Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 35 im Original

Band I.Teil 1.10 Der künstlerische Avantgardist als gesellschaftlicher Reaktionär

Antrittsrede vor der Hochschule für Bildende Künste, Hamburg, Oktober 1965. Am 4.4.1966 vom Süddeutschen Rundfunk gesendet. In Kurzform auch als Essay in der Kolumne „Bazon Brock. Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt“ (FILM, 12/1965–2/1966) und in CHRIST UND WELT, 1.11.1968. Vgl. auch die Replik „Der Künstler als Unding“ (in Band V, Teil 1, 2) und, in historisch-funktionaler Begründung, „Die Funktion der Kunst in der Gesellschaft von morgen“ (in Band II, Teil 1, 1.5)

Orianna FALLACI sagte: "Mrs. MANSFIELD, geben Sie zu, daß Sie einen akademischen Grad haben?" Mrs. MANSFIELD ist bestürzt, ratlos, den Tränen nahe. "Oh, no, sagen Sie das niemandem, schreiben Sie das nicht!" Ihr Mann, Mike MANSFIELD-HAGARTY, kommt hinzu. "Jane, mein Gott, was ist los, was haben sie Dir getan?" "Sie hat gesagt, ich sei eine intellektuelle Frau, sie wird das schreiben und mir schaden, sie wird meine Karriere ruinieren. Man wird mich nicht mehr lieben!"

Junge Menschen kamen, um ihrem zufälligen Leben die Weihe der Philosophie zu geben. Sie wollten es vertiefen. Sie boten sich den Philosophen an, aufs Wort zu gehorchen. Als sie aber hörten, wie BLOCH und ADORNO konzentriert über die Operette plauderten und über das zufällige Leben, als die so Allotria zu treiben schienen, verloren die jungen Menschen das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Philosophie als Siegel der Bedeutsamkeit dessen, was sie sich als Leben vorgenommen hatten. Sie wünschten sich ein nichtaffiziertes reines Bewußtsein, den Zuspruch von Nichtbetroffenen, die sie nötigen wollten, ihre Identität durchzuhalten.

Die in diesen beiden Beispielen erhellte Furcht, seine Identität nicht durchhalten zu können, quasi sein Markenzeichen zu verlieren, scheint einem kulturkritischen Theorem vom Untergang des Individuums beispringen zu wollen. Es hieße aber, dieses Theorem unkritisch zu benutzen, wollte man das in ihm Ausgesagte nur beklagen und nicht auch aus ihm verstehen, wie notwendig es ist, die objektive Unwahrheit von Subjektivität in einer entfalteten Industriegesellschaft anzunehmen. Und das nicht, um den Rückzug des 19. Jahrhunderts auf das bürgerlich autonome Subjekt rückgängig zu machen, sondern um gerade diesen Rückzug ausnutzen zu können. Denn nichts scheint heute solcher Subjektivität schwerer, als in ihrer angenommenen Wahrheit sich dem objektiven Schein verlorenen Lebens, des bürgerlichen, auszusetzen; denn diese Subjektivität spürt, wie sie bei einer solchen Konfrontation ihre Selbstaufhebung riskieren würde. Ist doch ihre Wahrheit nur angenommen, wie man Eigenarten, kennzeichnende Züge annimmt. Zwar gilt das Bekenntnis dieser Wahrheit auch heute noch als Symbol des sozialen Ranges, und die Religion vergesellschaftet diese Wahrheit im Glaubensbekenntnis. Doch das Bekenntnis ist erzwungen. Nun handelt es sich aber bei der bedrohten Identität der autonomen Subjekte nicht um gebildete, erarbeitete Identität des Nichtidentischen, sondern nur um die Identität des ohnehin schon mit sich selbst Identischen. Gerade aber darin, daß Subjektivität trotzig ihre Identität gegen den durchschauten Schein behaupten will, verliert sie sie auf die unglücklichste Weise: ihrer wie durch einen Dieb beraubt worden zu sein. Die Psychoanalyse lehrt, wie aus solchem Behauptungswillen Krankheiten entstehen. Das Fatale ist dann aber nicht nur die Krankheit des Individuums, sondern die Tatsache, daß sich im Gesellschaftlichen für dessen Reproduktionsprozesse merkwürdig rasch eine Rückimitation des individuellen Krankheitsbildes, d.h. seiner Außerungsformen einstellt. Das wird für das Individuum zu einem doppelten Unglück, denn das eingesehene Falsche gewinnt normative Kraft, weil das Individuum seinen Fall als den gesellschaftlich notwendigen mißverstehen kann.

