Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 10 im Original

Band I.Teil 1.5 Die Rolle der Persönlichkeit im Kulturbetrieb

– ein Frankfurter Dilemma, allgemein betrachtet

Buchbeitrag zum 1975 erschienenen Katalog des Kasseler Kunstvereins 'Zum 75 Geburtstag von Arnold BODE stellen 110 Künstler eine Documenta-Sammlung zusammen'. Der Vorspann 'Punktleuchten' wurde für einen Vortrag im Februar 1976 vor dem Frankfurter Kunstverein geschrieben. Der Beitrag wurde im selben Jahr auch vom Sender Freies Berlin gesendet. Die Argumentation stützt sich auf Diskussionen mit Karla FOHRBECK, Hamburg.

5.1 Punktleuchten

Damit auch klar ist, worüber hier nachfolgend gesprochen wird, seien zunächst einige, für unser kulturelles Leben kennzeichnende Sachverhalte angestrahlt:
Das Ginnheimer Wäldchen wird mit dem Pathos stadtväterlicher Sorge ums Wohlergehen der Bürger zum innerstädtischen Erholungsgebiet deklariert - zugleich aber werden zwei Autobahnen auf Stelzen durch das Gelände geführt.
Der Architekt G. (von den Frankfurter Lokalpolitikern wahrlich zu allen 'Ehren' erhoben) hat sich jüngst nicht geschämt zu deklarieren, daß die Politiker ja niemals architektonische Qualität von den Baumeistern gefordert hätten, weshalb sie nun über das Frankfurter Stadtbild auch nicht verwundert zu sein brauchten.
Als der neuerbaute Frankfurter Flughafen auf die entschiedene Kritik einer großen Anzahl von Bürgern stieß, beschloß die von Politikern geführte Frankfurter Flughafen-AG der Kritik dadurch zu entsprechen, daß sie einen Public Relations Manager einstellte, der den kritischen Bürgern hinreichende Aufklärung über die Großartigkeit des Projekts garantieren sollte.
In der Diskussion um das mitbestimmte Frankfurter Schauspielhaus wird fortwährend Mitbestimmung schlechthin für die unbefriedigende Arbeit der Theaterleute verantwortlich gemacht. Der Gedanke, daß die mangelhaften Resultate möglicherweise auf die begrenzten Fähigkeiten der Beteiligten zurückzuführen sind, wird nicht zugelassen. Damit wird der Gedanke nicht zugelassen, daß gerade Mitbestimmung höchst autonome und fachlich kompetente Individuen voraussetzt.

In allen diesen Fällen scheinen die beteiligten Entscheider auf der politischen wie auf der rein fachlichen Ebene die Entscheidungsverfahren und die sogenannten Sachzwänge so zu verstehen, als stünde die Vernunft des Verfahrens, gar die einer Mehrheit, über der der Subjekte . Die Einzelnen fühlen sich folglich für ihre Entscheidungen nicht verantwortlich, weil sie fälschlicherweise annehmen, daß die Verfahren gerade solche Entscheidungen des Einzelnen ausschließen sollen. Deshalb glauben die Einzelnen auch, sie brauchten durch Lernen erst gar nicht dafür zu sorgen, daß sie als Einzelne überhaupt entscheidungskompetent werden. Der eine fühlt sich als Entscheider gar nicht gefordert, weil ja doch das Verfahren seine Einzelentscheidung schlucke; der nächste sieht sich nur als Vollzugsgehilfe eines abstrakt formulierten Zieles, dem er Treue geschworen hat, ohne daß er noch sieht, wie sehr es doch darauf ankäme, eine optimale Verwirklichung gerade über die eigene Beteiligung zu erreichen; die Dritten, die Mitbestimmer etwa, machen alle anderen, jeweils nicht an ihrer Arbeit Beteiligten für Versagen verantwortlich (mit der Forderung nach außerordentlichen künstlerischen Leistungen sabotiere man bereits jeden Mitbestimmungsgedanken). Nachfolgende Überlegungen zur Rolle der Persönlichkeit im Kulturbetrieb sollen daran erinnern, daß die zahlreichen, fast beliebigen Verfahrensreformen keinesfalls eine befriedigende Lösung versprechen können, solange nicht die einzelnen Subjekte ihre Verpflichtungen und Rechte auf den Erwerb von Entscheidungskompetenz einlösen. Gerade Kulturarbeit definiert sich durch das Ziel, demokratisches Leben dadurch zu ermöglichen, daß sie den Bürgern (einzelnen wie Minderheiten) beim Erwerb und der Entfaltung ihres Autonomieanspruchs hilft. Kultur ist insofern ein Indikator für die aktuelle Nutzung kultureller Fähigkeiten und Angebote; Kultur ist jedenfalls nicht die Summe der produzierten Güter allein.

5.2 Kulturnation spielen

Es scheint zumindest etwas merkwürdig zu sein, nach der Rolle der Persönlichkeit im Kulturbetrieb zu fragen, da doch verbreiteter Auffassung zufolge gerade der Kulturbereich exemplarisches Handlungsfeld der Persönlichkeit ist. Der höchste Titel solcher Individuen - der des Genies - wird vor allem Künstlern, Musikern, Literaten, Philosophen und Wissenschaftlern vorbehalten. Nur im Ausnahmefall gesteht man ihn auch Unternehmern und Feldherren zu, deren Eigeneinschätzung und Attitüden aber am künstlerischen Genie orientiert bleiben (Unternehmer hinterlassen laut Todesanzeigen 'Werke', denen sie ihr Leben opferten; Feldherren verfahren laut Biographien mit Menschen und Material wie Künstler mit Farben und Formen).
Diese Auffassung gilt nicht nur fürs Selbstbewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft, die das kulturelle Feld ganz und gar von den Handlungen entfalteter Individuen bestimmt sieht. Es scheint ebenso fraglos für das Selbstbewußtsein sozialistischer Gesellschaften, daß die 'schöpferische Persönlichkeit' im kulturellen Bereich ihr genuines Feld hat. Auch wenn Arbeitern, Ingenieuren und Funktionären zugestanden wird, ihrerseits kreativ zu sein, so bleibt dabei doch die Vorbildfunktion des Kulturschöpfers unbezweifelt. Das ist übrigens nicht verwunderlich, hat doch MARX seine entscheidenden Kriterien für die wahrhaft menschlichen Lebensformen den bürgerlichen Vorstellungen vom autonomen Künstlersubjekt entnommen (im wesentlichen der Auffassung SCHILLERs folgend, dessen ästhetisch erzogener Mensch bereits die Grenzen des Handlungsfeldes 'Kunst' überschreitet, um seine Fähigkeit zum vollen Menschenleben jederzeit und in allen gesellschaftlichen Bereichen einzusetzen).
Trotz der schönen Selbstverständlichkeit solcher Wertschätzung und Einschätzung der schöpferischen Persönlichkeit ist schwerlich zu übersehen, daß faktische und ideologische Geltung des Primats der schöpferischen Persönlichkeit weit auseinanderfallen. Zwar werden die schöpferischen Menschen in 0st und West von Staats wegen und als Gesellschaftsspiel gefeiert; zugleich aber wird ihr Handlungsspielraum so eingeschränkt bzw. ist heute so unterbestimmt, daß alle diese Genies vornehmlich als bloß abstrakte Rollenträger akklamiert werden. Zwar wird zur Heraushebung unserer Lebensformen gegenüber Zweiter und Dritter Welt gerne darauf verwiesen, wir seien eine Kulturnation. Wie inhaltslos auch diese Markierung inzwischen geworden ist, läßt sich allein daraus ersehen, daß eine Kulturpflichtigkeit der Gesellschaft nicht anerkannt wird, während selbst die Sozialstaatlichkeit inzwischen gesetzlich verankert ist. Man muß es immer wieder betonen, weil es so unglaublich klingt: Sämtliche kulturellen Leistungen in unserer Gesellschaft sind gönnerhafte Zugaben. Die Öffentliche Hand verpflichtet nicht ein einziges Gesetz zu bestimmten kulturellen Leistungen, nicht einmal zu denen, die, weil man sie schon so lange hat und als Errungenschaften der Geschichte nur pflegen müßte, den Heutigen nicht eigentlich als Leistung angerechnet werden können. Das verdinglichte Kulturverständnis scheint davon auszugehen, daß man über Kultur ähnlich wie über Bodenschätze verfügen könne: ein in der Geschichte reichlich gebildetes Reservoir, das man nur auszubeuten, aber nicht zu erneuern brauche. Nach solcher Auffassung scheint die in unserer Vergangenheit angehäufte Kultur auch für die Zukunft auszureichen - nach dem Motto eines großen Kunstverlags: "Tradition ist Fortschritt genug".

5.3 Kulturbetrieb

Die beiden entscheidenden Leistungen, die einer jeden Kultur abverlangt werden müssen - Letztbegründung für gesellschaftliches Handeln und definitive Sinngebung individueller Existenz auf der einen Seite, die Ausbildung kultureller Fähigkeiten bei den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern andererseit - können jedoch nur aus einer ständigen Regenerierung und Generierung kultureller Traditionen hervorgehen, was in jedem Falle eine aktive Kulturpolitik erfordern würde. Wo diese Regenerierung und Generierung kultureller Traditionen gelingt, kann man von kulturellem Leben einer Gesellschaft sprechen; wo man im wesentlichen nur traditionsausbeutend mit Kultur verfährt, sprechen wir von Kulturbetrieb. Selbst da, wo es kulturelles Leben ansatzweise gibt, wird es heute sehr schnell auf Kulturbetrieb reduziert; einmal, indem der kulturelle Produktionsprozeß und seine Zielbestimmungen eingeschrumpft werden auf dingliche Kulturgüter, die als Bücher, Bilder, Filme usw. durch Konsum zwar in Besitz genommen, aber nicht angeeignet zu werden brauchen, zum anderen, indem die kulturellen Fähigkeiten nur noch auf das Erstellen von Werturteilen eingeengt werden, noch dazu auf solche, die lediglich auf die Zustimmung der eigenen Gruppe abzielen. Zum Kulturbetrieb im eingeengten Sinne gehören heute vor allem die Kulturverwalter, während der Bereich der Produktion und der Bereich der Ausbildung kultureller Fähigkeiten völlig unterbestimmt sind. Auch unter den Kulturvermittlern, die eigentlich für die Ausbildung kultureller Fähigkeiten verantwortlich sind, kann heute das Gros nur noch zur Verwaltung gerechnet werden, sei es der Museumsleiter, der kein Geld hat, seine Bestände an die Bevölkerung zu vermitteln, sei es der Fernseh-, Rundfunk- oder Tageszeitungsredakteur, dem mit Verweis auf die bestehenden Verwaltungskosten Sendezeiten gestrichen, Feuilletonseiten gekürzt werden. Daß der Verweis auf die Verwaltungskosten so ohne weiteres möglich ist, zeigt deutlich, daß es weniger um eine Finanzfrage geht als um einen Vorwand für Machterwerb und Machtsicherung durch Aufbau und Erhaltung einer Bürokratie. Es darf schon als verbindlich gelten, daß der Kulturbetrieb derzeit hauptsächlich darin besteht, die Kulturbürokratie am Leben zu erhalten - im wesentlichen über das Argument der Arbeitsplatzsicherung, obwohl es doch sinnlos zu sein scheint, eine solche Bürokratie zu unterhalten, wenn die kulturelle Produktion und Vermittlung stagnieren oder gar stillgelegt werden.
Nochmals deutlich: Hier wird nicht die Forderung nach mehr Geld für den Kulturbetrieb erhoben. Es sollte vielmehr klargemacht werden, daß die wenigen gönnerhaften Kulturleistungen unserer Gesellschaft in erster Linie auch nur ganz normale soziale Leistungen und sozialpolitische Maßnahmen darstellen (Arbeitsplatzsicherung für Arbeitnehmer, die im Kulturbereich nur zufällig tätig sind und deswegen die gleiche Forderung nach materieller Entschädigung stellen können und müssen wie Arbeitnehmer in anderen Bereichen auch).

5.4 Demokratisierung und Legitimation durch Verfahren

Immerhin: Ein nichtunerheblicherTeil der Bürokratie im Kulturbereich entstand daraus, daß die Rolle der Persönlichkeit, das heißt vor allem, daß deren Entscheidungskompetenzen angezweifelt wurden. Obwohl, wie gesagt, die Ideologie weiterhin jene Rolle der Persönlichkeit feiert. Beispiel: Eine geeignete Persönlichkeit wird vom Sender X eingestellt. Persönlichkeit zu sein ist sogar Voraussetzung für die Einstellung. Aber diese Qualität reicht zur Entscheidungsfähigkeit nicht aus, der Redakteur muß die von ihm vorgesehenen Manuskripte dem Abteilungsleiter, gegebenenfalls dem Programmdirektor oder Intendanten vorlegen. Der bürokratisierte Instanzenweg macht die angebliche Befähigung der Persönlichkeit zur autonomen Entscheidung hinfällig.
Solche Widersprüche konnten und mußten entstehen, weil man die Frage der Demokratisierung im Kulturbereich auf Verfahrensfragen und quantitative Entscheidungsmodelle (Proporz, Mehrheiten) reduzieren zu können glaubte, und weil man andererseits übersah, daß die bisherige Rolle der Persönlichkeit im Kulturbereich durch nichts so weitgehend bestimmt war wie durch die ihr zugestandene Entscheidungskompetenz. Entscheider im Kulturbereich sind auch heute nur wenige: Erstens einmal die Künstler, soweit sie etwas hervorbringen, nämlich das sogenannte Kulturgut. Zweitens die Leiter von Museen, Theatern, Ausstellungen usw., sofern von ihnen Selektionen abhängen (soweit sie also bestimmen, was ausgestellt, gespielt oder vorgetragen wird). Drittens gehören zu den Entscheidern die Rezensenten und Theoretiker, soweit sie jene Sprache und jene Urteile zur Verfügung stellen, in denen und mit denen dann die weitere Rezeption erfolgen kann. Nur dieser kleinen Gruppe wird und wurde im Kulturbereich zugestanden, kraft Persönlichkeit einen Geltungsanspruch zu erheben. Sie machen nur einen ganz geringen Prozentsatz der Gesamtbeteiligten im Kulturbetrieb aus.
Ein Demokratisierungsbegriff, der die Qualität der autonomen Persönlichkeit nicht mehr voraussetzt, sondem per Verfahren oder Hierarchie ausschaltet, zum bloßen Tauschwert verkümmern läßt (Individualität als Markenartikel), mußte die Rolle der Persönlichkeit im Kulturbetrieb zwangsläufig einschränken. Die Veränderung des Entscheidungsprozesses konnte dann auch auf kaum mehr hinauslaufen, als die Entscheidungen Einzelner durch die Entscheidungen vieler zu ersetzen - ein Verfahren, das nicht notwendig mehr Vielfalt oder gar Rationalität hervorbringt als das, was hiermit aufgehoben werden sollte.
Die Absicht für diese Umstellung ist dabei noch keine Begründung für das praktizierte Verfahren; sie lief ursprünglich darauf hinaus, den Entscheidungsprozeß zu kontrollieren, ihm also Begründungen abzuverlangen, gleichzeitig darauf, die Entscheidungen zu optimieren, indem man durch Beteiligung vieler ein größeres Spektrum von Interessen und Kenntnissen in die Begründung und damit Entscheidung eingehen lassen wollte. Jede Entscheidung muß aber, da sie auf Auswahl beruht, die Alternativen, die sie ausschließt wie auch ihre eigene Begründung hinter sich lassen. Unter diesem Blickwinkel steht das Wesen von Entscheidungsprozessen der oben genannten Absicht entgegen, zumal die Begründungen von Auswahlkriterien unterschiedlichster Natur sein können. Als prinzipielle sind hier zu nennen: gesetzliche machtpolitische (zu denen nicht nur die Willkürentscheidungen Einzelner, sondern ebenso die willkürliche Mehrheit zu rechnen sind), gewohnheitsrechtliche, qualitative (zu denen alle Inhalte gehören, die durch einen Begründungszusammenhang ausgewiesen werden können) und subjektive. Für den Kultubetrieb gibt es heute praktisch nur noch eine Begründungsform, nämlich die machtpolitische, zu deutsch: Begründung von Entscheidungen (bzw. Ausschluß von Begründungen) durch Verfahren. Gesetzliche Bestimmungen sind - außer § 5 Abs. 3 GG - nicht vorhanden oder gefahrlos zu mißachten; gewohnheitsrechtliche Bestimmungen fallen, wie gegenwärtig demonstriert wird, wenn's ums Geld geht, untern Tisch; qualitative Bestimmungen wiederum und die Begründung durch Subjektivität werden nicht anerkannt oder doch zunehmend in Zweifel gezogen, weil es ja keinen Mehrheitskonsens gibt.
Die Bürokratie entspricht der skizzierten Problemlage: Wenn nämlich doch Entscheidungen durch Verfahren begründet werden, warum sollen dann noch inhaltliche, leicht für Selbstbeweihräucherung oder für Grenzfälle? Zwar kennt auch die Bürokratie die Entscheidung des Einzelnen, doch wird bei ihm die persönliche Sachkompetenz überlagert oder gar ausschließlich definiert von der bürokratisch, per Amt zugewiesenen und das heißt schmal begrenzten Verfahrenskompetenz. Demzufolge können dem einzelnen bürokratischen Entscheider, auch im Kulturbereich, die Entscheidungsfolgen nicht mehr angelastet oder zugerechnet werden, weil er vorgeben kann, im Namen eines Verfahrens, eines objektiven Zusammenhangs, einer größeren Totalität, einer Mehrheit zu sprechen, und weil er sich zum Teil mit den Entscheidungsergebnissen auch gar nicht persönlich mehr identifizieren kann, da sie oft weniger differenziert, formaler gestaltet, durch einen kleinsten gemeinsamen Gruppennenner ausgehöhlt sind und damit hinter die Vorstellungskraft des einzelnen Subjekts zurückfallen. Nur noch Teil des Ganzen sein und im Namen des Ganzen sprechen zu dürfen, das beansprucht zwar auch der Funktionär, der in manchen Ländern für den Kulturbereich eine ähnliche Rolle spielt wie bei uns der Bürokrat; es kann aber wohl behauptet werden, daß die Kontrolle über und der Widerspruch gegen bürokratische Überformung erfolgreicher sein können als Kontrolle über und Widerspruch gegen ideologische Überformung da, wo die Ideologie ein Staatsmonopol ist.
In solcher Lage wird die ohnehin äußerst rudimentäre Rolle der Persönlichkeit noch weiter dezimiert durch ein psychologisches Faktum. Man kann in zahllosen Fällen beobachten, daß Kulturbürokratien wie auch die von außen über Kultur via Geldzuteilung entscheidenden Bürokratien - in diesem Fall richtiger gesagt: die Bürokraten gegen die Geltungsansprüche der Persönlichkeiten entscheiden, weil sie anders ihre eigene Rolle nicht ausleben, für selbstverständlich halten könnten. Sie bestehen besonders dann auf Verfahrensregelungen, wenn sie herausragenden Einzelpersönlichkeiten gegenüberstehen, weil sie nur so der Reflexion oder gar Selbstzweifeln über ihre eigene Rolle entgehen können.

5.5 Die Chance der Revision

Im Ganzen soll gesagt werden, daß auch nach überprüfbaren Verfahren, im genannten Sinne 'demokratisch' zustande gekommene Entscheidungen nichts anderes als Entscheidungen sein können, und das heißt: nichts anderes als Selektion. Für den, der durch die Entscheidung ausgeschieden wird, ist es allerdings subjektiv leichter zu ertragen, aufgrund einer Entscheidung der klassischen Einzelpersönlichkeiten ausgeschieden zu werden als durch ein mehrheitlich verfahrendes, sich auf demokratischen Konsens berufendes Gremium. Denn die Möglichkeit der Revision, die Chance, sich erneut zur Entscheidung zu stellen, sind bedeutend größer, wenn eine Vielzahl von einzelnen entscheidet, weil deren Urteile mit Sicherheit weniger übereinstimmen als die von großen Gremien. Außerdem ist gerade die vermutbare Subjektivität bei den Entscheidungen einzelner Persönlichkeiten als Begründung der Ausscheidung akzeptabler: Der Ausgeschiedene kann sich sagen, daß nur ein 'subjektives' Urteil gefällt wurde, das im weiteren die tatsächlichen, 'eigentlichen' Qualitäten seiner Arbeit nicht berühre.
Beispiele für diese Problematik lassen sich genug anführen. Ob man sich die Ergebnisse der Auswahlentscheidungen von Literaturpreisträgern durch Gremienverfahren in den letzten Jahrzehnten ansieht (30 Leute könnten jeder vielleicht zwanzig Alternativen vorschlagen, alle zusammen können sich dagegen nur auf einen Bruchteil dessen einigen, was allein einer unter ihnen vorzubringen hätte. Das Resultat, um es höflich auszudrücken: äußerst geringe Vielfalt, äußerst geringes Risiko); ob man das Problem der in viele Minderheiten zersplitterten Kulturberufe innerhalb der gewerkschaftlichen Interessenvertretung als Beispiel heranzieht (die ja prinzipiell auf Mehrheits-, sprich Massenentscheidungen basiert); ob man den Entscheidungsbereich Bildende Kunst heranzieht (in der BRD gibt es annähernd 200 Redakteure, Ausstellungsleiter, Filmproduzenten, Publizisten, die in diesem Sektor entscheiden, was in irgendeiner Form veröffentlicht wird): es läßt sich in allen diesen Fällen leicht ausrechnen, daß die Chance, etwas zu veröffentlichen, finanziert zu bekommen, genehmigt zu erhalten, für jeden Künstler oder jede Gruppe von Kulturberuflern rapide steigt, je mehr Einzelentscheidungen gefällt werden. Anders als wenn alle diese Entscheider durch Gremien gebunden sind, deren personelle Verflechtung zudem oft noch so groß ist, daß praktisch in allen diesen Gremien die gleichen oder doch recht angeglichenen Gesichtspunkte zum Zuge kommen, zumal diese wiederum häufig schon durch völlig anonyme Vorschriften und Anweisungen ersetzt werden, in denen die Entscheidungsverfahren mit Objektivität, Neutralität oder Ausgewogenheit gerechtfertigt werden.
Ein Grundmerkmal von Demokratien ist jedoch, daß einmal vollzogene Entscheidungen stets reversibel, aufhebbar sein müssen (um gleich das extremste Beispiel zu zitieren: Die Todesstrafe ist in Demokratien nicht akzeptabel, weil deren Konsequenzen nicht mehr rückgängig zu machen sind. Das ist ein entscheidenderes Kriterium als weltanschauliche Begründungen vom Typus "Du sollst nicht töten"). In diesem Sinne erweist sich ein Kulturbetrieb, in dem wesentlich Einzelpersönlichkeiten entscheiden, de facto als demokratischer als einer, der durch bloß quantifizierte (entsubjektivierte) 'demokratische' Beschlußfassungen reguliert wird.
Wer in den vergangenen Jahren einige Zeit in solchen bloß verfahrenslegitimierten Gremien mitgearbeitet hat, wird kaum umhin können, diese Erfahrung zu bestätigen, ob er nun in Berufungskommissionen saß oder in der Kollektivleitung von Theatern, Museen oder Filmteams. Zu den Erfahrungen aus solcher Arbeit dürfte für viele auch gehören, daß als merkwürdiges, überkommenes Vorurteil immer noch gilt, ausgeprägte Persönlichkeiten seien nicht zu kollektiver Arbeit fähig, weil sich ihre jeweils kraft Persönlichkeit erhobenen Ansprüche gegenseitig aufheben würden. Informelles kollektives Arbeiten wird hier unterschieden vom institutionalisierten, verfahrensgesteuerten. Praktisch heißt das, eine allein entscheidende Persönlichkeit wird gerade wegen ihrer Autonomie eher fähig sein, Auffassungen und Initiativen anderer zu berücksichtigen als die verfahrensgeleitete Gruppe, in der es häufig notwendig ist - um sich als Interessenvertreter glaubwürdig zu zeigen - das Urteil anderer nicht zu berücksichtigen, selbst wenn man ihm subjektiv zustimmt. Vorausgesetzt ist hier natürlich, daß der Alleinentscheider verpflichtet ist, seine Entscheidungen zwischen Alternativen darzustellen und öffentlich zu begründen, das heißt inhaltliche Kriterien anzugeben. Das Vorurteil, entfaltete Individuen seien unfähig zu kollektiver Arbeit, scheint gestützt zu werden durch die Tatsache, daß Individualität ohne Abgrenzung gegen andere nicht möglich ist.

5.6 Bedingungen für Autonomieerwerb des Subjekts

Da jene Erscheinungsform der entfalteten Individualität als Persönlichkeit, die wir heute noch kennen, sich dem Aufstieg des Bürgertums zur führenden sozialen Klasse verdankt, wird angenommen, daß Abgrenzung zwangsläufig Konkurrenzierung heißt, und zwar Konkurrenz als Vernichtungsabsicht. Die Abgrenzungsproblematik, also das Problem der Begründung eines Anspruchs auf Entscheidungsautonomie kraft Persönlichkeit, hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Frage kann also nur lauten, welche Besonderheiten die bürgerliche Gesellschaft für den Prozeß der Autonomiebildung anbietet oder aufzwingt.
Allgemein sprechen wir von individueller Autonomie, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind:

  1. Das Subjekt muß wirtschaftlich autonom sein. Jemand ist wirtschaftlich abhängig, nicht autonom, wenn er - um seinen Lebensunterhalt zu verdienen - zu einer Arbeit gezwungen ist, die er nicht wählen würde, wenn er auf andere Weise seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Diese Definition hat den entscheidenden Vorteil, die jeweils historisch für alle Mitglieder einer Gesellschaft geltende wirtschaftliche Abhängigkeit ins Verhältnis zur relativen Unabhängigkeit der einzelnen Subjekte zu setzen. Diese Definition erlaubt, die subjektive Relativität der Unabhängigkeitsvorstellungen zu berücksichtigen: Jemand, der 4000 DM Rente bezieht, kann in diesem Sinne durchaus wirtschaftlich abhängiger sein als jemand, der nur 1500 DM Rente bezieht.
  2. Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist nur eine Voraussetzung für Autonomie des Subjekts. Die zweite Voraussetzung besteht darin, daß das Individuum die ihm durch seine Erziehung über Identifikation und Verinnerlichung vermittelten Normen und Werte in Frage zu stellen fähig ist.
  3. Die dritte Voraussetzung für Autonomie des Subjekts ist erfüllt, wenn das Individuum in der Lage ist, ein Weltbild durch eigene Erzählung zu repräsentieren.

Diese Voraussetzungen für Autonomie galten immer. Die Besonderheiten, die in der bürgerlichen Gesellschaft für Autonomieerwerb galten, sind die folgenden (wobei hier nur Autonomieerwerb für die im Kunstbereich tätigen Subjekte berücksichtigt werden kann): Man entging dem Zwang, nicht gewünschte Arbeit zu leisten, indem man neue Berufsrollen entwickelte (neben handwerkliche Spezialisierung traten unzählige Berufsfelder, die wir heute nicht mehr der Kunst, sondern Wissenschaft und Technik zuordnen würden). Man stellte die verinnerlichten Normen und Werte in Frage, indem man systematisch abweichendes Verhalten produzierte (schon das 16. Jh. kennt zahlreiche Fälle, in denen kulturelles Genie regelrecht durch Planung von Abweichung produziert wird). Nachdrücklich ist festzuhalten, daß diese Abweichung als Privatheit etabliert wird und übrigens auch als exemplarisch im Sinne von Experiment. Die dritte spezielle Voraussetzung für Autonomie des bürgerlichen Kultursubjekts, nämlich Anspruch auf Erfassen des Ganzen, auf Zusammenhang des Lebens und Einheit der Welt durch das Subjekt, wurde erfüllt durch Systemkonstruktionen, die bei Philosophen als rekonstruierte Weltschöpfung, bei den Künstlern als Hervorbringung in sich abgeschlossener Werke, bei Wissenschaftlern als Welt aus der Retorte und bei den Vermittlern (den Kritikern, Lehrern, Interpreten zum Beispiel) als Handlungslehren ausgebildet wurden.

Die Vielheit dieser entfalteten bürgerlichen Individuen als Einheit gefaßt, ergab das Modell der Demokratie (die Gleichheit der Ungleichen). Die Einheit wurde verstanden als Öffentlichkeit, für die die Privatheit und die Vielfalt der Privatheiten Voraussetzung war. Privatheit meint, daß das einzelne Individuum ein bestimmtes, von anderen unterschiedenes ist. Wie immer diese Kollektivität oder Öffentlichkeit organisiert ist, als solidarische oder als konkurrierende, in jedem Fall ist die Fähigkeit zur Teilnahme an kollektiver Öffentlichkeit nur in dem Maße nachweisbar, in dem die Beteiligten sich als entfaltete Individuen erweisen. Das Kriterium der entfalteten Persönlichkeit ist nicht nur in ausgezeichneten Positionen Maßstab für die Verwirklichung von Demokratie, sondern auch und vor allem im Alltagsleben der Gesellschaftsmitglieder. Wenn an deren alltäglichen Verhalten bei einem Vergleich zweier Gesellschaftssysteme, die den Anspruch auf Demokratie erheben, kein eindeutiger Unterschied ausmachbar ist, gibt es keinen Grund, das eine System als demokratischer als das andere zu bezeichnen. Das heißt, der Maßstab für das Verwirklichen von Demokratie ist nicht mehr nur die exemplarische Entfaltung von Individualität durch einzelne herausgehobene Rollenträger (professionalisierte Subjekte), sondern die Verwirklichung der Subjektivität durch den Normalbürger.

5.7 Uneinholbare versus exemplarische Subjektivität

Das verändert zwangsläufig die Funktion des klassischen Kultursubjekts als Künstler, Vermittler und Intellektueller. Die radikale Selbstverwirklichung wäre nur noch ein Privileg, wenn es nicht gelänge, die Fähigkeiten und Techniken zur Selbstverwirklichung anderen Individuen anzubieten, und zwar als alltäglich nutzbare. Gelungene Subjektivität kann nicht mehr beschränkt sein auf schöpferische Produktion von Werken, sondern muß sich messen lassen an ihrer Bedeutung für die Lebensbewältigung (prinzipiell) aller. Früher hörte man stets, daß eine Gesellschaft gar nicht lebensfähig wäre, wenn alle den Anspruch auf entfaltete Individualität in dem Maße erhöben wie Künstler. Das Künstlersubjekt galt in dem Maße als bedeutend, in dem es zwischen sich und anderen eine Distanz, einen Abstand setzte, es also anderen unmöglich war, es durch gleiche Entwicklung einzuholen.
Dem hier Gesagten zufolge ist entfaltete Individualität von berufsmäßigen Kultursubjekten heute nur noch in dem Maße gesellschaftlich bedeutsam, in dem sie exemplarisches Beispiel für das prinzipiell allen Erreichbare, ja allen Abverlangbare ist.

5.8 Was heißt Objektivität?

Ein Beispiel für den falschen Maßstab, dem sich Subjektivität angeblich zu unterwerfen hat: Der Gehirnphysiologe John C. ECCLES, Nobelpreisträger und weltweit renommierter Forscher, teilt den Lesern seines neuesten Buches ('Understanding of the Brain') mit, daß er sich nicht in der Lage sieht, über den Stand der Forschung auf seinem Spezialgebiet zu referieren, weil derartig viele Forschungsresultate allein in den vergangenen fünf Jahren publiziert worden seien, daß er selbst sich keinen Überblick verschaffen könne. Deshalb gäbe er nur sein eigenes Verständnis der Probleme wieder. Wer, wenn nicht dieser Spezialist, wollte überhaupt in der Lage sein, den 'objektiven' Stand der Forschung in diesem Spezialgebiet zu überblicken und in zusammenfassenden Aussagen zu repräsentieren? Wenn das aber niemand kann, wird es doch ganz unsinnig zu unterscheiden zwischen dem "objektiven Stand der Forschung" und dem "bloß subjektabhängigen Aussagen" über den Forschungsstand. Der objektive Stand kann sich ja niemals anders auffinden lassen als in den Aussagen einzelner, am weitesten entfalteten Forscherpersönlichkeiten. Es ist ganz unsinnig, als objektiven Stand die Unzahl von gespeicherten Aussagen aller mit dem Forschungsobjekt Befaßter zu bestimmen. Auch eine Gruppe von Forschern könnte nicht mehr Aussagen zusammenbringen als ein einzelner Forscher oder Rezipient noch zur Einheit zusammenfügen kann. Das tatsächlich Objektive ist die Einheit oder der Zusammenhang von Aussagen, die noch durch ein einzelnes Subjekt gedeckt werden können.
Herr ECCLES vertritt eine ganz typische Position, die bis dato die Naturwissenschaftler zu wahren Repräsentanten der Objektivität machte, Geisteswissenschaftler, Künstler, Literaten mit Minderwertigkeitsgefühl belud. Kurzschlüssig nimmt diese Position an, daß der Objektivitätsanspruch naturwissenschaftlicher Aussagen durch die strikte Trennung von erkennendem Subjekt und Aussage bestimmt ist: Da hinter der Mehrzahl künstlerischer, literarischer, geisteswissenschaftlicherAussagen ein sprechendes Subjekt erkennbar ist, haben sie jener Position zufolge keinen Anspruch auf Objektivität, ja mehr noch, Subjektabhängigkeit der Aussagen wird mit Willkür gleichgesetzt, bestenfalls mit Spontaneität.
So lobenswert positive Einschätzung von Spontaneität sein mag, so wenig läßt sich noch mit einem Subjektbegriff heute arbeiten, der das Spontane, Exaltierte, als Besonderheit Stilisierte, Verschrobene, kurz das bisher an den entfalteten Individuen für besonders interessant Gehaltene zum Wesen des Subjekts verdinglicht. Die Bedeutung von Subjektivität ist heute sehr viel größer, weil Objektivität nicht mehr als System und durch Systeme gewährleistet wird, sei es in der Politik, in der Wissenschaft, im Kulturbereich. Das Ganze ist tatsächlich das Unwahre geworden. Das Allgemeine kann nicht mehr als das Objektive gefaßt werden, sondern ist Leerstelle. Auch 'die Gesellschaft' ist nur ein Phantom: Maske zur Irreführung der subjektlosen Vielzahl.
Das klingt zwar, als handele es sich um eine rein theoretische Diskussion. Im Gegenteil: Es ist ein Problem der Praxis, daß heute die objektive Sphäre nur noch in dem Zusammenhang von Aussagen, die durch einzelne Subjekte abgedeckt werden können, gültig wird. Die Ausbildung des Aussagenzusammenhangs durch ein Subjekt läßt sich in ganz praktischer Hinsicht als Objektivierung fassen. Das öffentlichkeitsfähige, das aussagefähige Subjekt ist letztlich die Vermittlungsinstanz, durch die das beliebig aufgehäufte, die Kapazität jedes einzelnen Menschen übersteigende (und daher fälschlich objektiv genannte) Wissen in das konkrete Handeln von Menschen umgesetzt wird (durch die also Wissen und Vernunft aufeinander verpflichtet werden).
So wird beispielsweise immer noch die Frage gestellt: "Was ist Kunst?" Jede Antwort, die dem Frager erteilt wird, weist er jedoch mit der Bemerkung zurück, die Antwort sei nur eine subjektive Auskunft, die des einzelnen Antwortenden. Der Frager erwartet offensichtlich, daß eine sogenannte objektive Aussage zustande käme, wenn zum einen alle Antwortenden das Gleiche sagen oder wenn er alle erreichbaren Antworten zu einer zusammenfassen könnte. Das aber kann er dann nicht, wenn die ihm erteilten Antworten bereits durch gelungene Begründungen ausgewiesen sind. Wenn er also die Antworten auf ihre Begründungen hin befragen würde anstatt sie nur mit einem falschen Objektivitätsanspruch von vornherein zu isolieren, dann könnte er verstehen, daß nur die von den einzelnen Aussagesubjekten begründeten Antworten objektive sind. Das würde ihm ermöglichen, selber Antworten im Begründungszusammenhang zu geben.

