Sender Freies Berlin, Redaktion H. P. KRÜGER, 1968. Eine der Life-Sendungen, in der versucht werden sollte, den jeweiligen Autoren 'aus dem Stand' vor dem Mikrophon eine durchgängige Aussage zu dem ihnen gerade ,am wichtigsten erscheinenden Thema abzuverlangen. Vgl. zur Form die beiden analogen Modelle 'Wünsch' Dir was zum Ich' (in Band IV, Teil 4 A, 7) und 'Bazon Brock als Disc-Jockey' (in Band V, Teil 4, 4.3). Vgl. zur theoretischen Begründung dieses Konzepts den Abschnitt 'Was heißt Objektivität: (in diesem Band, Teil 1, 5.8)
9.1 Zustimmung als Aneignungstechnik
Meine Damen und Herren, ich habe vor, in einem meiner nächsten Stücke eine Art Materialisation der Bildvorstellung vorzunehmen, die über unserem heutigen Abend liegt, und zwar derart, daß über den Köpfen der Zuschauer in dem Theater eine 16 mal 32 große Illustrierte angebracht ist - die Längsachse ist in der Decke befestigt und der theatralische Akt, der Ausdruck des theatralischen Gestus, wird dann sein: das langsame und schneller werdende Herunterkippen der einzelnen Illustriertenseiten über die Köpfe der Zuschauer, wobei die Bewegung des Luftstroms den Atem des Tages ausdrücken wird, in dem die Theaterbesucher stehen.
Ich habe hier um mich herum inzwischen unauffällig einige Bundeswehrfähnriche verteilt, denn ich gedenke sehr wohl, das Studio als Kanzel zu benutzen. Die mir selbst auffallende Mühseligkeit, unser Thema in einem solchen Witz anzugehen, scheint mir aber durchaus objektiv zu sein und nicht beliebig. Die Auflösung oder Bewältigung von Realität im Witz, im Humorhaben ist uns offensichtlich nicht mehr gegeben, denn Humorhaben hieße ja, über sich selbst zu lachen, die Bedingungen seiner eigenen Existenz zurückzunehmen, ja aufheben zu können. Und gerade das ist uns unmöglich, da wir ja immer noch bemüht sind, auch nur ein ganz winziges kleines Häufchen Identität zusammenzukratzen, auf dem wir unseren Ort in diesem Leben finden können. Die Fähigkeit, durch Humor Distanz zu schaffen, ist durchaus gruppenspezifisch, d.h. sie ist eine Eigenschaft und eine Fähigkeit von Mitgliedern bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die es sich eben kraft ihrer Verfügung über Welt leisten können, die Bedingungen ihrer Existenz beliebig aufzuheben. Ich würde also heute in diesem Sinne etwa Gunther SACHS oder Herrn ABS als die Menschen bezeichnen, die Humor haben und uns das, wie wir wissen, ja auch manchmal zu verstehen geben.
Allgemein betrachtet geht es um die Frage der Distanzschaffung, der Bewältigung von Realität, und die Generalthesen der Kennzeichnung dieses Problems sind:
die Bewältigung der Realität durch Negation, durch Widerstandleisten; und:
die leider allzu wenig abgehandelten, fast gar nicht mehr bemerkten Techniken der Bewältigung der Realität, die wir als Affirmation kennzeichnen, als Bejahung, als Zuspruch im Gegensatz zur Negation, zum Abbau der Realität durch Widerspruch.
Ich möchte hier nur ganz kurze stichwortartige Andeutungen zu diesem Verständnis von Affirmation geben:
In einer gewissen Weise war die ästhetische Praxis, mit der ich mich zehn Jahre herumgeschlagen habe, noch ein Vorreiter der gesellschaftlichen Realität. Heute ist sie es weiß Gott nicht mehr, und die Künstler hinken hinter der gesellschaftlichen Realität in ihrer Sphäre der Produktion hinterher. Aber 1963 z.B. waren wir noch solche Vorreiter. Wir, das waren in diesem Falle BEUYS und VOSTELL und ich. Ich habe in Zusammenhang mit den beiden an einem Abend des 20. Juli einen deutschen Raum gebaut, in dem ich die Technik der Affirmation im Hinblick auf das uns damals schon gegenwärtige Problem 'SPRINGER' darstellen wollte. Ich sagte nicht: Springer, Sie haben unrecht/Springer, Sie sind unverantwortlich in Ihrem Vorgehen/Springer, Ihre Aussagen darüber, daß die Mauer weg müsse, sind läppisch; sondern ich sagte immer: mein Lieber, Sie haben recht, Sie haben so recht, daß wir dieser Ihrer Aufforderung entsprechen wollen: 'immer daran denken, jeden Augenblick gewärtig sein, daß die Mauer da ist'.
Also, was heißt das? Zeigen wir das! Ich habe an diesem Abend ein Zimmer gebaut, einen deutschen Raum mit Sessel und Tisch, mit Bild und Bett, mit Buch und Birne, und habe durch jedes Detail, durch jeden Sessel, durch jedes Stück Papier, durch jeden Apfel, durch jede Zigarette, durch jedes Bild, durch jedes Blatt, durch jede Schüssel, durch jede Gabel die Teilung gelegt, die Deutschland teilte, um immer daran zu denken, so daß, in vollster Bejahung, in realster Affirmation zu diesem Satz 'immer dran denken' das Leben schließlich unmöglich wurde, d.h. der mögliche Sinn des Satzes löste sich nicht durch Widerspruch auf, sondern durch die äußerste Zustimmung (in Band IV, Teil 5).