Das scheint heute bestimmend zu sein für die Rezeption von ästhetischen Gegenständen: obwohl dem Einzelnen als falsch durchschaubar, gewinnen Kategorien der Ästhetik normative Kraft, weil sie gesellschaftliche zu sein scheinen. Aber leider nur eben die einer Gesellschaft, deren Leben das falsche und neurotische nur mit sich selbst identischer Subjekte ist. Die durchgehaltene Identität in der Leere der analytischen Urteile, etwa in dem Satz von Gertrude STEIN "eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" - solche durchgehaltene Identität zu knacken, die Gleichmacherei dem Ungleichen zu konfrontieren, den kleinen Unterschied hochleben zu lassen- gilt es.

Das gilt den Rezipienten von Kunstwerken, weil deren Produzenten, die Künstler, sich nicht zur Einhaltung ihrer Identität zwingen lassen wollen. Womit sie zugleich versuchen, das Publikum aus seiner unglücklichen Rolle, aus der Fixierung auf das, was ihm vorgesetzt wird, zu befreien. Die Künstler fordern, daß man ihren Gedanken nicht über den Weg traut, daß man sich hütet, den Tatbeständen Glauben zu schenken. Sie fordern auf, nicht dem objektiven Schein nobler Wissenschaftlichkeit und Kunstansprüche zu verfallen, sondern in sich den Gedanken ans immer Andere, ans Ausgelassene, ans Fremde zu mobilisieren - ja selbst, Ressentiments, private Interessen und Bedenken ins Spiel zu bringen. Denn das Interesse ist dem Erkennen notwendig, soweit das erste und zwingendste Interesse auf die Mündigkeit des Publikums ausgeht und man sich nicht der gegebenen Mündigkeit durch die Flucht in eine mittelalterliche Ontologie begeben will.

Solche Hinweise der Künstler liegen noch vor der zu entfaltenden Problematik von Moralität und Erkenntnis, vor der Ambivalenz von Erkenntnis und Interesse. Diese Hinweise sind ganz funktionell zu verstehen, fast behavioristisch, und wollen nur darauf aufmerksam machen, sich nicht als Objekt anzubieten, auch nicht als formales. Man weiß, daß das Publikum nur bereit ist, sich in einem Hörsaal, Theater oder Kino den trainierten Verhaltensweisen zu unterwerfen in der Art, wie es sich auf seinem Sitzplatz für die Dauer einer Veranstaltung festbinden läßt und wie es seinen gestischen Fundus einschränkt auf die Beantwortung von Appellen.

So gehen denn heute vielen künstlerischen Demonstrationen Ermunterungen wie die folgende voraus:
Nehmen Sie teil an unserem Gegentraining. Wechseln Sie Ihren Sitzplatz häufig. Bleiben Sie eine Weile stehen. Schalten Sie das Aufmerksamkeitszentrum durch Weghören, Rückwärtsschauen und Sichhinlegen ab. Versuchen Sie das, was Ihnen hier geboten wird, zu reproduzieren, indem Sie sich vorstellen, Sie wollten die Demonstration filmen. Im auferlegten Zwang zur Reproduktion von Geschehen, in der Notwendigkeit, dabei im Hinblick auf das filmische Medium ununterbrochen die Einstellungen zu wechseln, den Reproduktionsformen das Äußerste abzuverlangen, um den tödlichen Eindruck von Unmittelbarkeit zu vernichten - in dieser reproduzierenden Tätigkeit werden Sie vielleicht am ehesten in die Lage versetzt, Ihre Identität nicht einzuhalten. Sie werden Fremdem zu begegnen wissen, ohne ihm zu verfallen. Das schließlich sind Fähigkeiten, die jedermann heute schon abverlangt werden, wenn er auch nur Verkehrsteilnehmer sein will. Sollte es nicht billig sein, solche Fähigkeiten erst recht jedermann abzuverlangen, wenn er an weit differenzierteren Verkehrsformen der Gesellschaft, etwa an denen der Künste, teilnehmen will?

Um dem Publikum eine solche Möglichkeit des Gegentrainings zu erläutern, stellt der Künstler ein Foto von sich aufs Podium und begibt sich unters Publikum, um von dort seine Vorlesung fortzusetzen.
Die Geschichte des verfertigten Bildes ist im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit vor allem die Geschichte der Rezeption des Bildes. Die Kategorien der Konstituierung eines Bildes als Kunstwerk sind gesellschaftliche und damit eben die der Rezeption. Zwar werden diese Kategorien scheinbar stets von der Position des Künstlers her gefunden, ausformuliert aber werden sie von den Rezipienten, den Betrachtern. Mit der häufig zitierten Entwicklung der Künste - vom einzigartigen Anspruch des Künstlers, auf einmalige Weise sich und seinen Ausdruck im Kunstwerk zu identifizieren, bis zum materialgerechten Arbeiten im Sinne eines Fachmannes - mit dieser Entwicklung verlagert sich die Bestimmung des Kunstwerks von seinem Kunstanspruch zur Bestimmung von seiten seiner gesellschaftlichen Vermittlung. Wobei natürlich die Bestimmung des Kunstanspruchs auch in das Kategoriengefüge gesellschaftlicher Vermittlung aufgenommen werden kann. Das dürfte aber schwerfallen in einer Gesellschaft, die in ihrem Bewußtsein dem Stand ihrer Produktivkräfte hinterherhinkt.

