Unveröffentlichter Zeitungsessay aus dem Jahr 1975
Es würde sicher manchen Leser des Feuilletons befremden, neben der jüngsten Inszenierung des neuen Bond-Stückes die Feinheiten und den Einfallsreichtum der gestrigen Wirbelsäulenoperation unter der Regie von Herrn Prof. HOBNER kritisch gewürdigt zu sehen; oder nach der Kritik einer Ausstellung junger Maler des Rheinlandes über die generalstaatsanwaltliche Definition des Begriffs 'Gewalt', wie er in § 240 StGB vorkommt, zu lesen; oder nach dem Hinweis auf die Entdeckung eines Wunderkindes am Dirigentenpult die Besprechung der Lehrveranstaltungen eines Biochemiker-Teams geboten zu bekommen. Aufs äußerste befremden schließlich würde den Leser ein Photo, auf dem Herr Prof. Ernst STRELL wie Peter HANDKE tiefsinnig und burschikos geradeaus guckt. Nur: warum sollte die Konfrontation mit dem physiognomischen Ausdruck und der Lebensumgebung eines Menschen für den Leser aufschlußreich sein, wenn es sich bei dem Menschen um einen Dichter, nicht aber, wenn es sich um einen waschmittelerfindenden Professor handelt? Wahrscheinlich deshalb, weil wir immer noch einen zu eingeschränkten Kulturbegriff haben.
Wir genießen offenbar immer noch die zweifelhafte Unterscheidung von Kultur und Zivilisation. Wobei der Kultur die anspruchsvollen, aus ihm selbst begründbaren Hervorbringungen des Geistes zugerechnet werden, der Zivilisation die alltagsbrauchbaren Tüfteleien einer technisch-handwerklichen Intelligenz. So war es bisher üblich, zwar die große Oper, nicht aber den sozialen Wohnungsbau, den Roman, nicht aber einen Gesetzestext, ein Gemälde, nicht aber die Ferienphotos der Pauschaltouristen als kulturelle Phänomene kritisch zu würdigen.
Selbst da, wo Feuilletons und Fernsehmagazine langsam dazu übergehen, einige zivilisatorische Errungenschaften in den Kulturbegriff aufzunehmen, bleiben die Wissenschaften als Teil der Kultursphäre weitestgehend der Kritik enthoben. Ja, so erstaunlich es klingt, es gibt keine Wissenschaftskritik im Feuilleton.
Die Fachleute, vor allem die betroffenen Wissenschaftler, mögen das ganz in der Ordnung finden und sie werden darauf verweisen, daß man sich ja um Wissenschaftstheorie bemühe, die eine Wissenschaftskritik überflüssig mache.
Darauf kann man mit dem Hinweis antworten, daß es seit langem auch Kunst-, Literatur-, Musiktheorien gebe, die keineswegs das Bedürfnis nach Kunst-, Literatur-, Musikkritik zu befriedigen in der Lage seien. Umgekehrt hätten die alltäglich in den Feuilletons aller Zeitungen veröffentlichten Kritiken der künstlerischen Aktivitäten nicht die Aufgabe der Kunst-, Literatur-, Musiktheorien übernehmen können. Immerhin ist diese parallele Existenz von Kunsttheorien und Kunstkritiken bereits mehr als 200 Jahre alt.
Läßt sich das Verhältnis von Kunsttheorie und Kunstkritik auf das von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik übertragen? Was bedeuten würde, daß man über die bisher fehlende Wissenschaftskritik einige begründbare Vermutungen anstellen könnte.
