft vom sozialen Leben der Menschen geben könne.
Da unser soziales Dasein nicht aus einer Reihe fein säuberlich ausgrenzbarer Einzelprobleme besteht, sondern aus einer äußerst vielfältigen, komplexen Verknüpfung solcher Problemfelder, sind auch bei rapide zunehmender Erkenntnis einzelner Problematiken keine 'naturwissenschaftlichen' Erkenntnisse aller Verknüpfungsverhältnisse erwartbar: dazu wäre es nämlich nötig, das gesamte soziale Leben als ein Experiment auf die Vorhersage zukünftiger Ereignisse anzulegen. Das soziale Leben der Menschen als Experiment unter Laborbedingungen auszulegen, muß ohne Erfolg bleiben, da das experimentelle Handeln selber Bestandteil des sozialen Lebens ist. Die Fragestellung jeder Wissenschaft muß lauten: Wie soll das soziale Leben der Menschen eingerichtet werden, wenn eben keine absolute und zugleich endliche Erkenntnis möglich ist? 'Absolut' meint die Erkenntnis dessen, was "die Welt im Innersten zusammenhält", die Weltformel; "absolut und endlich", das hieße: Menschen, die seIber Bestandteil der Welt sind, könnten das Ganze in ebenjener Weltformel erfassen.
Absolute und endliche Erkenntnis würde uns aller Probleme der Lebensbewältigung entheben, denn dann ließe sich die Entfaltung und beliebige Veränderung der Weltgründe gleichsam mechanistisch betreiben, vom Schaukelstuhl des Weltenschöpfers oder von der Zuschauerempore des Weltenstadions aus, von wo die Menschen nur noch dem Weltlauf, auch ihrem eigenen Leben, dann zuzuschauen brauchten, um ihn nach Lust und Laune mal so, mal anders zu 'führen'.
Absolute und zugleich endliche Erkenntnis ist nicht erreichbar. Diese Feststellung führt keineswegs zur Aufgabe der Wahrheit. Kant hat nachdrücklich darauf verwiesen, daß die Probleme unserer sozialen Existenz und unsere Bemühungen um Problembewältigung erst sinnvoll werden, wenn wir verstehen, daß nicht die absolute Erkenntnis Ziel des menschlichen Handelns sein kann, sondern daß die Unmöglichkeit der absoluten Erkenntnis das menschliche Handeln begründet. Man muß nicht Marxist sein, um zu verstehen, daß bei dieser Voraussetzung es nur eine Wissenschaft geben kann: die Wissenschaft von der Geschichte.
Die Geschichte der Menschheit ist der einzige wissenschaftlich zugängliche Bestand der Welt, über den wahre Aussagen gemacht werden können. Auch die Erkenntnis der Natur läßt sich nur auf deren geschichtliche Entfaltung ausrichten, nicht auf ihren absoluten Grund. Auch die Naturwissenschaft ist Bestandteil der Geschichte der Gattung. Wer, wie unsere Umstrukturierer, Menschen von der Geschichte abschneiden will, indem er verhindert, daß ihnen Geschichte noch konfrontierbar wird, der schneidet Menschen von der Wahrheit ab; beraubt sie prinzipiell ihrer Handlungsfähigkeit unter Bezug auf Wahrheit. Sinnvolles Handeln wird unmöglich.
Man tritt den Umstrukturieren sicherlich nicht zu nahe, wenn man behauptet, daß ihre Argumentation von nicht mehr haltbaren oder von noch nie haltbaren Modellvorstellungen des Weltlaufs ausgeht. Demnach sollte der Weltlauf eine geradlinige, eindimensionale Folge von Ereignissen sein, die, jeweils aufeinander bezogen, den Weg von Alpha nach Omega, vom Anfang zum feststehenden Ziel bezeichnen. Fortschritt wäre dann das Fortschreiten zu einem Ziel, das feststeht. Daß sich das Ziel hingegen infolge der jeweils zurückgelegten Wege verändern muß, wenn das Beschreiten des Weges nicht nur das formale Pflichtpensum, sondern der Inhalt des sozialen Daseins der Menschen sein soll, geht in diese Vorstellung nicht ein.