Vorläufig darf der Betrachter für sich in Anspruch nehmen, ja, er muß für sich akzeptieren, zur Entfaltung des Werkcharakters eines Bildes zumindest genau so viel beizutragen, wie der Künstler zum Materialcharakter des Bildes beiträgt. Denn die Arbeit, die das gesellschaftliche Subjekt zur Reproduktion seines Lebens zu leisten hat, erstreckt sich auch auf die Künste, da sie nicht länger der notwendigen Reproduktion nur als Entlastungsmotiv dienen wollen oder zu dienen genötigt werden. Die künstlerische Produktion hat sich ganz unabweislich in die Reproduktionsformen des allgemeinen Lebens versenkt.
Es ist kaum mehr möglich, gesellschaftliche Arbeit und die der Künste gegeneinander verstellt zu sehen - es sei denn, in dem dialektischen Verstande, daß alles, was durcheinander vermittelt ist, auch noch die Spur eines vergangenen Kampfes beider Momente bewahrt. Die Spuren dieses früheren Kampfes der Herrschaftsansprüche von Gesellschaft und Künsten bewußt werden zu lassen und als Drohung zu tilgen, ist der mögliche Ansatz theoretischer Arbeit von heute. Denn beließe man es bei der bloßen Verdrängung der Spuren, fiele die Theorie dem Verdrängten anheim und würde ideologisch. Die Spuren der Gewalt als die Zeichen der geschichtlichen Positionen dürfen uns nicht davor zurückhalten, das Unterdrückte selber wieder erscheinen zu lassen. Nach HABERMAS ist das eine der wichtigsten Bestimmungen historisch kritischer Wissenschaft. Doch soll das Unterdrückte nicht um einer voreiligen Versöhnung willen erscheinen, sondern um dem immer drohenden Rückfall auf frühere kulturelle Stufen vorzubeugen.
Diese Vorbeugungen können auch als Erfahrungen formuliert werden, die die moderne Subjektivität zu machen hat. Sie hat sie vornehmlich im Hinblick auf ihre Interessen zu machen. Ihre Interessen können dabei nicht die pragmatischer Erkenntnis sein, um nur den Boden möglichst sicher zu halten, um nur die Intersubjektivität so abzusichern, daß das Individuum bei sich zu bleiben und im Bestehenden zu beharren vermag. Die Ethik KANTs hat zwar postuliert, stets so zu handeln, daß die Maxime des Handelns willentlich die eines Gesetzes werden könne, unter das man auch selber fällt. Doch ist dazu die verblödete Privatheit des Individuums nur allzu gern bereit, da es doch nichts von sich aufzugeben braucht und noch dazu die Sicherheit hat, daß alles unter seinen Anspruch gezwungen wird. Solche Subjekte geraten tatsächlich nur vor der Polizei außer sich. Die Schwierigkeiten des Individuums liegen heute nicht mehr darin, bei sich selbst alles aufzufinden und die Affektionen des Ichs zu erkennen, sondern darin, außerhalb seiner die Bestimmungen arbeiten zu wissen. Zugegebenermaßen kann es schwierig sein zu verstehen, daß Bestimmendes seinerseits wiederum bestimmt ist und daß man nicht ohne weiteres die Kette der sich bestimmenden Momente bis zu ihrem Anfang oder Ende zurückgehen kann. Denn es hat sich erwiesen, daß es eine Notwendigkeit gibt, Gedanken nicht bis zu ihrem Ende zu denken.

Um so wichtiger wird es, vom pragmatischen Erkenntnisinteresse zum emanzipatorischen überzugehen. Dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse wird zur Kategorie, was dem pragmatischen nur eine nützliche Domestizierung des Individuums ist: nämlich sein Fortkommen zu sichern als das Fortschreiten der Menschengattung zur Mündigkeit. Für den Bereich der Ästhetik kann das nur heißen, daß es nicht mehr auf eine normative Ästhetik ankommt, sondern eher auf eine deskriptive, die die Erfahrungen der modernen Subjektivität als sie regulierender Kommentar begleitet.