Wissenschaftlich betriebene Kunsttheorien hat es zumindest seit PLATON gegeben. Eine Kunstkritik gibt es erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Entstehung der Kunstkritik war an den Aufstieg des Bürgertums zur mächtigsten geseIlschaftlichen Gruppe gebunden. Dieser Aufstieg manifestierte sich in der Begründung von gesellschaftlichen Institutionen, die den Zugang der Bürger zum kulturellen Leben auf neue Weise bzw. erstmals regulierten. Die wichtigsten dieser Institutionen sind für die Entstehungsländer der Kritik, Frankreich, England und Deutschland, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Einführung von Tageszeitungen und Magazinen, der Salon bzw. das öffentliche Lokal, die Formierung der neuen Interessenvertretungen und nicht zuletzt die Anfänge des organisierten Tourismus. Es klingt zwar leichtfertig, ist aber dennoch von einiger Richtigkeit zu sagen, daß die Leistungen dieser Institutionen darin bestanden, mehr Mitgliedern einer Gesellschaft einheitlichere und bessere Voraussetzungen für das Leben in ihr zu verschaffen. Die zunehmende soziale Dichte, das Leben von vielen in Gemeinschaft auf engem Raum verlangt bestimmte Fähigkeiten von den Einzelnen. Diese Fähigkeiten wurden pauschal, aber richtig mit dem Begriff 'Bildung haben' gekennzeichnet. Wobei in Frankreich und England besonders der Gesichtspunkt der Zivilisierung berücksichtigt wurde. Damit wurde gemeint, daß Bildung nicht nur Aspekte des Geisteslebens umfaßt, sondern auch die erlernbaren Techniken des sozialen Lebens. Dazu gehörte die Conduite, also das angemessene soziale Verhalten zwischen Anpassung und Sichdurchsetzen; dazu gehörte die Fertigkeit, sich in ungewohnten natürlichen und sozialen Umgebungen zurechtzufinden; dazu gehörte 'Liebesvermögen', d.h. die Kunst, neue soziale Bindungen von der Qualität unverbrüchlicher 'Freundschaften' einzugehen; dazu gehörte die Bereitschaft zum Raisonnieren, d.h. der Anspruch, die natürlichen und sozialen Prozesse selbst zu begreifen.
Vor allem der Anspruch auf Selbst-Begreifen und das heißt auch Selbst-Urteilen ist für das Entstehen der Kritiken von so großer Wichtigkeit, daß noch GOETHE ihm ausführliche Uberlegungen widmet, die zu seinen scharfsinnigsten und weitestreichenden überhaupt gehören. Bis auf den heutigen Tag sind diese Reflexionen anrüchig geblieben, weil GOETHE sie unter dem Begriff 'Dilettantismus' versammelt. Wer wollte sich schon gern als Dilettanten bezeichnet sehen, auch nicht dann, wenn GOETHE sich selbst als einen solchen Dilettanten empfand. Der Versuch, den urteilenden Zugriff des Laien auf die kulturellen Güter abzuwehren, indem man Dilettantismus als Schimpfwort verwendete, hatte offensichtlich so großen Erfolg, daß auch GOETHE dagegen nicht ankam.
GOETHE hat den Dilettantismus in einer bis heute nicht übertroffenen Konsequenz zum Schlüsselbegriff bürgerlicher Kultur gemacht, wobei er in einer völlig neuen Weise das Verhältnis des wünschenswerten Aneignungsverlangens der Laien zum notwendig professionellen Kulturschaffen bestimmte. Denn schließlich beschrieb er nur seine eigene Situation dem Problem gegenüber, wenn er die beiden Extreme, Akademismus und Volkskunst, d.h. Stubengelehrsamkeit und Do-it-yourself-Pathos, zurückwies und an ihre Stelle die funktionelle Leistung der Bildung für das Leben in der Gemeinschaft anerkannte. Die von GOETHE erstmals formulierte, heute erst wieder in ihrer Bedeutung ganz verstehbare Zielsetzung hieß: Persönlichkeitsbildung, Individuation, ist die unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit des Einzelnen, in einem sozialen Verband voll integriert zu leben.