Ein zweites Beispiel schließlich, ein historisches: Es handelt sich um den berühmten Dr. ECK, der LUTHER auf dem Reichstag vernahm. Als LUTHER vor ihm erschien, präsentierte ECK ihm den ganzen. Katalog der LUTHERischen Forderungen als solche, die auch er selber, ECK, an die gesellschaftliche Realität seiner Zeit, vor allem an die Kirche zu stellen habe. Da ECK aber als Gegner LUTHERs auftrat, konnte LUTHER ja nicht recht haben, wenn ECK genau das forderte, was LUTHER seinerseits auch forderte (in diesem Band, Teil 4, 4).
Die Schwierigkeit bei der Anwendung dieser Strategie besteht darin, nicht genau unterscheiden zu können, wann man als Handelnder noch eine Situation bestimmt oder schon ihr Opfer ist. Insgesamt also geht es um das Thema Bewältigung, und zwar auf dem Wege der Aneignung, d.h. des aktiven Handelns und nicht des Erduldens, des Opferseins, des bloß im Zeitstrom Mitschwimmens. Und diese Aneignung wird uns nicht genügen, wenn wir sie, wie üblich, als vorgetäuschte anbieten, so, als ob dem Vorgang, den wir hier leisten, eine unveränderliche zielgerichtete Verhaltensweise zugrunde liegt. Denn in dem, was wir normalerweise in der ästhetischen Praxis produzieren, ist ja doch immer noch der Eindruck von dem möglichen Ganzen, von dem möglichen Zusammenhang, von dem möglichen durchgehenden Sinn enthalten. Und wie das produziert wird, soll sauber sein, es soll konstruiert sein, es soll als Tat gelten können, als künstlerische Leistung. Dieses Verfahren, jemandem etwas vor den Kopf zu donnern, in dem alles das auftritt, wonach er selber sucht, was eigentlich erst das Ziel seiner eigenen Arbeit sein kann, kennzeichnet meiner Ansicht nach die liberale Presse, die demzufolge auch keinerlei Hilfestellung und keinerlei Beistand bei der Arbeit der Reflexion heute mehr zu leisten vermag, denn sie liefert eben nur die fertigen Resultate, das Saubergezirkelte, das künstlerisch perfekt Hergestellte. Selbst diese Aneignungstechniken setzen aber in gewisser Weise eine Theorie der Abbildung von Realität voraus. Auch der Moment der quantitativen Entfaltung (Millionenauflagen der Presse) und ihres Umschlags in neue Qualität muß in der Theorie der Abbildung eine Entsprechung haben.
Der Realitätsausweis liegt meiner Ansicht nach in den Bruchstellen, in den Verkantungen, in dem, was schief geht, in dem, was nicht klappt, in dem, was umsonst ist und was vergeblich ist. Sie sehen, wie sehr heute Menschen sich freuen, wenn sie einen Fernsehansager stottern hören, wenn sie merken, daß er Fehler macht. Denn dann scheint ihnen die Bedingung der Produktion des Verstehens und dessen, was ihnen dort gezeigt wird, unter denselben Bedingungen zu stehen wie das, was sie selber erleben, das, was sie selber sind, worin es immer nur um Versagung, worin es immer nur um Stottern, um Fehlermachen usw. geht.
9.2 Partizipation als Zustimmungsform
Läßt sich etwas unter genau den Bedingungen produzieren, unter denen man das Produzierte rezipieren soll? Für den Verlauf einer solchen Sendung gäbe es z.B. die Möglichkeit zu simulieren, daß Sie jetzt einen Vortrag des Herrn Brock hören, den er dort und dort gerade vor seinen Studenten hält (Mikrophon live dabei). Oder: Brock spricht jetzt zu Ihnen über das Thema der Affirmation. Oder aber: Herr Brock befindet sich hier in unserem Studio und wir haben einfach die Mikrophone eingeschaltet, wir konditionieren sein Verhalten, indem wir ihm das Licht ausschalten oder ihn ohrfeigen oder ihm etwas zu essen geben, indem wir ihn zu Äußerungen zwingen, und Sie können dann über das Mikrophon alle Äußerungsformen des Mannes wahrnehmen und unter Umständen daraus bestimmte Schlußfolgerungen ziehen.
Im ersten Fall, meine Damen und Herren, kämen Sie aber gar nicht in dieser Sendung vor, und daß Sie sie hören, wäre vollkommen bedeutungslos für das, was gesagt wird. Im zweiten Falle wären Sie schon die Bedingung für das Zustandekommen der Sendung; das Thema ist dann nur eine Reflexion dieser Bedingung, denn schließlich muß man ja über etwas reden. Und im dritten Falle wären Sie ausschließlich die Bedingung der Sendung, auch in ihrem Entstehen, da alles, was aus dieser Sendung verstehbar wäre, ausschließlich durch Sie als Hörer selbst erst erscheinen kann. Sie würden durch Hören in diesem Fall erst die Sendung produzieren, die Sie nur vermeintlich eben schon aus dem Lautsprecher zu vernehmen glauben.