Solche Erfahrungen jedoch werden kaum noch im ausschließenden Bezirk der autonomen Künste gewonnen, sondern in dem durch fortlaufende Differenzierungen offen gehaltenen Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Die Erfahrungen werden gemacht unter der hervorbringenden Rationalität der Produktivkräfte. Dieser Tatsache verdanken die Künste auch ihre Befreiung aus dem Historismus und der eindeutigen Verweisung an den bloßen Himmel der Ideen, dem zwar jedermann die Reverenz erwies, aber keinen bestimmenden Aspekt zuerkannte. Viel anders ist es auch heute noch nicht. Wo einmal die Künste im gleichen Maße, wie ihre bestimmenden Kräfte wuchsen, von der Gesellschaft in die hehren Reiche verwiesen wurden, da werden sie heute, im gleichen Maß, wie sie gesellschaftliche Reproduktion bestimmen, von der Gesellschaft ihrer Selbstverleugnung geziehen und ebenfalls ausgewiesen. Für die Arbeit der Künstler scheint sich also wenig geändert zu haben. Doch läßt sich feststellen, daß nach zurückgelegtem Weg, nach Ablauf des historischen Prozesses, selbst dann nicht von der Sinnlosigkeit einzelner künstlerischer Arbeit gesprochen werden darf, wenn hinterher die Resultate denen der Ausgangsposition sehr zu ähneln scheinen. Der bewältigte Prozeß, allein das Vorantreiben der sich entwickelnden Phasen zu immer neuen und damit immer anderen, hat schon Qualität und beweist schon die geleistete Arbeit, die nicht mehr in der Form einzelner Werke verschwindet. Darin liegt die Erklärung für die Unsinnigkeiten mancher Kritik, die immer schnell den Phasen künstlerischer Arbeit nachsagt, sie seien eben nur Phasen gewesen. Diese Kritik bezeichnet solche Erscheinungen als Moden, als etwas, was für immer nicht zählen wird und keinen Bestand hat, wie sie ihn vom Kunstwerk verlangt.
Schon das nackte Überleben, sagt HABERMAS, ist eine historische Größe, denn sie mißt sich an dem, was eine Gesellschaft als ihr gutes Leben intendiert und wohin sie fortschreiten möchte. Die Verlaufsformen also sind qualitativ, nicht die Resultate. Es ist zu verstehen, daß die unaufgeklärte Gesellschaft immer wieder auf den iterativen Momenten als Einzelheiten bestehen möchte. Die Schwerkraft der Systeme tendiert auf ihre Erhaltung, klammert sich an die Resultate. Um so zwingender wird das bereitwillige Verschwinden künstlerischer Resultate; um so zwingender die fast beklemmende Schnelligkeit, mit der Künstler heute ihre Positionen wechseln und ihre erarbeiteten Wirkungen entwerten. Das gehört zu den besten Impulsen, die heute aus den künstlerischen Arbeiten ausstrahlen und als einzige denen der Produktivkräfte angemessen korrespondieren. Dem Grade entsprechend, mit dem man hierzulande einem Mann wie VOSTELL vorwirft, sich immer wieder woanders künstlerisch herumzutreiben, als man ihn aufgrund seiner Äußerungen vermutet - dem Grad der Heftigkeit solchen Tadels, der sich zuweilen als Vorwurf der Scharlatanerie offen zu erkennen gibt, entspricht der Rang VOSTELLs, um bei diesem Namen zu bleiben. Positiv ausgedrückt heißt das:

Die völlige Entsprechung der Arbeiten eines Künstlers mit den gesellschaftlichen Arbeitsprozessen von heute bestimmt seinen Rang, der aber zugleich damit aufgehoben wird, daß eben zwischen der künstlerischen und der gesellschaftlichen Arbeit keine Unterscheidung mehr getroffen werden kann.
Wo also bleiben dann die Kriterien des Urteils, wo der Inhalt der Begriffe?