5.9 Zugeschriebene Subjektivität

Am heutigen Künstlersubjekt soll jetzt die gegenwärtige Problematik des Autonomieerwerbs skizziert werden, und zwar anhand der oben aufgeführten drei Kriterien für Autonomie des Subjekts. Von dem Normalkünstler im statistischen Sinne muß gesagt werden, daß seine Rolle ihm nur zugeschrieben wird von seiten einzelner Interessentengruppen (Galerien, Rezensenten, Kunstbeflissene) und von sich selbst. Aber, so wenig die Frau Realienbesitzersgattin oder die Frau Oberrat anno 1800 schon deswegen als entfaltete Individuen bezeichnet werden können, weil sie zum Bürgertum gehörten, so wenig kann heute jemand dadurch, daß er Künstler ist, schon in Anspruch nehmen, ein entfaltetes Individuum zu sein, noch dazu ein exemplarisches. Er ist wirtschaftlich nicht autonom, da er sich Autonomie nur als völlige Freisetzung von der Anstrengung, sein Leben zu verdienen, vorstellen kann. Er fühlt sich, da er nur über beschränkte Geldmittel verfügt, abhängig von der Technik und vom Markt. Er sagt: "Wenn ich nur genügend Geld und Zeit hätte, dann würde ich sofort das realisieren können, was mir als Künstler vorschwebt." Er überprüft diese seine Auffassung von Abhängigkeit nicht an Fällen, in denen reichlich Geld und Zeit zur Verfügung stehen, ohne daß die Betreffenden in der Lage wären, das, was ihnen künstlerisch vorschwebt, zu realisieren. Auch die zweite Bedingung für Autonomieerwerb erfüllt der statistische Normalkünstler heute nicht. Zwar stellt er von ihm verinnerlichte Normen und Werte in Frage, vor allem die von anderen, aber bloß, um Normen und Werte als beliebige zu entlarven. Um nicht selbst völlig beliebig zu werden, müßte er aber in seiner Kritik doch stets auf die von ihm tatsächlich im Laufe seiner Ausbildung zum Gesellschaftsmitglied verinnerlichten Normen bezogen bleiben. Auch die schärfste Selbstkritik hebt noch nicht den Einfluß der verinnerlichten Normen auf gegenwärtiges Handeln auf, sie erlaubt nur das Aufbrechen der völlig automatisierten Handlungszwänge. Zum dritten Autonomiekriterium, Repräsentation eines Weltbildes in eigener Erzählung, gibt es bei den statistischen Normalkünstlern heute wenigstens ein Problembewußtsein: Die Vielzahl der individuellen Mythologien, die zum Beispiel auf der Documenta 5 gezeigt wurden, sind dafür Beleg. Leider sind aber bei näherem Hinsehen jene Mythologien nur sehr begrenzt in der Reichweite, da sie das Subjekt selbst totalisieren, nicht aber die Welt erfassen, in der diese Subjekte leben. Für das Problembewußtsein in diesem Punkte spricht auch, daß der statistische Normalkünstler heute besonders anfällig ist für fremdgelieferte Weltbilder in Ideologien. Er wird zum Dogmatiker aus einem Anspruch heraus, den er selbst nicht mehr erfüllen kann.
Gerade Künstler, die heute nur über zugeschriebene Subjektivität verfügen, lassen sich nur allzugern benutzen als Gegenmodell der schöpferischen, kreativen Einzelpersönlichkeit, die sich in einer "Welt von Arbeit, Technik und Sachzwängen" heroisch und in Muße behauptet - ein Ideal erfüllten Menschenlebens für alle, die am Fließband stehen oder Zahlenkolonnen tippen und insgeheim sich nach der ewigen Freizeit des Künstlers sehnen. Aber schon der liebe Gott hat gewußt, daß Schöpfung Arbeit ist, denn er mußte sich unbedingt am siebten Tag ausruhen.

5.10 Erworbene Subjektivität

Beschreibt man die gegenwärtig gegebenen Fälle erfolgreicher Erwerbung von Subjektfähigkeiten, dann werden die drei Kriterien in etwa folgender Weise eingelöst: Wirtschaftliche Autonomie wird als relative Größe anerkannt (im obigen Definitionssinne). Die Betreffenden haben ihren Beruf so gewählt, daß er für ihre kulturelle Tätigkeit als Vermittler, Produzent, Verwalter über die bloße Existenzsicherung hinaus sogar weitere, inhaltliche Voraussetzungen schafft. Sie gewinnen den Sinn ihrer kulturellen Arbeit unmittelbar aus dem Arbeitsprozeß und der Arbeitssituation heraus. Dazu gehört, daß sie auch an Widerstand interessiert sind, ja sogar die Fesseln der notwendigen Mühsal des Erwerbslebens, den Druck von außen als motivationssteigernd umsetzen können. Wichtig ist, daß in dieser Gruppe sich kaum jemand von der Produktion für den anonymen Markt abhängig macht, sondern eher dazu tendiert, auf seine Person zugeschnittene Aufträge zu übernehmen. Dem zweiten Kriterium wird diese Gruppe im wesentlichen gerecht, indem sie über Kritik der Wahrnehmungsformen, über Sprachkritik und die entsprechenden Analysen von Alltagsbereichen sich selbst in genau der Weise zum Gegenstand der Reflexion machen, der sie auch andere unterwerfen. Die beachtenswerteste Leistung besteht darin, daß hier der Versuch unternommen wird, Lebensorganisation und Lebensentwurf zusammenzubringen und daraus eine Biographie zu entwickeln. Die weitgehend selbstgesetzten Prinzipien werden durch Vergegenständlichung der Bedeutung gegenwärtig gehalten und so als Kontrolle genutzt. Die dritte Bedingung für Autonomieerwerb des Subjekts wird von dieser Gruppe geleistet durch Rückvermittlung ihrer Weltbilder in die Geschichte der Gesellschaft, zu der sie gehören; präziser: das Weltbild entsteht in der Anstrengung, sich Geschichte anzueignen. Sie wissen, daß eine jeweilige Gegenwart selbst bei größter Anstrengung nur einen Bruchteil dessen als denkbare oder verwirklichte Möglichkeiten menschlicher Lebensäußerung anbieten kann, was aus der Geschichte als Leben von Menschen rekonstruierbarist.Sie messen die gesellschaftliche Entwicklung daran, wieviele der bisher im Verlauf der Geschichte nur möglichen, aber nicht verwirklichten Lebensformen in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gegenwärtig gehalten werden.