Das Verstehen als Vorgang des Hörens, das Aufnehmen und zur Kenntnis Nehmen nennen wir die Rezeption des Materials: Im ersten Falle sind Sie Zuschauer oder Zuhörer, wobei das Zuschauen oder Zuhören nichts und nicht einen Deut an dem vorliegenden Akt der Entfaltung des Materials ändern kann und auch nicht ändern möchte. Im zweiten Fall würden Sie zum Adressaten gemacht, auf den man sich auch beruft, der einen Teilbereich der Vorgänge durch sein Dabeisein repräsentiert. Im dritten Fall wären Sie Mitarbeiter, Mitspieler, Mitmacher, mit dem deutlichen Hinweis auf die Sentenz: mitgehangen, mitgefangen.
Ganz generell können wir Zuschauen, Bezeugen, Mitarbeiten und Hervorbringen als Formen der Teilnahme bezeichnen, als Partizipationsformen. Sie kennzeichnen die Art und Weise der Teilnahme an etwas, das sich ereignet und worüber sich eigentlich noch nichts sagen läßt, als daß es sich ereignet. Englisch ausgedrückt ergibt das den Wortlaut 'it's happening', und das wurde schließlich zum Begriff einer ganzen künstlerischen Praxis und Tätigkeit. Das, was sich da ereignet, passiert eben deshalb so und ist deshalb das, was passiert, weil Sie daran teilnehmen. Es wird sich anders ereignen, wenn Sie zuschauen, und es wird sich anders ereignen, wenn Sie zum Zeugen werden oder mitmachen oder gar selbst im Mittelpunkt sind.
Eine Party z.B. ist das Ereignis in dem Grade, in dem Sie und andere daran teilnehmen. Die Party kann ja objektiv als die Organisation von Salzstangen und Sekt nicht langweilig oder folgenschwer gewesen sein. Es ist die Form Ihrer Teilnahme, die die Party zu dem Ereignis macht, und daß Sie teilnehmen, ist dementsprechend das Ereignis, entsprechend der Wertigkeit also auch das gelungene oder mißlungene Ereignis.
Es gibt ja auch eine ganze Reihe von eindeutigen Nennungen, die solche Unterscheidung berücksichtigen, etwa zwischen Cocktailparty oder Tanzparty oder Inaugurationsparty. Diese Partizipationsformen halten wir leider immer noch für äußerlich, für bloß formal, für bloß aufgesetzt oder abgesprochen, für bloße Konvention. Wenn wir z.B. in eine Oper gehen, dann ist dieser vermeintlich formale Aspekt der Teilnahme ausgedrückt in der Art unserer Bekleidung (wahrscheinlich sonntäglich) und demzufolge auch in den Formen des Umgangs mit Mitbesuchern (wahrscheinlich in gedämpfter Gelöstheit und angespanntem Interesse). Indessen, was wir für äußerlich, für schlechtweg formal halten, ist durchaus bestimmend für den Ablauf der Sache und damit eben auch für die Sache selbst. Es ist für einen solchen Operngeher ausgeschlossen, daß z.B. die Sänger sich von der Bühne begäben und im Publikumssaal ihre gesungenen und gespielten Aktionen fortsetzten. Und genauso unmöglich ist es, der Erwartung nach, daß dieser Besucher seinerseits auf die Bühne klettert und sich mit hundert anderen mitten in das Geschehen hineinstellt, um ihm näher zu sein, um genau hinzusehen.
Ich habe selber in Hannover einen solchen Versuch gemacht. Ich habe ein Publikum, das etwa eine Hundertschaft stark war, in ein Bühnengeschehen hineingestellt. Das Publikum mußte jeweils auf die Bewegungen und angedeuteten Bewegungsverläufe der Schauspieler reagieren; es bildete damit räumlich die Negativform für Verläufe ab, die die Schauspieler als positive ausführten. Das entscheidende Moment liegt natürlich wiederum in der Form der Teilnahme und in deren Veränderung. Der Zuschauer wird dann nämlich vom Zuschauer zum Zeugen, der ganz bewußt und genau da ist, wo etwas passiert, und der den Vorgang schon im Hinblick auf seine Teilnahmeform modifiziert; nur dadurch wird er wirklich auch zum Zeugen. Vgl. ‚Solange ich hier bin, stirbt keiner‘ (in BAND IV, Teil 3)
In diese Malaise geraten ja alle Gerichtszeugen, die zumeist einen Vorgang gar nicht in der Partizipationsform Zeugenschaft erlebt haben, aber trotzdem hinterher so über ihn aussagen sollen. Teilnehmer an bewegten Demonstrationen bekunden, daß sie sich im Blickfeld der Fernsehkameras bei diesen Vorgängen ziemlich sicher fühlen. Sobald aber die Kameras jenen Teil der Demonstration nicht mehr registrieren, in dem sich die Demonstranten befinden, hätten sie Angst. Das ist früher nicht der Fall gewesen, als doch auch mittels Wochenschaukameras, mittels Fotoreport, mittels beschreibendem Wort die Sache vermittelt wurde. Die spezifische Art der Beteiligung von Zivilleuten am Geschehen ist vom Zuschauen eben zum Bezeugen geworden, und diese Tatsache verändert die sich ereignenden Vorgänge selber.