Wie in der fortschreitenden Automation die traditionellen Arbeitsbewertungssysteme verschoben werden und nicht mehr der Lohnberechnung zugrunde gelegt werden können, so können bei der Ununterscheidbarkeit künstlerischer und gesellschaftlicher Arbeit auch die Bewertungssysteme der traditionellen Ästhetik nicht mehr angewandt werden. Doch können nicht nur wiederum neue Bewertungssysteme aufgestellt werden. Der korrigierende Eingriff genügt nicht, denn er käme immer zu spät. Wo der Arbeiter in der Automation schließlich keinen Leistungsspielraum mehr hat, wo er als auslösender Faktor sich außerhalb des eigentlichen Produktionssystems befindet, da kann vom Künstler nicht verlangt werden, seine individuelle Leistung immer noch als bewertbare anzubieten. Auch er steht als initiierender Faktor schließlich außerhalb des Entwicklungsprozesses der Künste. Die Geschichte der pop-art hat uns das zum erstenmal ganz verständlich werden lassen, weil zum erstenmal das Niveau des Selbstverständnisses der Produktivkräfte eine solche Einsicht erlaubte. Die Form individueller Identifikation wurde zur Reproduktion der Selbstdarstellung der Produktivkräfte. Der schöpferische Prozeß hingegen war der Reproduktion seiner Selbstdarstellung nicht mehr gewachsen und verflüchtigte sich in der Sphäre des objektiven Geistes, in der der gesellschaftlichen Arbeit. Daß immer noch eines der Bilder als das von Claes OLDENBURG und ein anderes als das von ROSENQUIST bezeichnet wird, ist darauf zurückzuführen, daß die Mechanisierung der Rezeption der der Produktion noch nachsteht, weil sich in die Rezeption das verlorene Leben des bürgerlich autonomen Subjekts zurückzog, um in ihm zu überleben. Doch ist die Marktmechanisierung unausweichlich. Was wird nach der aufgehobenen Privatheit des Publikums den Zwang zur Rezeption ausmachen? Ganz sicher nicht das als allgemein ausgegebene Einzelinteresse privater Kunstsammler. Ganz gewiß nicht der Genuß eines vermehrten Anteils an der Sphäre des Geistes. Es bleibt zu bezweifeln, ob es der Privatheit ein Vorzug sein wird, an gesamtgesellschaftlicher Rationalität nicht nur Anteil zu haben, sondern sie sogar zu reflektieren. Dieser private Rezipient als Sammler wird wohl bald die Rezeption einstellen müssen, wie der private Künstler die Produktion einstellen mußte.

Wie stark von dieser Entwicklung selbst Künstler betroffen sind, die sich ihrer Natur nach ihr entziehen möchten, zeigt die Tatsache, daß WALSER und WEISS und KIPPHARDT und HOCHHUTH Bühnenstücke nur noch als Vermittlung von gesellschaftlich Produziertem, von Dokumenten gelingen.

Freilich kann man in dem schnellen Wechsel der Verfahren auch einen etwas anderen Grund vermuten, der nicht unterschlagen werden darf: Die Mittel der Aneignung von künstlerischen Praktiken, auch die der Aneignung von deren Momenten als Kunstwerke, sind so subtil geworden, daß die produzierenden Künstler gezwungen sind, ihre Produktion rasend zu beschleunigen. Man könnte meinen, sie wollten sich der drohenden gesellschaftlichen Aneignung der Werke entziehen, weil sie spüren, daß darin auch deren Vernichtung liegt. Will der Künstler die aus seiner Arbeit resultierenden Herrschaftsformen zur Sicherung seiner privaten Existenz nicht verlieren, will er von seiner Macht nichts einbüßen, so muß er dafür sorgen, daß er sich dem Zugriff der Aneignung entzieht, das heißt, er wird immer schneller arbeiten müssen. Dieser Einwurf wäre ein Argument reaktionärer Betrachtungsweise, der noch der gesellschaftlinche Antagonismus von Produktion und Reproduktion zugrunde liegt, den man aber füglich unserer Gesellschaft nicht mehr unterlegen kann. Das Argument aber, wie andere falsche, erweist seine Notwendigkeit für den Prozeß der Selbstreflexion der Künstler und darf deshalb nicht unterdrückt werden. Es darf auch durch differenzierte, reflektierte und wahrere Argumente nicht unterdrückt werden. Das Falsche abzuleugnen hieße, den Prozeß einzuschränken auf die gewollte Tendenz zum antizipierten Wahren. Jedoch bloß die Wahrheit zu wollen und nichts als die Wahrheit, würde nur neue und schlimmere Unterdrückung zur Folge haben. Denn das Antizipierte einfach als Modell sich vorzuhalten und pragmatisch auf den Boden einer gefestigten Intersubjektivität in Realität zu übersetzen, wäre nur durch Unterdrückung möglich; durch die Unterdrückung dessen, was im historischen Prozeß bis zum Augenblick der Antizipation geleistet worden ist. Die Antizipationen verändern sich ja selber mit dem fortschreitenden Prozeß, und das wahre Leben einer Gesellschaft ist nicht stets das gleiche wahre. Von dieser Einsicht aus ließen sich die Neurosen des antizipatorischen Bewußtseins verstehen.

Wer von hier aus die Künste zwingen will, ihre Vorstellungen von einem solchen wahren Leben der Gesellschaft auch gefälligst einzuhalten, leugnet damit, daß überhaupt auf dem Wege in die geschichtliche Zukunft der Menschengattung etwas zu leisten ist, das Früherem gegenüber die größere Valenz besäße. Die heute im Gefolge BLOCHs geübten Antizipationen als Modelle zukünftigen Lebens, die zu realisieren seien, erweisen sich als das bloß verordnete Heil, als aufgebrummte Rezeptur, die ihrerseits die Antizipationen so unvermittelt nimmt, wie die Formen des Lebens, denen sie gegenübergestellt werden. Damit werden die realen Möglichkeiten ins Niemandsland einer nicht erfüllten und auch nicht erfüllbaren Zukunft verwiesen - die Zukunft wird ohne Zeit, sie kann sich nicht mehr ereignen - die Utopien selber werden zum Bestandteil der Ideologie des Bestehenden, das nicht einmal so besteht.