1.2 Fortschritt im Regreß
Der Fortschritt wird, wie heute bereits sichtbar, eher in einem gezielten Regreß, in einem bewußten Zurückbeugen liegen: Zurückbeugen auf die Möglichkeiten des wahren und sinnvollen Daseins, die im ersten oder zweiten oder dritten Durchlaufen der geschichtlichen Entfaltung der Gattung liegengeblieben sind und liegenbleiben mußten; Zurückbeugen auf das, was wir hinter uns lassen mußten, worauf wir verzichten mußten, um zunächst einmal das nackte Überleben zu sichern. Denn das bestimmt die Formen geschichtlichen Daseins, das ist in Geschichte aufbewahrt, was zwar wahr, aber nicht für uns wahr sein konnte ~ was zwar Möglichkeit zum Dasein ohne Schmerzen und Angst gewesen wäre, aber in den konkreten historischen Bedingungen des Gattungslebens nicht hat verwirklicht werden können.
Um solche geschichtliche, noch nicht entfaltete und verwirklichte Möglichkeit eines wahren und sinnvollen Daseins zu erschließen, bedarf es einer ungeheuren Ausweitung der Konfrontation mit Geschichte, nicht einer Einschränkung. Jetzt endlich wird wenigstens für einen Teil der Weltgesellschaft bereits die Möglichkeit sichtbar, ihre eigene Geschichte einzuholen, die eigene Geschichte ganz ins gegenwärtige Leben der Gattung zu retten und so die Chance zu vergrößern, daß mehr und mehr Menschen ihr konkretes Dasein in Übereinstimmung mit den Wesen der gesamten Gattung führen können.
Es ist immerhin schon viel, in der Bearbeitung der Geschichte zu erfahren, wie etwas geworden ist, was jetzt ist. Die Entdeckung der Bedeutung solchen Werdens ist eng verknüpft mit dem Aufstieg des Bürgertums zur führenden sozialen Klasse. Die großen Leistungen der bürgerlichen Geschichtswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert bestehen in einer solchen Erschließung des Zusammenhangs des Gewesenen mit dem Gegenwärtigen. Inzwischen aber ist über das Aufspüren der Wahrheit des tatsächlichen, verwirklichten Entwicklungswegs hinaus die Wahrheit der bloß möglichen Wege aufzuspüren und zu retten bzw. für die inhaltliche Erschließung möglicher Zukunft dcr Gattung zu nutzen. So ist unabdingbar, d!e Kenntnis der Geschichte der Gattung, in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsweisen zu vergrößern.
1.3 Alternativen des Handeins
Arbeit an der Geschichte heißt nicht, das Gewesene unter dem Gesichtspunkt des tatsächlich noch Gegenwärtigen zu sehen, sondern unter dem Aspekt des Möglichen, des Noch-nicht-und-dennoch-zu-Leistenden. Arbeit an der Geschichte heißt, das Gewesene als das andere, das Besondere und Unerfaßte wieder sichtbar zu machen, ja zu rekonstruieren.
Solche Rekonstruktion läßt sich nicht durchfUhren, wenn etwa die Sprachen geschichtlicher Gesellschaften nicht mehr zur VerfUgung stehen: das gilt für das Griechische so gut wie fürs Lateinische, Gotische, Alt- und Mittelhochdeutsche. Wer etwa glaubt, das Studium dieser Sprachen durch eine allgemeine Theorie der Sprachen ersetzen und deshalb Linguistik als Lehrfach an die Stelle der Germanistik oder Altphilologie befördern zu können, gibt damit von vornherein zu erkennen, daß es ihm in Wahrheit um die Liquidierung der Geschichte geht, und das heißt um die Reduktion der Handlungsfähigkeit der Menschen. Dabei ist solcher Versuch verständlich: die andauernde Zumutung der historischen Differenz, die unabweisliche Forderung des Möglichen gegenüber dem bloß Tatsächlichen, sind schwer zu ertragen, weil sie als leistungsfähiges Korrektiv benutzt werden könnten. Erst aus der Erzwingung der historischen Differenz ergeben sich nämlich Alternativen des Handelns, und vorhandene, begründbare Alternativen gefährden den Durchsetzungsanspruch von Handlungen, die sich gerne als unumstößlich, als notwendig darstellen.