5.11 Funktion des heutigen Kultursubjekts

Es dürfte bisher ein hinreichendes Maß an Aussagen geliefert worden sein, um die nachfolgenden exemplarischen Funktionen des Kultursubjekts im heutigen Kunstbetrieb als einigermaßen sinnvoll erscheinen zu lassen:

  1. Das autonome Kultursubjekt sollte in der Lage sein, im subjektiven wie im öffentlichen Bereich die Differenzen zwischen Anspruch und Erfüllung, zwischen Selbstverständnis und faktischem Verhalten, zwischen vorgegebenem Normenrahmen und Urteilspraxis Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen aufzuspüren und zu nutzen. Anstatt den Widerspruch in einer Ideologiekritik nur darzustellen und auszudrücken, daß es selbst von derartigem Widerspruch frei sei, sollte es Anspruch, Selbstverständnis und Normenrahmen der Einzelnen wie der Gruppen zunächst einmal beim Wort nehmen und auf ihrer Einlösung bestehen. Mit einem mißverständlichen Wort: das Kultursubjekt sollte in der Lage sein, eine affirmative Strategie als Form der öffentlichen, sprich politischen Kontrolle anzuwenden. Dazu bietet gerade eine aufgeblähte Bürokratie reichlich Gelegenheit. Bürokratie ist immer anfällig für das Entstehen systemimmanenter Widersprüche, da sich gerade eine aufgeblähte Bürokratie nicht mehr daraufhin kontrollieren kann, wie weitgehend sie sich auf einander widersprechende Entscheidungen stützt. Es ist nicht zu verstehen, warum ausgerechnet die Subjekte, die die affirmativen Strategien entwickelt haben, sie als heutige Kultursubjekte nicht mehr zu nutzen wissen, wo doch in politischen wie wissenschaftlichen wie industriellen Produktionsbereichen Affirmation als Strategie kreativen Arbeitens längst systematisch eingesetzt wird: allerdings gegen die Subjekte und ihren Anspruch auf Geltung.
  2. Wesentliches Handlungspotential der Kultursubjekte sollte aus Setzungen hervorgehen. Eine Setzung ist eine Vorgabe von Bestimmtheit. Jeder hat die Erfahrung gemacht, daß beispielsweise über schwierigere Themen, die aber alle Teilnehmer eines Kolloquiums interessieren, gar nicht kommuniziert werden kann, ohne daß einzelne aus der Runde Setzungen als Aussagen vorgeben. Erst an solchen eingebrachten Setzungen wird es den Teilnehmern möglich, in Abgrenzung und Identifikation das vorgegebene Thema als ein bearbeitbares Problem sich und der Runde verfügbar zu machen. Erst durch solche, von außen gesehen willkürlichen Setzungen werden Problemdarstellungen möglich, die über die schon mitgebrachten Erwartungen und Vorstellungen der Teilnehmer hinausgehen. Diese Fähigkeit zur Setzungshandlung eignet nicht nur Subjekten in Vermittlerrollen, sondern vor allem auch Künstlern, Musikern, Literaten, die ihre Arbeiten als Auslöser für Aufmerksamkeit einem Publikum unvermittelt worsetzen.
  3. Die dritte Fähigkeit sollte als Rückvermittlung von Techniken und Strategien, die in einem Handlungsbereich exemplarisch ausgebildet wurden, in andere Handlungsbereiche verstanden werden. Im Kulturbereich heißt das vor allem, die in Kunst, Musik, Literatur entwickelten Wahrnehmungsformen, Vergegenständlichungsformen, Inszenierungen von geschlossenen Handlungen in konstruierten Spielräumen, in die Alltagswelt zu transferieren. Diese Fähigkeit zu einer nichtidentischen Übertragung ist auch gleichzeitig Mabstab für den Grad der Entfaltung eines Individuums. Er nimmt im Hinblick auf Aussagen die zeitgemäße Bedeutung ein, die in der Frühzeit der bürgerlichen Subjekte der geplanten oder experimentellen Abweichung im Verhalten zukam.
  4. Jede Kosten-Nutzen-Analyse belegt, daß die Ökonomie der Entscheidungsprozesse verbessert werden kann, wenn statt vieler schwerfälliger Gruppen eine Vielzahl von Einzelentscheidern tätig ist, zumal die Praxis zeigt, daß sich in Gruppen letztlich doch wieder Einzelne durchsetzen, die sich den Formalismen besonders eingehend widmen und den formalistischen Gruppenkonsens zu einer geradezu feudalen Demonstration uneingeschränkter Legitimation der eigenen Aussagenautorität benutzen. Unnötig darzulegen, aber doch vorsichtshalber zu erwähnen, verbleibt, daß die bisherige kleine Gruppe von entscheidungsbefugten Kultursubjekten noch längst nicht die hier vorausgesetzte Vielfalt repräsentiert.