Wir wissen, daß heute ein großer Teil der ästhetischen Praxis aus der Form der Teilnahme lebt, und daß die Form der Teilnahme an dem Ereignis zum ausschließlichen sachbestimmenden Faktor wird. Ganze Stücke und Ereignisse werden aus der Form der Teilnahme, der Partizipation des Publikums gewonnen. Ja, wenn der betreffende Künstler die Form der Teilnahme des Publikums bestimmt hat, dann kann er das Ereignis oder Stück usw. mehr oder weniger mechanisch festlegen. Soweit Sie selber schon an solchen Ereignissen teilgenommen haben, werden Sie sich des Eindrucks erinnern, einer gewissen mechanischen, klischeehaften, starren und festgestellten Prozedur gefolgt zu sein, weil nämlich alles, was folgte, eben nur die Konsequenz aus der Festlegung der Teilnahmeform gewesen ist. Dieser Eindruck des Mechanischen und Prozedurhaften soll nun allerdings kein Kriterium mangelnder Qualität sein. Im Gegenteil, er kann eine Einsicht in das Entstehen der Sache vermitteln, und die Vermittlung dieser Einsicht ist ja doch in jedem Falle ein Kriterium für hohe Qualität des Vermittlungsprozesses. BRECHT hat doch in seinen Bemühungen um das Theater ausschließlich an diesem Moment der Einsicht in das Entstehen als Vermittlungsprozeß gearbeitet.
9.3 Verselbständigte Zustimmungsformen
Verstehen heißt: wissen, worum es geht, also: welche Interessen im Spiel sind. Verstehen kann nicht nur einfach klare Einsicht meinen; man kann sich nämlich sehr gut auch unverständlich ausdrücken, unklar, und die anderen wissen doch, worum es geht. In diesem Fall wird die Art der Teilnahme an einer Sache, die, wie wir sagen können, schon die Sache selber ist, durch das Interesse ausgedrückt. So kann ein Mensch allein durch unterschiedliche Interessen an einem Ereignis in der Form des Zuschauens partizipieren; für denselben Vorgang aber auch eine ganz andere Partizipationsform wählen. Das unterschiedliche Interesse verändert dann das Ereignis, weil es eben die Form unserer Teilnahme an dem Ereignis verändert. Die Art und Weise, wie die Teilnahmeform durch Interesse festgelegt wird, ist von der Ausbildung des Bezugsrahmens, eines Vorstellungshorizonts oder Reaktionsschemas abhängig.
Daß in diesem unseren Interesse sehr viele verschiedene Faktoren erscheinen, die etwa als kulturelle, psychische oder soziale das Leben der Betreffenden bestimmen, ist klar. Diese Faktoren sind auch zu berücksichtigen, etwa wenn man Menschen über Ereignisse urteilen hört, die erst durch ihre Teilnahme zu solchen wurden, ihnen aber wie objektiv vorgegebene erscheinen.
Was sich aber zunächst in einem bestimmten Bezugsrahmen als Besonderes, Spektakuläres anbietet, läßt sich in diesen vertrauten Bezugsrahmen nicht mehr zurückstoßen, wenn diese Besonderheit sich zum eigenständigen Bezugssystem verselbständigt hat. Beispiel:
Nur im Bezugsrahmen bürgerlicher Kunst gilt das Happening als etwas ganz Besonderes, etwas Spektakuläres, als revolutionierend usw. Als die beteiligten Künstler das Happening in den Bezugsrahmen der modernen ästhetischen Praxis zurücknehmen wollten, um Happenings 'verständlich' machen und gegenüber der gesellschaftlichen Rationalität vertreten zu können, war das nicht mehr möglich; das Happening wurde zur eigenständigen Aktionsform. Resultat: die Tatsache, daß was los ist, und wie toll da was los ist, wurde zum Kriterium in einem neuen Bezugsrahmen, der jetzt für alle Lebensbereiche galt: für jede kleine Party, für jedes Stolpern auf der Straße, für jeden Unglücksfall beim Verlassen des Omnibusses; alles schreit: ein Happening!
Das Mindestmaß der heute rezeptionsnotwendigen Reizdichte im Angebot an Information wird immer höher, wozu die ästhetische Praxis ihr Teil beigetragen hat. Jeder Lehrer weiß, daß er innerhalb der Lernsituation den Schülern bei weitem nicht. das mindestnotwendige Maß an Rezeptionsanreizen bieten kann, das ihnen schon ein normaler Bummel in der Geschäftsgroßstadt bietet. Das Resultat ist, daß die Schüler sich beim Lernen sterblich langweilen und das bißchen zu Lernende in der Unterbestimmtheit ihres Verhaltens und der Motivation untergeht.
Nun kann ja nicht bezweifelt werden, daß es sowohl Formen der Partizipation gibt, die durch Unterbestimmtheit, wie solche, die durch Überbestimmtheit der Situation gekennzeichnet sind. Der Wechsel in den Bestimmtheitsfaktoren, also in der Motivationsstruktur, in den Momenten einer Situation von Überbestimmtheit zu Unterbestimmtheit oder umgekehrt, lassen auch einen Wechsel der Partizipationsformen folgen und notwendig werden.