Die Vermittlung des Widerspruchs von Professionalismus und Laientum gelang in der Etablierung der Kritik, vielmehr im Sichetablieren des Kritikers. Aus der Entstehungsgeschichte der Institution Kritik erklärt sich, daß schlechte Kritiker immer noch hin- und hergerissen werden zwischen Fachidiotie und Skrupellosigkeit des Laienurteils. Gute Kritiker sind bis auf den heutigen Tag eben jene GOETHEschen Dilettanten. D.h. sie repräsentieren und veranschaulichen die Einheit der Kultur in der Art und dem Maße, wie es ihnen gelingt, die Übereinstimmung der Individuen mit ihrem sozialen Dasein zu sehen. Solche Einheit nennen wir heute den Lebenszusammenhang. Er bleibt das Kriterium jeder Kritik, weil er die fachmännische Einzelleistung in ihrer Bedeutung für die Bürger beurteilbar werden läßt; für Bürger, die den kulturell-zivilisatorischen Prozessen gegenüber nicht mehr nur Publikum, sondern Betroffene sind. Und die Forderung nach Lebenszusammenhang liefert das Kriterium einer Kritik an dem Verlangen der Bürger, kulturell-zivilisatorische Hervorbringungen immer nur danach zu beurteilen, ob sie feststehende Erwartungen (Vorurteile) bestätigen oder nicht. Die Kunstkritiker vermitteln zwischen beiden Gruppen, ihre Urteile wirken regulierend auf das kulturell-zivilisatorische Leben zurück, wodurch die Kritik natürlich auch über die faktische Bedeutung hinaus ein hohes soziales Prestige bezieht. Andererseits resultiert daraus Kritik an der Kunstkritik, da eine Konfrontation von Profi und Laien nicht mehr unvermittelt stattfindet. Die Kritik wurde in ihrem Bereich Medium der Vermittlung wie das Geld auf der Ebene des Warentauschs, der ohne Vermittlung durch Geld auch nicht mehr möglich ist. Kritik und Geld sind als Vermittlungsmedien vor allem Transformatoren. Denn die Kritik verändert, transformiert das, was sie kritisiert, durch die Rückwirkung der Kritik auf Produzenten und Rezipienten. Sie schleppt nicht die festgelegten Traditionen von Verhaltens- und Handlungsweisen unverändert mit, sondern zielt immer erneut auf die Begründung von Traditionen, d.h. von Lebenszusammenhängen.
Hier liegt auch der entscheidende Unterschied von Kunsttheorie und Kunstkritik: wo Kunstkritik sich auf den faktischen Lebenszusammenhang bezieht, schafft die Kunsttheorie die Voraussetzung für das logische Begründen von Aussagen über die Kunst. und zwar so, daß diese Aussagen alle in einem Zusammenhang stehen. Wo Kunsttheorie nicht gelingt und wenn Kunsttheorie nicht gelingen kann, bleibt es bei der Kunstgeschichte, also der Sichtung von historischem Material und seines Zusammenhangs oder aber es bleibt bei der Wissenschaftstheorie, d.h. der logischen Begründung wissenschaftlichen Arbeitens, unabhängig davon, was der Gegenstand dieser Arbeit ist.
Daß es bis auf den heutigen Tag keine institutionalisierte Wissenschaftskritik im Feuilleton gibt, kann heißen: die Laien bedürften zur Bewältigung ihres Lebens in der Gesellschaft noch nicht des Urteils über die Hervorbringungen der Wissenschaften. Oder aber, die Durchsetzungsfähigkeit von Wissenschaftskritikern sei durch den Vorwurf des Dilettantismus immer noch stark beeinträchtigt. Sicherlich spielt es eine Rolle, daß die Wissenschaftler selber Wissenschaftskritik, wo sie sie als Postulat anerkennen, umstandslos mit der Forderung nach Didaktik bzw. populärwissenschaftlicher Vermittlung gleichsetzen. Das Argument, Wissenschaft sei im Unterschied zur Kunst prinzipiell nur fachmännischem Urteil zugänglich, ist in zweierlei Hinsicht nicht stichhaltig: erstens wurden lange Zeit dieselben Vorbehalte von Künstlern gegenüber der Kunstkritik vorgebracht, ohne daß sie sich durchsetzen konnten; zweitens wird das Laienpublikum in immer verstärktem Umfang mit der Wissenschaft konfrontiert, wenn kein kunststoffbeschichteter Kochtopf und kein bioaktives Waschmittel mehr ohne beigeheftete wissenschaftliche Verfahrensanalyse verkauft wird. Keine einkaufende Hausfrau kann zu Hause die Aussagen überprüfen, weshalb die beigefügte Verfahrensanalyse sinnlos ist.