Da heißt denn der Chorus der scheinbaren Fortschrittler uns hoffen. Wir aber wollen nicht hoffen müssen, wie man Jahrhunderte hoffen mußte, um überleben zu können. In einer feudalen Gesellschaft allerdings ist die Hoffnung aufs befreite Leben real. In unserer Gesellschaft geht es aber nicht mehr um die Erfüllung, sondern eher noch um die Aufrechterhaltung des erfüllten, des befreiten Lebens, und dieselbe Hoffnung wird irrational, unbrauchbar, reaktionär. Was also den Künstler zum Avantgardisten werden läßt, wo er vom kommenden Glück spricht, von der Reinigung unerfüllter Triebe und von der Befreiung der Rezeption kultureller Güter aus der Herrschaft des Wertgesetzes, genau das macht ihn gesellschaftlich zum Reaktionär. Indem er nicht darauf verzichten kann, selber Macht zu üben aus der Kraft seiner Arbeit vor aller gesellschaftlicher Realität und das heißt gegen sie, und, indem er aus einem unreflektierten Verhältnis zur Geschichte der Künste sich immer vor ihr sehen will, um seine Arbeit als avantgardistisch mißverstehen zu können, bietet er der Gesellschaft die Möglichkeit, ihn hinter sich zurückzulassen. Er wird in ein winziges Moment dessen verwiesen, was die falsche Gesellschaft heute gern als ihre pluralistische Ordnung ansieht. Die ist ein Verfahren, auch noch die Wirkung dessen als zu sich selbst gehörig anzusehen, was die Gesellschaft eigentlich kritisch aufheben will. Je avantgardistischer sich die Künstler in diesem unreflektierten Sinne geben, um so willkommener sind sie der Gesellschaft, denn sie kann diese Kritik als von sich selbst bewirkte ansehen. Die Kritik wird schon erwartet, sie wird geradezu gefordert als Beweis für die Selbstregulation des Bestehenden zu seinem eigenen Besten. Und das Beste in der falschen Gesellschaft ist für sie ihre Unveränderlichkeit, die sie sogar dann behauptet, wenn sie sich unglaublich schnell verändert. Und das tut sie beständig und läßt dabei erkennen, wieviel sie über sich selbst an Daten gesammelt, welches Wissen sie über die sie leitenden Interessen und Materialisationen angehäuft hat. Sie weiß sogar, daß sie ihre volle Wahrheit erst an ihrem Ende haben wird. Kritik, die sich und das sogenannte Kunstwerk als Negation dagegen setzt, begreift nicht, wie sie wieder zur Affirmation wird, wenn auch im höheren Dienstgrad. Die Selbstaufhebung der Kritik hat sich längst vollzogen. Im vorgeblichen Sinne heute kritisch sein zu wollen, also auf Grund immer noch konstatierter gesellschaftlicher Antagonismen Handeln bestimmen zu wollen, verböte sich den Künstlern, um eben nicht reaktionär zu werden.

Zum Übergang ein kleines erfrischendes Training. Der Pförtner der Auschwitzausstellung in Frankfurt sollte den Veranstaltern Aufschluß über den Besuch der Ausstellung geben. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Bogen Papier säuberlich durch Linienziehung zu einem Formular umgestaltet. In die Spalten trug er jeden Besucher mit einem Strich ein. Wenn Besucher die Ausstellung verließen, konnten sie dem Pförtner auf sein Formular sehen. Es glich aufs schönste nach Art und Anlage jenen Appellisten der KZs, die in der Ausstellung gezeigt wurden.

Hier wäre der Applaus angebracht als die Vernichtung der Drohung, als das Bannen des Schreckens, wie man das doch der Wirkung eines Werkes gegenüber so selbstverständlich allabendlich versucht. Warum applaudieren wir unseren Verkehrsunfällen nicht, nicht dem Atomblitz, dem Selbstmord der Marilyn MONROE und applaudieren doch allabendlich den Monroebildern WARHOLs, den Atomblitzbildern VOSTELLs und den Verkehrsunfällen KAPROWs?

Vielleicht deshalb, weil wir der zeit- und geschichtslosen Drohung uns doch unterwerfen?
Weil wir doch der geschichtslosen Bewahrung im Tode des Kunstwerks uns leichter anvertrauen als der geschichtsbildenden Arbeit und dem Verzehren der Inhalte unseres Lebens?
Weil wir uns nicht unter den Opfern wissen wollen, da wir auch wissen, daß es keine Möglichkeit gibt, die Geschichte vom Standpunkt ihrer Opfer zu betrachten, solange man selbst Opfer werden könnte?
Weil wir auf der Identität und Affirmation bestehen möchten?
Weil unser Begriff von Gesellschaft zu einem Ritual der Korrespondenz herabgesunken ist und wir bei Ausbleiben des Applauses vereinzelt stehen und entstellt?