Zum Beispiel reden wir heute immer noch von Fußballzuschauern. Der Zuschauer, wie er eigentlich klassisch gemeint war, partizipierte aufs leichteste, unangestrengt, etwa im rechten Ausgleich zwischen Unter- und Überbestimmtheit und -motiviertheit seines Handelns, denn darin lag für ihn ja das Moment der Entspannung und demzufolge das der Erholung von dem ihn normalerweise in seinem Alltagsieben bestimmenden Unter- oder Überdruck und den Unter- oder Übermotiviertheiten des Handelns. Diesen Zuschauer gibt es bei uns bestenfalls noch im normalen Theaterbetrieb. Auf dem Fußballfeld, wo er unserer Redegewohnheit zufolge am häufigsten auftritt, findet man ihn kaum noch, und wenn, dann sind eben die Spiele langweilig und unbedeutend. Denn das Fußballspiel ereignet sich längst nur noch durch die Mitbeteiligung des sogenannten Zuschauers. Der Zuschauer ist eine Bedingung des Ereignisses, er ist Mitspieler, Mitmacher, und manche Mannschaft hat es schon ausdrücklich zu spüren bekommen, wenn die Zuschauer in den alten klassischen Kanon des Verhaltens zurückfielen, also wirkliche Zuschauer waren und nicht mitarbeiteten. Der Zuschauer ist da schon die Bedingung für das Zustandekommen des Spiels, und das Spiel selbst reflektiert bloß diese Bedingung. Die Spielbesucher wechselten längst die Partizipationsform Zuschauen gegen die Partizipation als Fan ein.
Ein anderes Beispiel, allen vertraut, immer in kritischer Absicht erwähnt: Die Tatsache, daß Vorkommnisse in unserem Leben in der Zeitung oder Zeitschrift abgebildet werden, ist häufig Bedingung und konstitutiv dafür, daß diese Ereignisse überhaupt entstehen und geschehen (Nachrichten werden gemacht). Dabei ist der Leser sowohl Mittäter als auch Mitmacher als auch Mitarbeiter, je nachdem, ob es sich um die Sphäre der Aktion in der Kriminalität, der Nachbarschaftlichkeit oder der Geschäftsführung handelt. Dieses Phänomen ist uns als Zeitungslesern und vor allem hier als BILD-Lesern gut bekannt, auch seine Umkehrung: Vor noch nicht langer Zeit wurde eine große fette Aufmacherüberschrift gebracht, in der es hieß: "Tausende zittern um Hans soundso", wobei der besagte Hans oder Franz die Figur aus einem fiktiven Fernsehspiel war. Die Verhaltensweise der Leser kennzeichnete den Realitätsgehalt der Fiktion.
Nach dem bekannten THOMAS-Axiom: Was Leute für real halten, das wird für sie dadurch real, daß sie sich in ihren Handlungen bestimmen lassen. So haben auch die wissenschaftliche Erkenntnis oder die ästhetische Praxis vor allem als gesellschaftliche Handlungsweise Bedeutsamkeit und weniger dadurch, was sie als wahr erkannt haben. Erkennen als Handlung, Kreativität als Tätigkeit, das ist entscheidend, das ist Praxis.
Der Schein erzwingt neue Realitäten, und das ist der entscheidende Moment, an dem das Prinzip der Affirmation ansetzt. Wir wissen, daß die dargestellten scheinhaften Momente als inhaltliche gehandhabt werden (etwa in der Reklame). Aus den Cargo-Bewegungen wissen wir außerdem, daß die Eisschränke oder Automobile in Reklame und Hollywoodfilmen den revolutionären Elan in der Dritten Welt erst konstituiert haben, und daß sie aus dieser Scheinwelt, die eben in der kulturkritischen Sprechweise als schlechtes Bewußtsein gewertet wird, das Bewußtsein ihrer realen Situation erlangen, nämlich dessen, wovon sie beraubt werden, dessen wovon sie ausgeschlossen sind. Indem die Scheinwelt als gewollte, mögliche und wünschbare gezeigt wird, entsteht der Zwang zur Realisation dieses Möglichen. In der höchsten Entfaltung des Scheins wird er somit zur Realität. Daß es dabei wirklich nur um Schein geht, mindert ja doch den Realitätsgehalt nicht herab.
Heute sind wir soweit, daß wir die Produktion von Schein vorantreiben müssen mit dem Hinweis darauf, daß auch der Schein Qualitäten der Kategorie von Realität haben kann. Die totalste Produktion von Schein ist die scheinbar identische Abbildung von Wirklichkeit, als Wiederholung des Primärprozesses, als Nachbildung von Realgeschehen. Das kann verbal, optisch, haptisch oder akustisch geschehen. Das Optimalmodell wäre, zur gleichen Zeit auf jedem Quadratmeter Erde einen Menschen aufzustellen, der mit Fotoapparat - und zur gleichen Zeit wie alle anderen - eine Abbildung der Primärstruktur geben würde, worüber eine geschlossene Rekonstruktion des Weltereignisses möglich wäre. Eine weitere Möglichkeit besteht in der sprachlichen Analogie zum Bild, in der sprachlichen Kennzeichnung der Nachbildung (z.B. Text unter einem Foto).
9.4 Sich identifizieren und etwas identifizieren - falsche Wahrheit und wahrer Schein
Wenn die Kulturkritik immer noch glaubt, der entfalteten Industriegesellschaft die Formen der Wahrheit abfragen zu können, so trennt sie den gesellschaftlichen Schein von seinen Bedingungen, die gar nicht die der Wahrheit sein können und auch nur ideologisch sein wollen; so wenig, wie auch der gesellschaftliche Schein als Kunstwerk noch länger befragbar ist auf die Formen der Wahrheit, die er verdrängt, vernichtet oder pervertiert hätte. Der Prozeß der Entfaltung der Industriegesellschaft, der Vergesellschaftung der Produktion ist zugleich der eines Übergangs von den Begründungen der Gesellschaft unter dem Aspekt des Ganzen (der aletheia und Wahrheit) zu einer Begründung unter dem Aspekt der instrumentalen Richtigkeit (der orthotes).
Tatsächlich funktionierte unser gesellschaftliches System bisher weitgehend unter dem Aspekt der Totalität. Max WEBER hat eine dieser Beziehungen im Verhältnis von Kapitalismus und Calvinismus eingehend untersucht. Die Macht der Religion auch im Hochkapitalismus resultierte daraus, daß diese Religionen es immer wieder verstanden, gegenüber der ökonomischen, wirtschaftlichen Realität den Einspruch oder die Bestätigung des Ganzen und Wahren geltend zu machen. Auch wenn sie diese Realität nur als gottgewollte beschreiben konnten, so lag darin doch zumindest eine Möglichkeit, sich an der Macht zu beteiligen, wenn sie deren äußerste Bestimmung als die der ganzen Schöpfung deuten konnten. Die Religion hielt quasi die Sperrminorität, die sie niemals zu gebrauchen hatte, weil sich jene Ökonomie nur zu gern als durch den Aspekt des Ganzen, durch die Kraft der Wahrheit getragen verstehen wollte. Darin lag ja die Garantie für die Fortdauer ihrer Macht, denn, wie sie glaubte, der Aspekt des Ganzen, die Kraft der Wahrheit, konnte sich ja nicht ändern. Wahrheit würde Wahrheit bleiben, und damit würde ihre Macht Macht bleiben.
Auf jeden Fall gibt es eine ebenso undialektische Durchsetzung des Gesellschaftlichen, des Scheins, gegen den Aspekt des Ganzen, der Wahrheit, wie es umgekehrt undialektisch eine Durchsetzung des Aspekts des Ganzen gegen den gesellschaftlichen gibt. Wenn diese undialektischen Durchsetzungen schon zum historischen Gesellschaftsprinzip geworden sind, daß Wahrheit und Schein nicht mehr aufeinander bezogen werden, dann wird sich auch bald die konkrete gesellschaftliche Realität dazu einstellen. Damit haben wir zu rechnen. Dagegen hilft es nicht, die Wahrheit als Methode zu retten oder aber die Totalität des Scheins als Wahrheit zu deklarieren. Dann wäre Wahrheit nicht mehr Wahrheit. Eine solche Totalität des wahren Scheins feiern heute bereits Wissenschaftler und Politiker im Begriff der Empirie.
Dieser historisch fortschreitende Prozeß aber ist abhängig vom Stand der Naturaufhebung durch die Produktion.
Mit dem Verschwinden der Natur verliert zugleich die Produktion wie die Kultur ihre repressive Kraft, die Wahrheit wird eben nicht mehr benötigt. In seiner extremsten Form stellt sich uns heute dieser Aspekt dar als die gesellschaftlich notwendige Aufhebung auch der eindeutigsten und humansten Determination des Menschen durch die Natur: in der notwendigen Abschaffung des Todes. Nur unter dem Primat des Ganzen, Wahren ließ sich die absterbende Individualität und Subjektivität ziemlich beruhigend vermitteln ins Fortleben der Gattung. Die Möglichkeit der atomaren Aufhebung der Gattung kennzeichnet dieses historische Moment konkreter gesellschaftlicher Arbeit, im durch die Abschaffung des Todes unsterblichen Individuum die intendierte Geschichte der Menschen sich erfüllen zu lassen und in nichts anderem.
Es erscheint mir möglich, davon zu sprechen, daß wir heute schon diesen Punkt erreicht haben, insofern als nur ihn zu erreichen uns noch übrigbleibt und insofern wir nur dann überleben, wenn wir ihn erreichen. Das Wissen um diese Notwendigkeit läßt uns handeln, als hätten wir diese totale Vergesellschaftung der Produktion schon erreicht, als lebten wir bereits in der Befriedung des Scheins, als seien wir endgültig aus dem Zwang der Natur, und das heißt aus der Wahrheit entlassen, als wäre unser Leben bereits eine lllustrierte.