Aus der Angst vor der Bedrohung des Durchsetzungsanspruchs scheinen auch unsere 'Umstrukturierer' zu handeln: wobei sie uns immerhin ein Angebot zur Güte machen. Wenn schon der Anspruch auf die historische Differenz und das Besondere, Andere nicht völlig aufgegeben werden kann, dann - bitte schön - wäre es doch eigentlich ausreichend, die Geschichte auf den Zeitraum von 1789 bis heute zu beschränken, zumal für die Erschließung dieses Zeitraums keine 'toten' Sprachen bcnötigt würden. Zudem ließe sich dieser Ausschnitt aus der Geschichte auch tatsächlich unter den Unterrichtsbedingungen an unseren Ausbildungsstätten bewältigen.
Nun, die Unfahigkeit, den Unterricht besser zu organisieren, kann nicht als Begründung dafür herhalten, Geschichtsunterricht könne nicht mehr gelehrt werden oder nur noch als Vorspiel zur Feier des Gegenwärtigen. Die Geschichte von Amts wegen auf einen bloß formal festgelegten Zeithorizont einzugrenzen, hieße gerade auf das verzichten, was sie ist: nämlich keine Ansammlung der inzwischen unbrauchbaren, da historisch verbrauchten Daseinsformen der Gattung, sondern ein Reservoir nicht verwirklichter Möglichkeiten. Geradezu grotesk wird diese Vorstellung der ßeschränkung aus schlechtverstandenem Interesse, wenn Kunstunterricht als Kunstgeschichte, Ästhetik und Theorie der Objektivation des Gattungslebens eingeschränkt wird auf die 'Kunst der Moderne' oder wenn der Kunstunterricht ersetzt werden soll durch das Lehrfach 'Kreativität'. Für wie idiotisch und selbstvergessen werden da selbst Schüler gehalten, daß sie etwa beim Gang durch eine Straße und in der Konfrontation mit einem Bauwerk sich zufriedengäben, wenn beispielsweise die Formation der Hausfront mit Säulen und Portikus durch Verweis auf die Baugeschichte seit 1780 abgetan würde! Und gar 'Kreativitätslehre' zum Nachfolgefach des Kunstuntcrrichts zu machen, zeigt totale Verkommenheit des Bewußtseins. Als sei Kunst bisher die fröhlichste Produktion von kreativem Vermögen gewesen und als sei kreatives Arbeiten abgelöst von den problembezogenen Arbeitsweisen lehrbar!
Nähme man solche Auffassungen als verbindlich, ließen sich aus ihnen nur eindeutige Schlußfolgerungen ableiten. Das Bürgertum hat bereits sämtliche Voraussetzungen seines eigenen Aufstiegs aufgegeben, die Marxsche Theorie der Verelendung hat sich auf ganz andere Weise mit Inhalten aufgefüllt. Wahrhaft verelendet sind die Menschen erst in einem total geschichtslosen Dasein, in der monadischen Reduktion aufs bloß Unmittelbare und in der Isolation gegenüber ihrer eigenen Genese wie gegenüber ihrer Zukunft.
Das scheint der gegenwärtige und sogar wünschbare Zustand der Individuen zu sein. Gewünscht bzw. befördert wird er durch die zitierten Umstrukturierer des Unterrichts, deren Handlungsweise beim besten Willen nicht als sozialistische Unterwanderung angeprangert werden kann. Denn für Sozialisten ist die Arbeit an der Geschichte der einzige und ausschließliche Weg zur sinnvollen Lösung der Probleme, die sich unserer Lebensbewältigung stellen. Wären die 'Umstrukturierer' Sozialisten, dann hätten sie nur den gegenteiligen Vorschlag zur Umstrukturierung machen können.
In diesem Fall ist ein Ausweichen auf Subversion nicht möglich. Das Bürgertum wird darüber nachzudenken haben, ob es am Ende unausweichlich sich selbst abschafft.