Vermutlich deswegen, ja, wie aber das zum hinreichenden Grund künstlerischer Arbeit werden sollte, bleibt unerfindlich. Und doch gibt sich das als hinreichender Grund, und die Künstler schaffen fröhlich pfeifend weiter, während die objektive Tendenz der Gesellschaft längst über sie hinweggerollt ist. Für den Künstler ist es dazu schwerlich möglich, sich mit einer Dialektik des Engagements aus der Affäre ziehen zu wollen, vorausgesetzt, er besäße die Fähigkeit. Autonomie und Didaktik des Werks können seine Arbeit nicht länger beschreiben - es wäre ja auch zu schön, von der Autonomie und der Didaktik gerade jenes Maß einzubringen, welches den Beweisgang von der Notwendigkeit der Künste in dieser Gesellschaft stützte. Dieser Beweisgang wäre nichts als die Abbildung eines Übels aus vergangenen Tagen, er wäre die Abbildung der funktionalen Front zwischen Bete und Arbeite, zwischen Kapital und Geist, zwischen Herrschaft und Knechtschaft.

Vor solcher platten Abbildung stehen doch die Einsichten in die Verlaufsformen unserer Arbeit, die es verhindern sollten, daß man uns ein Privatleben (ein Kunstwerk) als Trinkgeld dafür in die Hand drückt, daß wir auf unserer einzelnen Privatheit bestehen - die Herrschenden und Künstler aber die Sphäre des Allgemeinen repräsentieren und ihre Interessen als die des Allgemeinen ausgeben dürfen.

Die Aufhebung der mickrigen, schmuddeligen Privatheit unseres Lebens ist ja intendiert. Der Rezipient hat sich zu halten, sein Werkverständnis auch mit immanenten Kriterien auszubilden. Allerdings gibt es einer total gewordenen Vernunft gegenüber keine Immanenz. Das Werk verliert sich mit der Möglichkeit, es kritisch zu verstehen durch die Ausbildung seiner Immanenz.

Zugleich hatte sich der Künstler zu halten, seine Arbeit als die eines Produzenten unter vielen aufzufassen. Das Werk verliert sich mit der Möglichkeit, es schöpferisch hervorzubringen in Analogie zur Natur.

In den vergangenen Jahren hatte dieser Verweis zur Folge, daß man etwa die Geschichte der modernen Malerei als einen sachbezogenen Entwicklungsgang ansah. So konnte man schnell behaupten, daß diese Entwicklung im Sinne einer immer größer werdenden Reflexion der bildnerischen Mittel auf sich selber verlaufen müsse und nicht in Reflexion auf die Gesellschaft der Rezipienten. Die Stationen des Mißverständnisses wurden so Tachismus, action painting, Informel und Monochromie. In schönster Folgerichtigkeit stand die Selbstaufhebung des Bildes am Ende der Geschichte der Malerei. Da die Sache weltweit abgehandelt wurde und ihre ausschließliche Notwendigkeit aus der Form der tatsächlichen Produktion der Künstler zu resultieren schien, entließen die Rezipienten unbedacht, wenn auch nicht ohne Recht, die Malerei aus ihrem Anspruch. Wenn auch nur eines der um 1960 einsetzenden Phase der pop-art gedankt werden könnte, so die Verifizierung des immer gewußten Vorbehalts, daß auch die Geschichte der Malerei nicht linear und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Entfaltung malerischer Mittel verlaufen konnte. Aus dem gesellschaftlich stabilisierten Raum der Selbstdarstellung der Produktivmittel entnahm pop einen Bildinhalt, der stark genug war, sich über das angehäufte und aufbereitete historische Moment hinwegzusetzen, demzufolge Entwicklungsstufen künstlerischen Bewußtseins als Bilder nicht wiederholbar seien und dem Verdikt des Schongeleisteten unterlägen.
Der gesellschaftlich produzierte Inhalt der pop-Bilder entfaltete durch die Absolutsetzung seiner Funktionsbezogenheit eine Bildform, die ihrerseits die gesellschaftliche Arbeit dem Verfahren der beliebigen Reproduktion vorgegebenen Materials unterwarf. Deutliches Beispiel dafür ist die Tatsache, daß Madison Avenue bereits dazu übergegangen ist, mit den Bildern LlCHTENSTEINs Reklame zu machen, obwohl die Bilder ihrerseits nur unterworfene Form der Produktivkräfte sind. Der Produktionsprozeß formuliert sich durch Imitation in augenblicklichen Überschnitten, in Übersichten, die zumeist als Gag erscheinen. Eine scheinbar individuelle Erfahrung mit der Gesellschaft wird zu deren Bestimmung gewandt, obwohl diese Erfahrung erst aufgrund schon eindeutiger Bestimmtheitsformen möglich war. Das seinerseits Bestimmende bietet sich dazu an, selbst weiter, genauer bestimmt zu werden, und zwar in diesem Falle LICHTENSTEIN durch die bloße Reproduktion. Ein königliches Beweisstück dafür, wie quantitative zur qualitativen Bestimmung wird. Diese Tendenz hat der gesamte Produktionsprozeß, nämlich quantitative zur qualitativen Bestimmung werden zu lassen. Er leistet damit auch jenes Maß inkommensurabler Arbeit, das einst die Künste leben ließ und die Einheit der transzendentalen Deduktion von gestern zu bestimmen schien.