Nun ist aber jede höhere Stufe gegen die niedrigere gerade in dem Maße eine Erweiterung, wie sie auch eine Privation ist, eine Einschränkung und eine Beraubung. Das, was dort jeweils auf diesen Entwicklungen auf höheren Stufen im Zwange der größer werdenden Reflexion abgeschnitten und beraubt wird, ist rechtens dasjenige, was wir in den Museen einlagern und dort im Bewußtsein seiner Abgeschnittenheit, seiner Beraubung ausstellen, damit wenigstens in einem unangemessenen Verhältnis wir uns dieser Verluste erinnern, die wir erleiden mußten, um zu überleben, um der einzig möglichen Entwicklung zu entsprechen, der zur vollständigen Aufhebung der Natur, auch unserer eigenen, in der Leistung der Kultur:
Insofern werden wir immer sofort und zugleich dessen beraubt. was gerade unser Leben auszumachen scheint, wenn wir es nicht als ein zukünftiges verstehen, das wir aber immer schon gelebt haben müssen. Darin liegt ein beunruhigender Gedanke, denn es ließe sich ja fragen, was denn eigentlich dann sich noch zu anderem entfalten soll, wenn die Vergesellschaftung der Produktion total geworden ist. Nach dem vollständigen Umschlag aller quantitativen Bestimmungen in qualitative, in die Totalwerdung der vergesellschafteten Produktion, werden wir nicht mehr das Bewußtsein der Beraubung haben, wir werden dann ja unser Glück nicht mehr als nur durch das Unglück und gegen das Unglück durchgesetzt verstehen und wir werden dann auch nicht mehr dagegen anfällig sein, Herrschaftsformen als notwendige hinzunehmen, bloß weil sie die wahren sind.
Es könnte immerhin sein, daß sich innerhalb dieser nicht mehr 'repressiven Wahrheit' noch einmal alle jene Formen des Lebens zum Erscheinen bringen werden, die nur unter dem Druck der Wahrheit entstanden sind, so wie auch innerhalb der dialektischen Philosophie sich noch einmal die Formen der Reflexionsphilosophie zum Erscheinen brachten, die ja gerade von dieser dialektischen aufgehoben werden sollten. Dann aber läßt sich sagen, daß wir im Glück auf jeden Fall nicht dümmer sein werden als im Unglück.
Natürlich hat das Neue, die höhere Stufe der Entwicklung nach einer Seite auch wieder jene Inhaltslosigkeit, die wir in der Überwindung der früheren Form gerade füllen wollten, eine Inhaltslosigkeit, die uns gerade veranlaßt hat, diesen früheren Zustand wegzuarbeiten. Was aber dieser neuen Stufe als neuer Inhalt zuwachsen und zugeführt werden kann, muß allein schon deshalb anderer Form sein, weil sich die Form des leeren Raumes geändert hat, so wie etwa die leere Leinwand, die darauf wartete, von einem REMBRANDT bemalt zu werden, weniger oder anders leer war als die leere Leinwand vor einem KANDINSKY oder POLLOCK.
Zu dem Bedenken vor dem Glück ist noch etwas zu sagen, etwas Entscheidendes:
Den Prozeß können wir als notwendigen in seinem Verlauf erkennen, aber wir wissen nicht, worin die Erkenntnis ihre optimale Auswirkung haben wird, ob uns überhaupt noch die Formen der Erkenntnis zur Verfügung bleiben werden, in denen wir jetzt diese Erkenntnis erarbeiten und kontrollieren.
Wie werden denn die neuen Basiswerte aussehen, wenn sich die Problematik erschöpft hat, wenn sich auch die Erkenntnis dieses Prozesses als historisch ablösbare anbietet? Werden auch dann wieder Bestimmtheitsformen sichtbar werden, die in sich den Verlauf der vergangenen Prozesse mittragen und nur aus diesen mitgeschleppten, abgestorbenen historischen Inhalten verständlich werden? Wenn das nicht mehr der Fall sein sollte, wird Erkenntnis der formalen dialektischen Struktur entraten können und sofort in einen freien Dialog Mündiger übergehen? Dann werden wir in der Lage sein, das verschwundene Geschichtliche, die Spur des vergangenen Lebens, überhaupt nicht mehr zu sehen, und vor allen Dingen: nicht sehen zu müssen.
Wird nicht vielmehr, ist aber der Einwand, das dumpfe Glück des endlichen Zustandes doch wieder nur dem des Todes gleichen, zwar erlöst zu sein, aber nicht als Mensch?
Oder anders gefragt: könnte nicht auch darin bloß wieder naturgeschichtliche Bestimmung stecken, was wir als die gesellschaftliche Arbeit der Subjekte zu leisten meinen?
Oder wiederum anders gefragt: die Regierung der Volksrepublik China hat verboten, die Musik BEETHOVENs aufzuführen, weil sie den Eindruck entstehen ließe, es herrsche die Liebe in der Welt. Wird, wenn die Liebe herrscht, noch jemand auf die Idee kommen können, BEETHOVENs Musik aufzuführen?
Oder wiederum anders gefragt: Werden wir es ertragen können, die gesamte Kultur hinter uns zu lassen, auf BEETHOVENs Musik zu verzichten, die Philosophie in eine vollständige Selbsterfüllung verschwinden zu sehen, den Schein sich entfalten zu lassen, die Wahrheit zu vernichten, die Künste nicht länger zu betreiben?
Aber sollten wir auf unserem Unglück bestehen, weil wir gerne BEETHOVENs Musik hören, weil uns die Wahrheit über den Schein geht, das Leben über die Illustrierte und wir gerne einen KANDINSKY an der Wand haben, nicht aber eine Fotografie: das hieße doch eben, die Formen des Geistes als unmittelbare der menschlichen Natur zu nehmen, wie Arme und Beine, und nicht als die seiner Arbeit gegen die Natur; und das hieße doch, die zufälligen Formen als notwendige nicht zu verstehen, sondern sich ihnen blindlings zu unterwerfen, weil es einem doch noch leichter erscheint, sich einem unbestimmten Schicksale zu überlassen als den erkannten Weg zu gehen, der unumgänglich ist.
Der unumgängliche Weg: Könnte es nicht sein, daß die Erfüllung des antizipierten Verlaufes gerade so gegen uns ausfällt, daß wir uns dann gar nicht von der Stelle bewegen würden, wenn wir uns als gesellschaftlich vermittelte Subjekte nicht mehr wiedererkennen, also nicht mehr im Gegensatz zur Wahrheit stehend, und wir uns nach Überwindung all der Mühsal nur wiederum in einem unqualifizierten Zustand befänden, auf den wir nicht besser präpariert sind als auf den jetzigen?
Zu also dieser Angst vorm Glück ließe sich der Beweis erbringen, daß sie nur Bestandteil der Herrschaft des Bestehenden ist, die sich um so gewichtiger zeigen kann, als sie bisherige Geschichte repräsentiert, also eine belegbare Spur, und es daher immer richtiger erscheint, für die zeitbestimmten Faktoren, für die vergänglichen Resultate Partei zu nehmen, gegen die zeitlose Gegenwart, gegen das große Zugleich aller Zeiten, gegen das Einschleifen der Differenzen.
Dennoch: es gibt eine solche Bestimmung, nicht als paragraphiertes Gesetz oder als Vorsehung oder als Gotteswille, sondern als die einzig mögliche Verfahrensweise, aus der Alternative Untergang oder Selbstaufhebung herauszukommen, aus der Alternative Wahrheit oder Schein, Realität oder Illustrierte. Diese Verfahrensweise ist in der dialektischen Struktur unserer gesellschaftlichen Aneignungsprozesse angelegt. Und wie man nach Amerika nur dadurch kam, daß man sich des abtrennenden, gerade die Ferne schaffenden Wassers bediente, so werden wir das endliche Glück als die Qualität jeder Identität von Nichtidentischem und Identischem nur erreichen, indem wir uns dessen bedienen, was uns jetzt noch von ihm trennt, nämlich des Unglücks, der Quantität disparater Momente, eben des Scheins, der Verkommenheit, der verkommenen Kultur, der abgewirtschafteten Wahrheit, der Illustrierten.
Daß Veränderungen sich nicht unmittelbar aus irgendwelchem Tun ergeben, heißt nicht, daß sich niemand direkt betroffen zu fühlen braucht, weil doch erst in der gesellschaftlichen Arbeit die Resultate verifizierbar seien und nicht mehr in den Leistungen der Einzelnen, in dem bloßen subjektiven voluntaristischen Moment, wie HABERMAS es etwa DUTSCHKE vorwirft.
Warum sollte sich der Einzelne dann, etwa der einzelne Künstler, der einzelne Student darum kümmern, daß er in seiner Arbeit als dem Ausdruck seiner selbst nichts mehr zustande bringen kann, wenn er doch voll der gesellschaftlichen Einsicht ist, daß der Prozeß nur mit sich selber identifizierbar ist, wie das die folgende Geschichte von Jack COW belegt?
Wer war Jack Cow? Er war der berüchtigtste, weil erfolgreichste Pirat des 17. Jahrhunderts auf beiden Meeren. Was wissen wir von ihm? Wir wissen von ihm, was der englische Kapitän Mac Orlan zu erzählen pflegte. Was pflegte er zu erzählen? Er pflegte überall in England zu erzählen, wie seine Corvette eines Tages von dem berüchtigtsten Piraten Jack Cow aufgebracht worden sei, Jack Cow sei mit seiner Crew an Deck geentert und habe die gefangene Besatzung an Deck sich aufstellen lassen. Er sei von Mann zu Mann gegangen, fragend: Wie heißt Du? Ich heiße Jim Smith aus Chicago, antwortete ein Befragter. Gut, sagte Jack Cow, ab ins Meer! Man warf Jim Smith ins Meer. So sei es Mann für Mann gegangen, bis die Reihe an Kapitän Mac Orlan gekommen sei. Der aber habe auf die Frage nach seinem Namen geantwortet: Ich heiße Jack Cow. Das Entsetzen, das von diesem Namen damals ausging, sei so groß gewesen, daß Jack Cow selbst in aller Eile das geenterte Schiff verlassen habe, um von nun an niemals wieder gesehen zu werden.
Wird diesem von uns konstatierten Prozeß und dem Schrecken, der vom Verschwinden der schöpferischen Kultur und dem Gleichgültigwerden der Wahrheit ausgeht, von der Aufrichtung des Scheins, genau das widerfahren, was dem schrecklichen Jack Cow widerfuhr? Wird er, einmal mit sich selber identifiziert, wozu wir hierdurch beitragen, alle Schrecken verlieren?
Die Identifizierung des Prozesses der totalen Vergesellschaftung der Produktion, der Vernichtung der Wahrheit, der Errichtung des Scheins, der notwendigen Tendenz unseres Umschlags aller quantitativen Bestimmungen in qualitative, wird von uns verlangt, diese Identifizierung müssen wir leisten, damit dieser Prozeß uns gegenüber seinen Schrecken verliert.