Aber selbst dann, wenn man voraussetzt, daß der Hinweis auf die an der Produktion beteiligte Wissenschaft als Versicherung anerkannter Gültigkeit von Aussagen hingenommen werden könnte, bleibt das entscheidende, nur von Wissenschaftskritik bearbeitbare Problem. wie die vielen einzelnen, im Produkt manifesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengenommen wirken. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Frage nach den im einzelnen und in kleinen Mengen unschädlichen, aber zusammengenommen eben fragwürdigen Auswirkungen von schädlingsbekämpfenden und wachstumsförderndcn Mitteln.
Wissenschaftskritik wird heute selbst da abgewiesen, wo die Beteiligung des Laien eine Voraussetzung für den erfolgreichen Einsatz der Wissenschaft ist, nämlich im Bereich der Medizin. Der Patient ist im Regelfall Laie. Solange sein Laienurteil über seinen eigenen Zustand nicht berücksichtigt wird, muß jede Diagnose Einschränkungen erfahren. Wissenschaftskritik hätte in diesem Fall die zumeist von den Ärzten wegen ihrer Laienhaftigkeit abgewiesenen Zustandsbestimmungcn des Kranken zu vermitteln mit den Profiurteilen der Ärzte. Im allgemeinen ist heute in der Medizin nur das Geld als Medium der Kritik akzeptiert, etwa nach dem Kriterium: "Je teurer die Medizin und je höher die Bezahlung der Fachleute, desto effektiver sind beide,"
Wissenschaftskritik wird in einem dritten Beispielsbereich unabdingbar. Die Mehrzahl der durch Wahl legitimierten Entscheider im Bereich der Politik erkennt, daß ihre Legitimation nicht hinreichend ist und komplettiert sie durch bestelltes Expertenurteil. Die Expertenurteile aber bleiben für den Politiker inhaltlos, da ihm die Kriterien der Beurteilung von Expertenaussagen fehlen. Jedes Hearing und jede Expertenaussage vor Gericht bringt das an den Tag. Hier ist Forderung nach Wissenschaftskritik nicht Forderung nach weiterer Gewaltenteilung, wogegen sich die Wissenschaftler in der Befürchtung von Machtverlust wehren; vielmehr stellte eine leistungsfähige Wissenschaftskritik überhaupt erst die Voraussetzung für ein sinnvolles Wirken der Wissenschaften. Das sollten Wissenschaftler nicht nur anerkennen. wenn ihre Arbeit erst durch hohe Aufwendungen jener von ihnen als Laien nicht für voll genommenen Adressaten möglich wird. Sie müssen den Bezug auf die Lebenspraxis der Bürger als Regulativ der Wissenschaft vor allem anerkennen, wenn nicht mehr gleichmäßig jeder Anspruch auf Forschungsmittel erfüllt werden kann, wenn also vorab und zumeist unter Einfluß allerdings legitimer Interessen Prioritäten gesetzt werden müssen.
Etablierung der Wissenschaftskritik heißt die Durchsetzung des Dilettantismus im GOETHEschen Sinn auch gegenüber den Ansprüchen der Wissenschaft. GOETHE selbst war kein Wissenschaftskritiker, sondern Wissenschaftler. der zu seiner Zeit gescheitert ist. Dieses Scheitern der Naturwissenschaftler ist heute bereits mit anderen Augen zu sehcn; auf keinen Fall kann es die Richtigkeit seiner Forderung nach Durchsetzung des dilettantischen Standpunkts beeinträchtigen. Denn das Scheitern eines Wissenschaftlers ist eine Bestätigung der Wissenschaft und nicht eine Widerlegung. Das vorherrschende Wissenschaftsverständnis aber wird tatsächlich widerlegt. wenn es zum Ausschluß von Wissenschaftskritik führt. Die Verhinderung von Wissenschaftskritik würde bedeuten, daß Wissenschaft tatsächlich von anderen als wissenschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt ist.