Zur Überraschung auch derer, denen es schwerfiel, das wie immer geartete Bild an der Wand gegenüber der monochromen Fläche noch für signifikant zu halten, ließ sich wiederum vom Bild sprechen. Wenn auch von einem, das nicht mehr als solches entstanden war. Im vermeintlichen Endstadium schöpferischer Entfaltung des Bildes schien es sich aufgelöst zu haben. Unter dem Primat der Rezeption wurde es als seine eigene Reproduktion von pop wieder gefunden. War es noch ein Bild? Immerhin war es eine Reproduktion, eine zeitgemäße, d.h. dem Stande der Produktivkräfte angemessene.

So waren zwei Positionen formuliert worden, die sich offenbar gegeneinander ausschlossen, dennoch nur miteinander definierbar wurden. Von seiten der Selbstdarstellung bildnerischer Mittel in der Monochromie, die für die Malerei ganz Inhalt des Bildes wurden, und von seiten eines ganz in die Gesellschaft eingelassenen Bildinhaltes bei pop, der für die Malerei ganz Form des Bildes wurde, bestimmte sich der Gang der Künste. In keinem dieser beiden Fälle der Selbstaufhebung des Kunstwerkes durch seine Autonomie wie durch seine Didaktik ist von der Individualpsychologie des Künstlers gesprochen worden. Es geht nicht um ein Scheitern des Künstlers. Andererseits ist der Satz, nach Auschwitz noch Kunstwerke zu produzieren, sei barbarisch, auch auf die Individualpsychologie hin verstehbar. Was beiden Momenten in der Situation unserer Gesellschaft am weitesten entspräche, wäre der Satz:

Angesichts des Standes unserer Produktivkräfte noch Kunstwerke schaffen zu wollen, ist unsinnig.

Darin ist sowohl die subjektive Vergeblichkeit als die objektive Unzulänglichkeit gemeint.

Die Zurücknahme der Kultur in den materiellen Produktionsprozeß ist unausweichlich. Wir müssen auf sie vorbereitet sein, müssen lernen, diese Zurücknahme nicht länger als Sünde wider den Geist zu verstehen. Die Reproduktion des Lebens und die der Kultur sind eine geworden, ausdrückbar in ökonomischen Begriffen. Das sind konstruktive Begriffe, die nicht nur die gegebene Wirklichkeit, sondern auch deren Aufhebung und daraus erscheinende neue Realität begreifen. Um diese Begriffe arbeiten zu lassen, wäre es notwendig, in Analogie zu den Kriegsspielen, Spiele für den nicht weniger ernsten Friedensfall abzuhalten. Für den Bereich der Ästhetik ist dieses als das erste Spielergebnis zu erwarten:
Soweit gesellschaftliche Wirklichkeit in den quantifizierbaren Relationen von Produktion und Konsumtion konzipierbar ist, soweit Gesellschaft nicht mehr antagonistisch ist, wird sich die Tabuierung der Sphäre schöpferischer Arbeit als letzte auch noch aufheben.

Hüten wir uns davor, die Künste weiterhin darin gerechtfertigt zu sehen, daß sie lehren, wie man übers Wasser geht. Hüten wir uns, sie darin gerechtfertigt zu sehen, daß wir ihnen die Anwaltschaft der Unfreien antragen. Unsere Forderung könnte auf uns selbst zurückschlagen wie im folgenden Trinkspruch eines altvorderen Künstlers:

"Und nun, meine Damen und Herren, liebe Freunde, die wir hier so festlich versammelt sind, die wir vor beladenen Tischen sitzen, der Gegenwart aller Schönheit, allen Ruhms und aller Größe so freizügig genießen, erhebe ich mit Ihnen mein Glas, um all derer zu gedenken, die dessen leider entraten müssen: die Armen, sie leben hoch, hoch, hoch!"

siehe auch: