Zusammenfassung eines Interviews, das Nicole Colin und Joachim Umlauf im Januar 2018 mit Bazon Brock im Goethe-Institut Amsterdam führten
HIGH AND LOW / E UND U
Das zentrale Motiv der bildenden Kunst in den 1960er Jahren war sicherlich die programmatisch verkündete Aufhebung der Trennung von High und Low. 1990 hat Kirk Varnedoe, damals Direktor des Department of Painting im Museum of Modern Art in New York, eine Ausstellung zu dieser Thematik konzipiert; der Ausstellungskatalog ist eine Art Bibel, in der alles zu diesem Komplex zusammengefasst ist. Der Ausdruck Pop-Art meint im Englischen und Amerikanischen ja tatsächlich zunächst einmal Popular Art, die vor allem durch Richard Hamiltons Collage »Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?« in der Londoner Ausstellung »This is tomorrow« 1956/57 eine zentrale Bedeutung erhielt.
Als Sinnbild des Populären sogar im Sinne von populistisch wurde dort ein punching ball mit der Aufschrift »Pop« gezeigt. Pop verweist auf Trainingsformen von Boxern: Popular Art trainiert sich durch punching der High Culture in deren Institutionen wie etwa den Museen, um Einlass in die heiligen Hallen zu erkämpfen. Letztlich handelte es sich also um einen Machtkampf zwischen High und Low und nicht um die Aufhebung der Differenz von E und U, von Hochkunst und bloßer Unterhaltung. Aber zweifellos wollten die Pop-Artisten ihre Überlegenheit über die Kunst der bürgerlichen Eliten demonstrieren.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich hierin allerdings ein bemerkenswerter Widerspruch: Warum wollten denn eigentlich diejenigen in die Museen hinein, die als Pop-Artisten gerade diese Institutionen der bürgerlichen Hochkunst schmähten? Das versteht man besser, wenn man sich daran erinnert, dass ausgerechnet die Vertreter der höchst anspruchsvollen Sezessionistenbewegungen und der Musik-Avantgarde bereits radikal gegen den Musealbetrieb der Klassikertradition polemisiert hatten. Der Neutöner Pierre Boulez, Generationsgenosse von Richard Hamilton, forderte Mitte der 1950er Jahre sogar, die Spielstätten der bürgerlichen Hochkünste in die Luft zu sprengen, ein etwas verspäteter Nachklang der Gewaltphantasien von Futuristen vor dem Ersten Weltkrieg.
Der Grad der Aggression richtet sich nach der Bedeutung, die man dem Objekt, das man angreift, einräumt. Dieses Prinzip zeigt sich bereits im byzantinischen Bilderkrieg: In den Jahren 735-814 kämpften die Kaiser in Byzanz gegen die Klöster, die ihrer Ansicht nach zu viel Macht bekommen hatten, weil die Bevölkerung die Ikonen im Klosterbesitz als Heilsvermittler sehen und anbeten wollte. Die Klöster erhielten so viele Erbschaften und Schenkungen, dass sie schließlich ökonomisch und spirituell mächtiger wurden als der Kaiserhof. Damals zeigte sich bereits, dass die Bilderstürmer, also die Ikonoklasten, die eigentlichen Bilderverehrer sind, weil sie die Macht von Bildern anerkennen und unerwünschte Bildwirkungen bekämpfen müssen. Ikonoklasten, die Bilderstürmer, sind also die wahren Bilderverehrer, griechisch Ikonodulen; die Toleranz der liberalen Bilderfreunde ist letztlich nur kaschierte Gleichgültigkeit.
In die neuere Zeit übertragen, bestätigt sich dies: Die größten Förderer der Kunst im 20. Jahrhundert waren Stalin und Hitler. Sie gingen mit so großer Gewalt gegen den Geltungsanspruch von Künstlern vor, dass sie damit letztlich die Wirkungsmacht der Kunst bestätigten.
Wenn ein Hitler meint, ein paar Quadratmeter bemalte Leinwand könnten ganze Gesellschaftssysteme stürzen oder die Kraft von Armeen konterkarieren, ist das die größte Bestätigung der Bedeutung und Wirkmacht von Kunst, die man sich überhaupt vorstellen kann.
NEGAFFEN – ZUSTIMMUNG ALS WIDERSPRUCH
Dieses Prinzip hat dann auch die Pop-Bewegung in den 1960er Jahren getragen: Die Macht der Künste lässt sich nur darstellen, indem man ihre Gegner provoziert. Denn allein der Gegner bestätigt, dass ein Wirkungsanspruch berechtigt ist. Das bedeutet: Wir integrieren die Gegnerschaft in das System, und wenn wir keine Gegner haben, müssen wir welche schaffen. Aus diesem Grund erzeugen die Künstler ihre eigene Gegnerschaft, damit ihre Geltungsansprüche ernst genommen werden. Die Pop Art-Bewegung hat also gezielt die Feindschaft des Volkes gegen die intellektuelle Hochstapelei hervorgerufen, indem sie die Vorurteile, den Widerstand gegen die High Culture, d.h. gegen elaboriertes Positionieren in Theorie umbaute. Das war natürlich eine bis dato nicht allgemein gekannte Form der Provokation. Wenn Andy Warhol seine Popularisierung betrieb, dann bestand die Zumutung für den Kleinbürger darin, dass da jemand banalen Siebdruck von Massenmedienfotos als Kunst ausgab. »Und das soll Kunst sein?« Diese Frage war letztlich der Inbegriff des Widerstandes, der provoziert werden sollte.
In einem zweiten Schritt griffen die Künstler dann selber diese Frage in einer ironisierenden Form auf: Warhol, Polke, Rauschenberg, Vostell, Ironiker wie Joseph Beuys und Johannes Blume, Karikaturisten wie Tomi Ungerer oder Ronald Searle. Wieso kann das denn Kunst sein? Polke antwortete: »Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen!« Dem Befehl höherer Wesen zuzustimmen, heißt lateinisch zu affirmieren. Herbert Marcuse hatte als treu konservativer Deutscher noch in seinem Buch Über den affirmativen Charakter der Kultur die volkstümliche, also naive Vorstellung propagiert, Zustimmung heiße Unterwerfung und wer sich unterwerfe, dürfe nicht als modern, widerstandskräftig, aufgeklärt und autonom gelten. In den Augen von Marcuse war bürgerliche Hochkunst durch Zustimmung/Affirmation zu den Besitz- und Machtverhältnissen gekennzeichnet. Wenn Warhol erklärte, das Schönste an London sei McDonald’s, das Schönste an Paris, New York, Rom sei McDonald’s, leider gebe es in Moskau und Peking noch nichts derart Schönstes, dann wollte er sich nicht den geltenden Macht- und Besitzverhältnissen unterwerfen, sondern ganz im Gegenteil die Skala der kapitalistischen Bedeutsamkeiten ironisch unterlaufen. Die vermeintliche Zustimmung war also ein Widerspruch, die Affirmation meinte Negation, kurz NegAff. Deswegen nannte ich als Hauptentwickler der negativen Affirmation in Deutschland mich selbst einen NegAffen. Der bekannteste Neck-Affe der 68er Bewegung war Fritz Teufel, der sich bereiterklärte, vor Gericht aufzustehen, »wenn es denn der Wahrheit dient«. Er gab das kostbarste Beispiel für Souveränität und Aufgeklärtheit eines geistesgegenwärtigen Generationsgenossen.
Dabei verweist Ähnlichkeit der Lautung von Necken und Negieren auf ein zentrales Motiv der Entwicklung von Kunst und Wissenschaften in Europa. Wenn noch Max Ernst die »Versuchung des Heiligen Antonius« als Gemälde provokant konzipierte, konnte es nicht mehr um Versuchung durch Nacktheit oder Völlerei gehen, vielmehr ist jede Untersuchung nur als Versuchung durch den Gegenstand des Interesses zu werten – also führt sich Max Ernst als Künstler in Versuchung durch seinen eigenen Kunstanspruch. Das ist bedeutsam, denn das Vaterunser bittet ja Gott, den Gläubigen nicht in Versuchung zu führen. Das Gegenteil gilt für Künstler und Wissenschaftler, es geht darum, in der Versuchung zu bestehen, statt sie zu vermeiden. Das hat für die Glaubwürdigkeit von Künstlern und Wissenschaftlern große Bedeutung. Wenn Professor Forßmann zur Zeit der Pop-Artisten als Mediziner das Diagnose- und Therapieinstrument »Herzkatheter« erfindet, muss er dessen Brauchbarkeit in einem Selbstversuch als Selbstversuchung beweisen. Sich selbst führte er den Katheter ein und nicht einem menschlichen Versuchskaninchen.
Genau dieses Prinzip der Selbstbezüglichkeit begründet in Kunst und Wissenschaft jede versuchsweise Untersuchung als Selbstversuchung. Stimulus ist die Selbsterregung, weshalb man auch heute noch in der Öffentlichkeit Künstlern, Wissenschaftlern, Intellektuellen Dauererregtheit im sozialen und politischen Kontext vorhält. Negative Affirmation fußt also auf der Tradition der romantischen Ironie von Friedrich Schlegel. Kabarett, Satirezeitschrift, Comic (nach Toepfer und Wilhelm Busch) entwickeln sich zu Organen der erkenntnistheoretischen Hochleistung, die größere Öffentlichkeit erreichen als die Schwarten der etablierten Philosophieprofessoren. Pop Art knüpft bewusst etwa unter dem Begriff »Agit-Pop« an die »Agitprop«-Leistungen der 1920er Jahre von George Grosz, Brecht, Weill, den Brüdern Wieland Herzfelde und John Heartfield und an die großartige Bewegung der »Proletkunst« an.
Wie richtig alle unsere Überlegungen zur negativen Affirmation waren, bewiesen damals zwei sozialpolitisch extrem wirksame Ereignisse: Die Zeitschrift Stern organisierte die Selbstanzeige von tausenden Frauen, abgetrieben zu haben. Dieses Massenbekenntnis verhinderte die gerichtliche Verfolgung nach § 218 StGB und damit war der Geltungsanspruch des Paragrafen bald erledigt.
Das zweite Ereignis, durch das die negative Affirmation, also Ja-Sagen als höchste Form des Widerstands bestätigt wurde, war der Arbeitskampf der Fluglotsen. Fluglotsen waren Beamte und durften deswegen nicht streiken. Da die Missstände bei der Kontrolle des Luftraums lebensbedrohlich geworden waren, die Politik aber geforderte Veränderungen ablehnte, führten die Fluglotsen den »Dienst nach Vorschrift« ein. Das kam der Sabotage gleich, denn in der Praxis gilt, dass man nicht den Buchstaben einer Regelung, sondern die dahinterstehende Konzeption befolgt. Wer Dienstvorschriften wortwörtlich nimmt, sabotiert allein deshalb schon den Betrieb, weil, wie die Rechtspraxis demonstriert, allein die Verständigung über die Bedeutung der einzelnen Begriffe endlos zu sein pflegt. Der »Dienst nach Vorschrift« erwies sich als ein derartiges Desaster, dass sogar die bürokratischsten Federfuchser des Politikbetriebs mit Gewährung der geforderten Veränderungen reagieren mussten.
WISSEN SCHÜTZT VOR DUMMHEIT NICHT
Das Provozieren wurde zum Markenzeichen von Aktionisten, z. B. den holländischen Provos. Je mehr Vorurteile aktiviert/provoziert wurden, desto wirksamer war die Aktion. Keinesfalls ging es um die Überwindung von Vorurteilen. Es gab also in dieser Hinsicht 1968 keinen grundlegenden Wandel, auch nicht in sexueller Hinsicht. Man war »so klug als wie zuvor«, also genauso dumm wie vor der Belehrung, denn Wissen schützt vor Dummheit nicht. Das bestätigte sich damals vor allem in den massenhaft neu etablierten Unis mit ihren ach so aufgeklärten Jungprofessoren. Das Postulat des einfühlenden Verstehens ist nur sehr bedingt umgesetzt worden: Auch wenn Homosexuelle heute heiraten dürfen, hat das an den grundsätzlichen Einstellungen wenig geändert. Denn liberale Toleranz ist vor allem Gleichgültigkeit, unverbindliche Maskierung, hinter der man sich verstecken kann, so wie sich die Willy Brandt-Wähler damals hinter der BILD-Zeitung versteckten. Brandt zu wählen, hieß, sich gegen FDP-Opportunismus und leeren Konservativismus der CDU zu stellen. Das Risiko solcher Kindheiten minderte man durch ostentatives, öffentliches Interesse an der BILD-Zeitung und ihrer Position. Denn groß war die Überraschung, als 1969 nachweislich ausgerechnet die BILD-Zeitungsleser in ihrer Mehrheit Willy Brandt gewählt hatten.
EVOKATION
Für Künstler hieß Pop Art eigentlich Evokation, nicht Provokation, denn letztere zielte nur auf Kleinbürger. Die Evokation betraf hingegen das künstlerische Arbeiten selbst: Welchen Widerspruch oder Widerstand erzeugt das Metier aus der Logik des Schaffens heraus? Das System der Künste, so wie es auf der Idee von der Autonomie der Kunst seit 1400 aufgebaut und auch noch im Grundgesetz, Art. 5.3, verankert ist, erweist sich als stärkste Herausforderung: Wer ist schon dem Anspruch auf Autonomie in Freiheit gewachsen?
Autonomie besagt ja nicht, dass man Herr des Verfahrens ist. Freud hat schon gelehrt, dass man nicht einmal in der eigenen Psyche Herr seiner selbst ist. An die Stelle der Behauptung von Autonomie im Schaffen tritt daher die Analyse der schöpferischen Verfahren, was schließlich dazu führt, dass man, wie in der Prozesskunst oder im »offenen Kunstwerk«, die 1957 in Frankreich von Roland Barthes in Analogie zu Karl Poppers »offener Gesellschaft« in die Welt gebracht wurden, gar kein Resultat mehr abliefert. Die künstlerische Arbeit besteht also überwiegend in der analytischen oder sonstigen Beschäftigung mit dem Prozess des Hervorbringens.
Pop Art kann in diesem Sinne als Balanceakt zwischen Evokation und Provokation bezeichnet werden: Provokation für das Publikum (Das soll Kunst sein?) und Evokation für die Künstler, die Antworten auf die Fragen nicht mehr an das Publikum delegieren konnten, sondern selber tätig werden und eigene Antworten finden mussten. Auf diese Weise wurden sie zu ihrem eigenen Publikum und ihren eigenen Kritikern und haben diesen Prozess teilweise fast mit einem Anspruch auf erkenntnistheoretische Tiefe vollzogen. Polke lieferte 1972 in Münster eine vollkommene Analyse der Bildgeschehnisse als Ausstellung ab, eine Art inszenierter Lehrveranstaltung. Das Provokationsverfahren zeitigte nach Außen große Wirkung und zwar doppelt, im kleinbürgerlichen und im großbürgerlichen soupçon, d.h. durch die Offenlegung der Vorurteile der Kleinbürger und der Bildungsbürger gleichermaßen. Großbürger haben den Braten sofort gerochen, allen voran der Schokoladenfabrikant Ludwig, der schon 1962 in das Pop-Geschäft eingestiegen ist.
Das Generalmotto lautete: Wer kauft, braucht keine Argumente.
Die Affirmationsstrategie stellte das Muster zur Verfügung: Nie wird gefragt, warum man zustimmt; es wird immer nur gefragt: Warum bist du dagegen? Um zu sagen, »ja, das kaufe ich« oder »ich finde das großartig, das ist ja toll«, benötigt man keine Argumente. Aber wenn man etwas ablehnt, muss man sofort Gründe benennen, um nicht als Banause zu gelten. Der Aufstieg des Kunstmarkts basierte unter anderem auf der erfolgreichen Strategie von Bildungsbürgern, die intelligent genug waren, ihre Vorurteile dadurch zu kaschieren, dass sie Werke kauften, die sie eigentlich gar nicht wollten. Hätten sie sich dagegen gewandt, hätten sie das letztlich begründen und ihre Vorurteile damit ausdrücken müssen.
Wenn z. B. das, was in Büchern abgehandelt wird, den Großbürgern nicht gefällt, ist es am besten, die ganze Auflage einfach aufzukaufen. Das war die übliche Methode von Kapitalisten, sich der Pflicht zur Begründung von Kritik zu entziehen. In diesem Sinne ist der Kunstmarkt dadurch groß geworden, dass sich kompetente und leistungsfähige Unternehmer, auch aus den neuen Branchen wie der Werbung, nicht provozieren lassen wollten, ihre riskanten Vorurteile zuzugestehen. Stattdessen setzten sie auf die Attitüde der Zustimmung durch Kauf. Daher muss man immer die Möglichkeit der Bedingung des künstlerischen Arbeitens im Blick behalten und auch die Institutionen dazu auffordern zu bekennen, wer mit welchen Gründen über welche Kunstpräsentationen bestimmt.
Auf diesem Weg ging die alte europäische Formel »Autorität durch Autorschaft« verloren. Das führte zu einer Ästhetik ohne Ethik und zur Willkürbehauptung ohne Verantwortung. Der Markt begann, in einer Art Schüttel- und Rütteldynamik alles aufzuhäufen und als Sammlungsbestand zu kompostieren, was Künstlerproduktion ausscheidet: Manzoni füllte sogar die merda d’artista, also den Künstlerkot in Dosen ab. Entzückte Unternehmer- und Zahnarztgattinnen fanden es toll, endlich etwas ganz Substantielles in Händen zu halten; denn bis dato hatten sie Konservendosen nur als Überlebensmittel für einen jederzeit erwartbaren Atomschlag mit ihren gepflegten Händen bewegt.
Autorität durch Autorschaft war erledigt durch die Akzeptanz am Kunstmarkt; Kunstkritik wurde ersetzt durch Berichte über Auktionserfolge.
Um das zu ertragen, ließ man sich gern etwa von Diter Rot anleiten; er übertrug das Marktgeschehen auf die natürliche Abfallverwertungsdynamik der Natur. Er demonstrierte, wie Mikroben und Würmer, Bakterien und Schimmel die angemessene Interpretationshilfe für das Verständnis des Kunstmarkts bieten.
Die Vermittlung und Verbindung zwischen Marktgeschehen und Naturgeschehen, zwischen Geld und Geltung, zwischen Besitzen und Denken oder Hand und Hirn organisierten die Theater als amüsantes Erlebnisangebot. Auch bei ihnen galt Attraktivität, Stimulation, leichte Sprache und Gleichwertigkeit von Können und Nichtkönnen, von Wissen und Nichtwissen als moderner Schick. Die Theaterliteratur nicht zu kennen, nicht Sprechen gelernt zu haben und mit Menschen auf der Bühne so umzugehen wie die erfolgreichen Künstler mit Farbkleckserei und Modellbausteinchen, wurde offiziell nicht mehr als Defizit, sondern im Gegenteil als Ausweis alternativer Befähigung geschätzt. Und nicht mehr im Theater Theater zu spielen, sondern an event locations der Unterhaltungsgeilheit, sicherte den Theatern die Aufmerksamkeit der Touristikunternehmen und der Firmenjubiläumsgestalter. Immerhin kann man den Bühnenbildnern als Grabräubern der Kunstgeschichte zugestehen, dass sie Bilder zu Hauptakteuren der Unterhaltung gemacht haben und zusammen mit den Werbefritzen die Analyse alter Kunsthistoriker bestätigen, dass nämlich die ästhetische Macht längst von den Künsten auf die Werbung übergegangen sei, was der deutsche Großkritiker Julius Meier-Graefe bereits 1904 erkannt hatte.
MONSTRANZ UND DEMONSTRANZ
Aber nicht nur Bühnenbildner und Werber beraubten die Künstler oder brachten deren Konzepte zur Massengeltung. Ganz eindeutig gibt es Analogien zwischen den individualkünstlerischen und den kollektivkünstlerischen Leistungen. Dafür ein heute geläufiges Beispiel: Wir sind in Ausstellungen mit Teppichen konfrontiert, die vor 600 Jahren an der Südostküste des Kaspischen Meeres hergestellt worden waren. Wir gehen in solche Ausstellungen, weil sie uns ästhetisch höchst attraktiv erscheinen. Wie aber können die Produktionen von Kollektiven analphabetischer Angehöriger bäuerischer Kulturen vor 600 Jahren bereits ästhetisch so progressiv gestaltet worden sein, dass uns ihre Arbeiten heute faszinieren? Antwort: Durch die Arbeiten von Mark Rothko et al. ist unser Blick für diese Konzepte geöffnet worden; d.h. generell erfüllt sich der avantgardistische Impuls in den Werken von hochtrainierten heutigen Profis der bildenden Künste durch einen neuen Blick auf durch Konvention unsichtbar gewordene Arbeiten der Kulturtraditionen. Es gilt, dass nur diejenigen heutigen hochtrainierten Künstler wahre Avantgardisten sind, die uns einen völlig neuen Blick auf das vermeintlich Alte und bis zum Überdruss Bekannte ermöglichen oder sogar aufnötigen.
Das heißt in unserem Fall, dass uns die studentischen Demonstrationen, die als Beglaubigungen den hochgehaltenen Monstranzen der politischen Appelle folgten, eine neue Aktualität alter religiöser Bräuche eröffnen, die die Demonstranten als stolze Atheisten zumeist wegen völliger Veraltetheit ablehnten. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich u.a., dass in den 1960er Jahren so viele als Sozialrevolutionäre aktive Priester den Demonstrationen der ausdrücklichen Kirchengegner folgten. So merken viele 68er erst heute, dass sie gerade als Gegner des kirchlichen Leerlaufs die Bedeutung von deren Ritualen, Liturgien und propaganda fidei bestätigten.
Es gab beispielsweise 1967 eine Studentendemonstration in Frankfurt, auf der leere Plakate hochgehalten wurden. Das war der Höhepunkt der Monstranzdarstellung: Das, was gezeigt wurde, war eine Leerstelle, eine konkrete Programmatik gab es nicht. Künstler hatten das jedoch schon Jahre zuvor entwickelt und waren entsprechend verärgert, z. B. Vostell. Die Studenten haben sich davon natürlich nicht beeindrucken lassen. Treppenwitzigerweise wusste auch der spanische Künstler Hidalgo nichts von den Taten Vostells und plagiierte ihn genauso wie die Studenten. Natürlich haben weder Vostell noch Hidalgo direkten Einfluss auf die Bewegung genommen und die Demonstranten hatten auch nicht bewusst nach diesem Mittel gesucht, das brauchbar schien, ihre Forderungen zum Ausdruck zu bringen. Die Studenten wollten mit den Plakaten ja nicht die Großartigkeit von gestalterischen Leistungen bekunden, sondern das Denken der Anwesenden auf soziale und politische Bedenklichkeiten lenken.
Statt an Künstlerarbeiten knüpften die öffentlich wirksamen Aktionen der Studenten an Riten und Litaneien der Kirchen in Europa an. In den religiösen Umzügen war der Wirkungszusammenhang von Monstrieren und Demonstrieren extrem verbindlich entwickelt worden. Die Monstranz ist eine Zeigevorrichtung, um öffentlich die Präsenz des heiligsten, verehrungswürdigsten, wirksamsten Heilstums zu bekunden. Zum einen wird etwas schon in geringer Distanz Unsichtbares durch die Monstranz visualisiert, zum anderen das optische Sehen in Wahrnehmung des Spirituellen verwandelt. Vielleicht ist die bis heute großartigste Wirkung der Demonstration als Verfahren der Erzeugung von Öffentlichkeit die Erkenntnis der Teilnehmenden über den Zusammenhang von Monstranz und Demonstranz. Erst durch die Demonstranten im Körper der Demonstranz erhält die Monstranz ihre Bestimmtheit: Dafür stehen wir, daran glauben wir, das bekennen wir. Und weil man nur bekennen kann, was man weiß, erfüllt der Zusammenhang von Monstranz und Demonstranz das älteste Postulat der Einheit von Glauben und Wissen. Ich weiß, wofür ich einstehe, also woran ich glaube: das in Einheit Gedachte begründet das Hochgefühl von Demonstranten, durch ihre Teilnahme belehrt zu werden, Wissen zu erlangen. Im Extremen bezeichnet das Hochgefühl von Demonstranten, dass sie selbst zur Monstranz werden. Dafür steht bei den 68ern Rudi Dutschke.
PROPAGANDA UND WERBUNG
Schon Bertolt Brecht hatte mit seinem epischen Theater gezeigt, dass genau diese Monstranz auf der Bühne das Programmatische eines Stückes ausmacht. Insofern liegt der Anfang von Demonstranz, Happening, Performance, Action Teaching in der Praxis des religiösen Bekennens. Die Werbung macht für alle allgemein sichtbar, was vorher nur für die Angehörigen einer Glaubensgruppe galt. Werbung hat immer schon auf der Grundlage einer beliebigen und skrupellosen Benutzung künstlerischer Methoden und Konzepte existiert. Es gab in Sachen Liturgie und Ritual kein Urheberrecht für künstlerische Individuen. Das 2. Vatikanische Konzil 1962-65 gab viele der klassischen ritualisierten Vermittlungsformen des Gottesdienstes auf. Dankbar übernahmen Künstler, Werber und Politagitatoren die freigesetzten Formen. Die Argumentation war: Was wollt ihr eigentlich, ihr Künstler, ihr Gläubigen, die Werbung bestätigt doch durch ihre millionenfache Verbreitung die Wirksamkeit eurer Konzepte. Seid doch froh, dass endlich gezeigt wird, wie wichtig das ist, was ihr als veraltet aufgebt!
Hier zeigt sich übrigens auch, dass sich Benjamin mit seiner Behauptung irrte, die Aura des Werkes werde durch die technische Reproduzierbarkeit, also zum Beispiel massenhafte Verbreitung als Plakat, gestört oder vernichtet. Das Gegenteil ist der Fall. Je mehr Poster, desto bedeutsamer die Aura des Originals. Deswegen wurde in den 1960er Jahren die Künstlergrafik massenhaft als Sammelobjekt für kleine Etats propagiert. Heute lassen sich diese billigen Massenprodukte der Kunst kaum noch verkaufen, wodurch die Aura der großen Kunst nur umso stärker strahlt. Dieses Phänomen lässt sich im Hinblick auf den Einfluss der Werbung, der Propaganda in den Zeitungen, den Rundfunkanstalten und auch im Fernsehen beobachten, obwohl diese Medien damals noch nicht marktbestimmend waren.
Böswillige könnten behaupten, alles, was von ’68 geblieben ist, werde heute als Werbung und Politinszenierung, als Unternehmensberatung und Coaching-Strategie, als Reha-Maßnahme und Fitnessverpflichtung zum Gründungsimpuls der Kreativwirtschaft.
Vor allem das Problematische ist geblieben, nämlich einen Anspruch auf Wirkung zu erheben, der in dem Augenblick, in dem er geltend gemacht werden kann, also sich tatsächlich zeigt, kontraproduktiv wird. Die Forderung jedoch war, die Wirklichkeit der Einbildung, die Wirklichkeit der Ideologien auf die Bühne zu beschränken. Man darf nicht die Inhalte von der Bühne in Bayreuth nach München auf den Königsplatz übertragen. Denn das wird fundamentalistisch, jede 1:1-Übersetzung von Programm in Realisation ist terroristisch.
Alle diese Phänomene sind bedeutsam, weil sie nicht einmalig waren, also nicht auf ’68 beschränkt sind. In den Jahren nach 1968 kommt zum Beispiel heraus, dass der ganz normale Alltag des Lebens eine Sensation darstellt, denn rundherum, weltweit, herrschen Unrecht, Willkür und Gewalt als Krieg oder Wirtschaftssystem, als Erziehungsprogramm oder spirituelle Aufrüstung. Unser Motto und unsere Zeitschrift hießen ja in der unmittelbaren Reaktion auf ’68 »Die Sensation des Normalen«, also nicht des Außerordentlichen, nicht des Einmaligen, sondern des Normalen. Dahinter lag und liegt die Einsicht, dass es überhaupt nicht normal ist, dass etwas normal läuft. Die Normalität ist die Ausnahme in der Geschichte, die einzige rare Erscheinung in der Welt, eine Sensation eben. Das Naheliegende, die normale Situation des Lebens als das Spektakuläre zu begreifen, ist vorher nie praktiziert worden. Im Gegenteil, es wurde als biedermeierlich diskreditiert. Der Nachsommer von Adalbert Stifter als frühe Großmanifestation der Sensation des Normalen blieb in den Bücherschränken verborgen.
In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren sollte alles im Umbruch sein. Überall verlangte man mit kindlich pubertärer Selbstgewissheit das Neueste. Dadurch entstand der Eindruck von ewigem Kampf, von unablässigem Aktivismus der Künstler. Aber der einzige Aktivist, den es tatsächlich gab, war der Kapitalist und sonst niemand. Die kapitalistische Wirtschaftsform selbst gewährt nicht die Sensation des Normalen. Viele Künstler haben sich denn auch das kapitalistische Modell angeeignet, z. B. indem sie in die Werbung gingen und damit reich wurden. Das waren vor allem diejenigen, die vorher linkspathetisch antikapitalistisch aufgetreten waren.
KULTUR UND CHANCENGLEICHHEIT
Das Ganze endete in der schönen Illusion, es habe da einmal eine Generation gegeben, welche die Kraft besaß, die Gesellschaft zu verändern. Aber das ist natürlich Unsinn. Es waren die Werbung und die Industrie, die unter Ausnutzung künstlerischer Konzepte die Gesellschaft verändert haben – die Einstellung zum Präservativ oder zur Lust oder was auch immer –, aber nicht die gesellschaftspolitischen Aktivisten.
Globalisierung ist bei weitem kein Produkt der Erweiterung humanistischer Einheitskonzepte der Welt, sondern einfach nur Ausweitung der Märkte und Absatz der Produkte ohne Zollbeschränkung.
Zu sagen, es sei ein Fortschritt des Humanismus, dass es jetzt eine globale Welt gibt, ist reiner Unsinn.
Globalismus ist kein Fortschritt im Bestreben, die Menschheit als Einheit zu fassen oder gar ökologisch getrieben, sondern ganz im Gegenteil eine Methode, um sie noch besser ausbeuten und koordinieren zu können mit der Schutzbehauptung, wir täten das alles im Namen der Ökologie, der Erhaltung der Chancengleichheit und ähnlichen Schmonzetten.
Diesen Ideologien sitzt man auf. »68«, so wie es jetzt diskutiert wird, ist reine Ideologie und hat mit den Realitäten von damals gar nichts zu tun. Peter Iden und ich sind durch den Taunus gewandert, wenn die da unten, also in der Stadt Frankfurt, jener Hauptagentur der Werbewirtschaft, sich wieder einmal amüsierten. Michael Schirner behauptete, Werbung sei die neue Kunst, die wahre Kunst. Eigentlich eine Dummheit, aber der Sache nach ja richtig: Kunst erhielt ihre Wirksamkeit durch Werbung. Gerstner und Kutter waren Künstler, die solche Agenturen sogar gründeten und von dort aus ihren künstlerischen Anspruch in Gestalt der Werbung zur Geltung brachten. Das war überaus intelligent kapitalistisch gedacht, weil man für Werbung das Tausendfache dessen bekam, was man seinerzeit für ein Bild erhielt. Eine Werbeanzeige brachte dem Grafiker oder Texter viel, viel mehr ein als dem Künstler seine Tafelbildmalerei.
Die Intellektuellen behaupten immer, dass sie außerhalb dieser bewussten Zusammenhänge stehen, aber das ist natürlich nicht der Fall. Selbst ihre Positionen an der Universität werden heute aufgelöst und die Universitäten zu Agenturen ausgelagerter Produktentwicklungsarbeit für Firmen gemacht. Auch die Bezahlung der Universitätsangehörigen ist nicht viel mehr als eine Art Grundsicherung für Akademiker. In anderen Ländern wie Frankreich oder Italien war das immer schon so. Jetzt haben wir die Einheit Europas auch in diesem Bereich hergestellt: überall das gleiche Elend. Wir nannten die Bewegung damals »Diaspora für alle«. Jammert nicht über Ungleichheit, nein, Diaspora für alle, das ist die Erfüllung der Chancengleichheit, darauf läuft es hinaus: Unwirtlichkeit der Städte, ökologische Katastrophen überall und Ohnmacht aller.
AVANTGARDEN
Die frühen Avantgarden haben sich in einem ganz anderen Sinne verstanden, als das heute ausgegeben wird. Im Manifest der futuristischen Bewegung von Marinetti, 1909 im Pariser »Figaro« erschienen, kommt der Begriff beispielsweise gar nicht vor. Der Unternehmer wie der Kunstkursbesucher, die Werbung wie die Pädagogik meinen, dass Avantgarde die Überwindung des Alten und Herkömmlichen bewirke, die Kraft des Hinter-sich-Lassens sei, des Vergessens, der Befreiung vom Druck des Tradierten. Auratisch glänzt der Begriff des Neuen. Alles muss neu sein, um als attraktiv zu gelten. Aber bevor jemand als Konsument die Verpflichtung auf das Neue erfüllen kann, gibt es schon das nächste und übernächste neueste Neue. Neu ist demnach, was in allerkürzester Zeit veraltet, und es ist umso neuer, je schneller es veraltet.
Diese Auffassung von Avantgarde in der Kreativwirtschaft ist in den Künstleravantgarden nie gemeint worden, denn da wusste man, wenn etwas neu ist, ist es unbekannt und hat deshalb keine Bestimmung. Alles, was unkenntlich, unbestimmt zu sein scheint, macht Angst, die sich manifestiert, indem man das bestimmungslos Neue entweder leugnet mit »nichts Neues unter der Sonne, alles ist schon mal dagewesen«, oder es aggressiv zerstört. Das sind ziemlich kontraproduktive Strategien.
Produktiv wird die Konfrontation mit dem Neuen als Unbestimmtem und Unbekanntem, wenn man der Logik folgt, dass man nur unter Bezug auf das Neue sinnvoll vom Alten sprechen kann. Unter dem Druck des Neuen, das selbst bestimmungslos leer ist und deswegen angstmachend und aggressiv wirkt, wendet man vertrauensvoll den Blick auf das Alte, Gewohnte, Konventionelle. Und dabei zeigt sich die wahre Bedeutung des Neuen, das selber inhaltslos ist, als Zwang, sich den vertrauten Konventionen zuzuwenden und dabei zu erleben, wie sich der Blick auf das Alte häufig ganz radikal verändert. Wirklich neu ist, was einen neuen Blick auf das Alte erzwingt, das man plötzlich so wahrnimmt, als hätte man es noch nie gesehen. Das ist in der Kulturevolution als ressourcenschonendes Verfahren entwickelt worden, weil es ökonomisch und ökologisch unsinnig wäre, dass etwa jede Generation sich ihre neue Welt schaffen wollte; vielmehr hat jede neue Generation die Chance, unter dem Druck des von ihr propagierten Neuen die alte Welt in völlig neuer Bedeutung zu sehen und zu nutzen.
Seit 1600 war beispielsweise in Palästen, Kirchen und höfischen Sammlungen die Malerei von El Greco nur bestimmten Kreisen präsent. Erst unter dem Druck der Dresdner Expressionisten und ihrer als völlig neu empfundenen Malerei entwickelte sich ab 1908 eine neue Sicht auf die Malerei von El Greco.
Seit langem kannte man merkwürdig »primitiv« aussehende, 3500 Jahre alte Kulturrelikte der Kykladen im Mittelmeer. Die Objekte galten bestenfalls als Vorstufe auf dem Wege zur klassischen Skulpturenauffassung und interessierten höchstens ein paar Archäologen. Unter dem Druck des Neuen, der in diesem spezifischen Fall vom Werk des Bildhauers und Malers Giacometti ausging, entdeckte man die Kykladen-Relikte als höchst interessante, eigenwillige Träger ganz modern wirkender Darstellungskonzepte.
In großartiger Weise haben sich die tatsächlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts als produktiv erwiesen. Die vielen Museumsneubauten wurden nötig, weil wir Beispiele für die neue Sicht auf die alte Welt präsent halten müssen. Kaum eine geschichtliche Erscheinung ist von der Neubestimmung des Alten durch die Avantgarden nicht berührt worden. Eine ähnliche Dichte des avantgardistisch Neuen gab es bestenfalls im Griechenland des 5. Jahrhundert v. Chr. oder im Norditalien des 15. Jahrhunderts n. Chr. Die Avantgarden schufen also die Attraktivität des historisch Überlieferten und längst konventionell Gewordenen. Da dieser Aspekt der Verpflichtung von Moderne auf Neuheit gerade zur Sicherung des Alten in neuer Attraktivität führt, konnte sich das Bürgertum der Mittel- und Oberschicht so hingebungsvoll einsetzen, wie das die Gründung von Kunstvereinen, Museen und anderen Bildungseinrichten für jedermann, vor allem auch für die Arbeiter, belegt. Insgesamt wurde in der 68er-Kultur durch »Lernen von Las Vegas«, durch »alle neue Kultur kommt aus der Neuverwertung von Veraltetem und Verbrauchtem«, durch »Bewahrung der Erde in neuer Ökonomie«, durch Re-birthing, Re-defining, Re-reading etc. die Entwicklung vorangebracht.
»Re-« und »Anti-« wurden durch die 68er zu Helden der Kulturdynamik.
Die Reformulierung der Reformpädagogik, ja der Lebensreformbewegung im allgemeinen, die Wiederentdeckung der Gartenstadtbewegung und des alternativen Landbaus sind Beispiele für die Wirksamkeit der Avantgarde und in diesem Sinne wollte jeder 68er Avantgardist sein.
MUSEALISIERUNG
Die Funktion des Museums besteht darin, Ewigkeitsagentur für das Vergangene zu sein, das nicht vergehen darf, damit es immer wieder Neues geben kann. Vergangenheit wurde sprichwörtlich zu dem, was nicht vergeht. Verginge sie, so hätten wir keine Vergangenheit. Da aber alles Gegenwärtige die Vergangenheit von morgen ist, würden wir uns als heute Lebende selber verleugnen als die, die übermorgen noch existieren wollen. Im rauschhaften Entwicklungsprozess der Dynamiken der ersten vier Etappen der Industriellen Revolution wurde folglich die Musealisierungstendenz groß. Musealisierung entpuppte sich als eigentliche Zivilisationsstrategie des industriellen Zeitalters. Insofern kann man sagen, der Erfolg der Avantgarde ist die Sicherung der Tradition gerade als lebendige und nicht als weggesperrte, ausgegrenzte, abgeschiedene. Das Museum erzwingt und erhält die Chance, unter dem Druck des Neuen die Bestände auf immer neue Weise in der Gegenwart wirksam werden zu lassen. Alles wahrhaft Neue kommt aus dem Museum, also aus der Vergangenheit, die nicht vergeht, während das Veralten des neuen Neuesten die Löschung und Zerstörung des Alten als Voraussetzung für das Neue propagiert.
FRANKREICH
Wir waren seit 1957 sehr häufig in Paris, mehr oder weniger jedes Wochenende, denn Daniel Spoerri, dieser wahrscheinlich damals effektivste Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, hatte ein Motorrad. Und auf diesem konnten wir, ich hinten als Sozius, nach Darmstadt sausen. Da trafen wir auf den Amerikaner Emmett Williams, Redakteur bei der Zeitschrift »Stars and Stripes«, deren zentrale Redaktion in Darmstadt in den Kasernen der Amerikaner angesiedelt war, und seine Frau Polly. Sie kauften einen VW-Bus und von 1958 an fuhr die ganze Truppe – Claus Bremer und seine Frau Nusch, Spoerri und seine Frau, die Fotografin Vera, Polly und Emmett Williams und ich – in diesem Bus nach Paris, meistens samstags Nacht, denn am Montagabend mussten wir wieder zurück sein. Auf diese Weise vermittelte Spoerri den Kontakt zu den neuen Realisten um Pierre Restany, zu denen alle interessanten Individuen der Pariser Szene gehörten, von Yves Klein bis zu Jean Jacques Lebel, von Dufresne bis zu Hains und Villegle, allesamt Großmeister der Stiftung von Öffentlichkeit und des Stadtraums als Arena/Agora.
In der Galerie »Soleil dans la tête«, das war unsere Hauptagentur, trafen wir die Situationisten, deren Rolle übrigens überbewertet wird. Wir alle haben die gleiche Rolle gespielt, alle befanden sich auf demselben Niveau. Situationisten und Lettristen werden gerne in einen Topf geworfen. Dem ist aber nicht so. Die Lettristen waren Formalisten, die wie Eugen Gomringer und Claus Bremer in Deutschland an der Bildwerdung des Textes arbeiteten und Typographie und Layout als produktive poetische Verfahren betrachteten. Typographie und Layout waren im Barock bedeutungsstiftend geworden und in der Gestaltung der frühen Moderne Garanten der Vormacht der Propaganda, Reklame und Werbung. Insofern hatten die Lettristen mit den Situationisten überhaupt nichts zu tun. Man könnte vielleicht sagen, die einen malten die Stadtpläne und die anderen boten Stadtführungen an. Die Situationisten waren diejenigen, die Stadtführungen anboten. Man ging durch die Stadt und an allen möglichen Stellen wurde experimentell erprobt, was passiert, wenn man Schriftzüge verändert oder irgendwo etwas hinhängt oder abreißt oder inszeniert, also collagiert oder decollagiert. Man schaute, was am nächsten Tag noch davon übrig war oder wie die Leute reagiert hatten. Das war sozusagen Stadtsoziologie in Wiederanknüpfung an die Ansätze der 1920er Jahre, als man für Programme des sozialen Wohnungsbaus unbedingt herausfinden wollte, was eine Stadt ausmacht.
Neben den Situationisten und Lettristen wurde der Blick auf die Dynamik des städtischen Lebens damals von den Strukturalisten beeinflusst, die gelernt hatten, mit der Kenntnis von »primitiven, archaischen, vormodernen Kulturen« die eigene Kultur zu analysieren, um dabei festzustellen, dass alle Kulturen den völlig gleichen Entwicklungsgesetzen unterworfen sind. Der aus dem Urwald zurückgekehrte Anthropologe erkannte in den Bewohnern der Großstädte genau die gesellschaftlichen Kräfte wieder, von denen sich die Modernen gerade als von etwas völlig Veraltetem glaubten verabschiedet zu haben. Die strukturalistische Methode ließ uns alle sehr produktiv werden. Die eigene Stadt wurde zum Asphalturwald, zum Asphaltdschungel. Diese Metaphern wurden tatsächlich programmatisch umgesetzt; man bewegte sich in der Stadt wie in der exotischen Ferne. Diese Exotisierung von Paris geschah in einer Art Überblendung der real gegebenen Situation der Stadt durch das, was in ihr literarisch und bildkünstlerisch geschaffen wurde. Man war ein lebendiger Projektor und glich das Bild im Kopf mit dem ab, was man sah. Das war immer das Erleben einer kognitiven Dissonanz, die Differenz von Evidenz und Wissen, Begriffsarbeit und Blick. Genau das machte die Interessantheit von situationistischer, strukturalistischer oder lettristischer Sicht aus. Die Einheit des Vorgehens war schon in der Antike bekannt: Man muss etwas zeigen, man muss es sprachlich bestimmen und ansprechen, also darüber reden, was man sieht, und dann selber in Aktion treten, selbst wenn die Handlungsformen so reduziert sind wie im Kulturtourismus oder einst beim Besuch des Orakels von Delphi oder heute des Louvre. Paris bot für dieses Vorgehen durch die Arbeit der Generation Baudelaire die besten Bedingungen, die Walter Benjamin in der uns damals noch unbekannten Großuntersuchung über Paris als »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« rekonstruiert hatte.
In Paris habe ich 1963 bei den Sommerfestspielen, die Tardieu organisierte, den 1. Preis gewonnen. Daniel Spoerri hatte Zugang zu den höchsten Kreisen, wie sie durch Peggy Guggenheim repräsentiert wurden, deren Salontüren für uns aufgingen. In den Salons applaudierte die bürgerliche Elite uns kleinen Abkömmlingen der Nazi-Monstrositäten, obwohl sie eigentlich nur jemanden akzeptierten, der einwandfrei im Französischen die Konjunktive zu bilden wusste. In dieser Situation habe ich einfach meine Bühnensprache weiter durchgezogen, eine Art Sprachautomatismus der Kreatur.
Ich habe demonstriert, dass in gleicher Weise, wie Fische aus Sauerstoffnot auf den Tischen zappeln, wir unsere körperlichen Befindlichkeiten auf die Art der sprachlichen Verständigung, die wir ausüben, übertragen. Das ist dann ganz gut gelaufen. Der entscheidende Genuss im Zugang zu Mme Peggy bestand, wie Spoerri das so grandios übermittelt hat, in der Chance der Künstler, ein wohliges Freitagsbad zu nehmen. Peggy wollte, dass ihre Tochter Pegeen durch den Kontakt mit Künstlern der Restany-Gruppe gefördert würde, denn Peggy Guggenheim wollte unbedingt beweisen, dass der Kontakt mit Künstlern jeden zu künstlerischer Arbeit zu stimulieren vermag.
LONDON UND AMERIKA
Paris galt damals zwar noch offiziell als das Zentrum der Bildenden Kunst, wurde aber spätestens Ende der 1950er Jahre durch London ersetzt. Es gab immer noch ein paar Highlights, die aus Paris kamen, wie Yves Klein, der bei Iris Clert noch als Hauptattraktion die Aktion Blau machte, aber in London gärte es und ab 1964 fuhren wir so oft wie möglich nach London und nicht mehr nach Paris. Es war wie ein Wechsel im weltbildlichen Angebot. Plötzlich führten alle Wege nach London. Warum? Wahrscheinlich war der amerikanische Kultureinfluss durch Hollywood, Rock’n’Roll mit Elvis Presley und dazugehöriger Musikindustrie, Nashville-Country, Raumfahrt und Waffenglanz übermächtig geworden. Da interessierte uns, was die Altmeister des untergegangenen britischen Imperiums den USA entgegensetzten mit stiff upper lip-Haltung, Teezeremonie, Königinnenglanz, Tweedkostüm und ihrer modernen Manifestation in der Beatmusik der Beatles, TV-Satire, Landschaftspflege resp. Gartenbau und der schönen Skulpturierung von Frauen durch die Erfindung des Minirocks. Man wollte als Europäer wissen, wie Engländer, die ja die gleichen Kulturwurzeln wie die Amerikaner hatten, sich gegen die amerikanische Dominanz wehrten.
Der Widerstand aus England war ganz wesentlich an die Popkultur geknüpft, mit Richard Hamilton als zentraler Figur und vor allen Dingen der Sozialstruktur der bands. Man darf nicht vergessen, dass die amerikanischen Heroen der »pop art« in Europa, wesentlich in England und Deutschland, und nicht in den USA als neue Repräsentanten der Kunstentwicklung durchgesetzt wurden.
Im Europa der Moderne hatten alle Künstler immer davon geträumt, das mittelalterliche Klostermodell als produktive Lebensgemeinschaft wieder einzuführen: Das »Bauhaus« hatte die Idee der Bauhütte und der klösterlichen Gemeinschaft als Einheit von Arbeits- und Lebensform so wiederzubeleben versucht, dass das Arbeiten selbst zum Gebet wird, materiell physische Arbeit und Spiritualität eins sind und nicht mehr in Physik und Metaphysik geteilt. Diese Vorstellung hatten eigentlich alle und die band, also eine Kollektivautorschaft, war ein Musterbeispiel dafür – aber eben nur im Bereich der Musik.
London verlor jedoch innerhalb von fünf Jahren die Vorrangstellung an New York. Die New Yorker Strategie mit der »Warhol Factory« etc. entwickelte deutlich mehr Wirksamkeit als das Londoner oder Pariser Modell. Vor allem hat Andy Warhol mit der Factory den Gemeinschaftsgedanken produktiv wiederaufgenommen. Die Factory sollte ein Kloster, eine Lebensgemeinschaft sein. Das wurde mit großem medialen Nachhall verwirklicht. Überall sonst hat das Konzept der Kollektivautorschaft versagt; es gab nur ein paar Gruppen, die zusammenwirkten. Einige der wichtigsten Beispiele boten die Gruppen um Merce Cunningham und Carolee Schneemann bzw. um Charlotte Moorman und Nam June Paik in New York. In Deutschland blieb die Wirkung der Münchner Situationisten oder der Gruppe CoBrA ein unerhörtes Ereignis.
Aber, wie gesagt, der Kunstmarkt ist durch die Auslöschung der Begründungspflicht entstanden: Wer kauft, braucht keine Argumente. Das ist Macht, und Macht ist ebenfalls nicht auf Begründung verpflichtet. Das wesentliche Mittel, das dabei angewendet wird, ist ökonomische Gewalt und vor allem ideologische Gewalt, die die öffentliche Meinung bestimmt. Das ist zirkulär, denn Akzeptanz durch die Öffentlichkeit ersetzt die Durchsetzung mit Gewalt. Mächtig ist derjenige, dessen Gewaltanwendung, welcher Art auch immer, als legitim gilt, und Legitimation beruht auf durchgesetzter Macht. So verloren die Künstler jeden gesellschaftspolitischen Wirkungsanspruch gerade dadurch, dass sie als Marktgrößen zur Geltung kamen. Das war das Ende der 68er-Illusion von Kulturrevolution.
In Amerika konnte ich mich nicht wohlfühlen, bin eigentlich nie warm geworden. Da lagen Menschen schon in den 1960er Jahren auf dem Rost über den U-Bahn-Schächten und man fragte sich, wie das amerikanische Demokratie-Pathos zu bewerten sei, wenn so viele Menschen nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatten. Was kann in einer solchen Gesellschaft für Europäer interessant sein, außer dass amerikanische Musiker und Filmemacher selber ihre Empörung oder Trauer über das Ersetzen der Realität durch das Pathos heroischer Existenz bezeugten? In Amerika galt die vorrevolutionäre Auffassung von Kultur als Einheit, als melting pot. Dort akzeptierte man nicht die Abkoppelung von Kunst und Wissenschaft aus der Kulturdominanz und Kontrolle des Marktes. In New York war ausschließlich die Wirkung der dort ins Exil aufgenommenen europäischen, insbesondere deutschen Künstler, Wissenschaftler und Intellektuellen bedeutsam. Die Gewährung von Exil anerkannte man als mehr oder weniger große Leistung der amerikanischen Demokratie und deren Durchsetzung im Nachkriegsdeutschland. Eine Zumutung durch die Amerikaner konnten wir jungen Deutschen nicht bewältigen, nämlich dass Roosevelt genauso wie Churchill und Stalin den flehentlichen Bitten der jüdischen Gemeinschaften und der polnischen Exilanten, Auschwitz zu verhindern, nicht zu folgen bereit waren, obwohl das Geschehen in Auschwitz, das nur über sechs Eisenbahnstrecken erreichbar war, mit geringen militärischen Anstrengungen hätte verhindert werden können. Diese Erkenntnis lähmte uns Nachkriegsdeutsche und bis heute ist die Ambivalenz der Gefühle gegenüber den USA und ihrem Demokratie-Pathos gefährlich virulent.
ART AND DESTRUCTION
Aber nicht nur die USA konfrontierten uns mit unbewältigbaren Zumutungen. In London stellte Gustav Metzger, 1939 mit seiner Familie ins Exil getrieben, mit seiner programmatischen Arbeit zum Verhältnis von Kunst und Zerstörung Herausforderungen an uns, die einige wie etwa Vostell oder Yoko Ono in meinen Augen nicht bestanden. Sie beteiligten sich an Metzgers Veranstaltung in London 1966 wie an irgendeiner anderen beliebigen Aktionsgelegenheit. Für mich, der ich selber als Achteinhalbjähriger das Leben in der Hauptkampflinie Oliva/ Zoppot/Neufahrwasser/Gotenhafen/Hela zu bestehen gehabt hatte, war das Herumspielen von Künstlern mit Formen der Zerstörung einfach eine lächerliche Anmaßung von Ahnungslosen. Dass Baseler Bürger Tinguelys sich selbst zerstörende Maschinen wie eine Jahrmarktsattraktion belustigt genossen haben, konnte man noch hinnehmen, denn die Schweizer sind mit der Kraft der Destruktion durch Krieg seit Jahrhunderten nicht konfrontiert gewesen. Für französische Künstler wie Armand galt das schon nicht mehr, trotzdem ließen sie, unterstützt von deutscher Werbung, kindisch stolz Geigen oder Autos explodieren, um die Resultate der Zerstörung als interessant der Beäugung durch Kunstgaffer preiszugeben. Dass aber ein ins Exil Getriebener wie Gustav Metzger in London mitten in den Diskussionen um den Vietnam-Krieg künstlerische Tätigkeit als destruktive Kraft in Konkurrenz zu militärischen und ökonomischen Verfahren pries, war für mich skandalös und völlig inakzeptabel. Natürlich schätzte ich Metzger, den ich persönlich kannte, als Künstler, aber als Einziger schlug ich seine Einladung zu »Destruction in Art / Art in Destruction« aus. Das habe ich damals im Londoner Art Center vorgetragen. Wenn man destruction art haben will, geht man besser in den Krieg, anstatt den Affen zu spielen und im warmen Nest destruction zu simulieren, um das nicht wahrzunehmen zu müssen, was wirkliche Destruktion ist. Viele Künstler reagierten wütend auf meine Kritik und bestanden darauf, im gemütlichen Künstlerloft ihre »destruction art« weiter zu thematisieren und dabei alles zu vergessen, die KZs und Auschwitz und die reale Erfahrung von Gewalt.
Das war die neue Ebene, die sich durchsetzte. Pop Art bedeutete, alles auf der Ebene des bloß Virtuellen zu sehen und nur noch als Möglichkeit zu beschreiben. Es ging um die Eliminierung des Drucks der Realität zugunsten der innerpsychischen Wirklichkeiten wie Gedanken, Freude, Hoffnung, Einbildungskraft etc. Realität ist die physische Außenwelt, Wirklichkeit die innere Welt, die handlungsbestimmend normativ wird. Die Wirklichkeit des Sozialen als handlungsbestimmend sichern die Ideologen dadurch, dass sie äußere und innere Wirklichkeit beliebig opportun unterscheiden.
Geglaubt wird dabei, dass die Wirklichkeit der innerpsychischen Geschehnisse in irgendeiner Weise die äußeren Realitäten beeinflusse. Durch Haschischrauchen könne man diese inneren Wirklichkeiten stimulieren. Das war natürlich Budenzauber, an dem diese Bewegung zugrunde gegangen ist, denn ihre Vertreter verstanden die Philosophie des Als-ob gar nicht. Dazu waren sie viel zu ungebildet. Diese Philosophie stammt von Paulus, 1. Korinther 13. Von der Philosophie des Als-ob um 1908, dem Beginn der großen Bewegungen wie bei Vaihinger und Co. hatten sie auch keine Ahnung. Also war es einfach kindisches Getue auf einem Niveau, auf dem jeder glaubte, originell sein zu können. Wenn jemand ein Sektglas umstieß, dann schrien die Frauen »Happening!«. Durch den beliebig konstruierten Widersinn von innerer und äußerer Welt, von Innerlichkeit und verantwortlichem Handeln ist Metzgers Arbeit diskreditiert. Wenn heute der Kunstmarkt die Reste seines Wirkens im Museum als offenbarungsfähiges Material präsentiert, ist das Hohn auf die historischen Hintergründe, mit denen in den KZs Reste von menschlicher Existenz in Form von Brillen, Gebissen, Kleidungsstücken gesammelt wurden. Manzoni hatte bewiesen, dass Ausscheidungen das Strukturprinzip der Haufenbildung für die erlebnisgeilen Zeitgenossen zur Geltung bringen. Heute triumphiert das Prinzip bei Kuratoren, die in ihren Ausstellungen das zusammenwerfen, was für Individuen wie Künstler einstmals Zeichen ihres Kampfes ums Überleben in Freiheit gewesen ist.
Die Erlebnisgeilen glaubten, durch Rauschgifteinnahme den Druck der inneren Wirklichkeit so weit erhöhen zu können, dass die Realität keine Rolle mehr spielte. Sie flogen dann so, wie Yves Klein es 1957 mit dem Flug aus dem Fenster bei Iris Clert angeblich vorgemacht hatte. Aber das war eigentlich das Niveau der ursprünglichen Popularisierungsbewegung. Das Prinzip, das Niveau abzusenken, damit jeder mitkommt, ist übrigens geblieben. In der Schule heißt das: Alle mitnehmen, alle da abholen, wo sie stehen. Damit wird das Niveau natürlich bodenlos.
Das Spielerische und Leichte auf der Ebene der Simulation war jedoch immer sehr erfreulich. Es gab dauernd Alternativen. Ein Bereich, der dieses künstlerische Verhalten imitiert hat, ist die Börse. An der Börse erwirbt man Optionen; wer genügend Optionen hat, den kümmert das Auf und Ab nicht. Der Optionalismus ist die Öffnung für jede Eventualität. Das war sehr erfolgreich, auch im Hinblick auf die Ausweitung der Industrieproduktion. Die gefährliche Variante schlug in politische Realität um – in Gestalt der RAF oder einer Kampagne wie der von Claus Peymann, der in Stuttgart damals Intendant mit einem Jahresgehalt von 280000 DM war und gleichzeitig Menschen, die bei 4000 DM pro Jahr hungerten, aufforderte zu spenden, damit die terroristischen Gefangenen in Stammheim sich die Zähne mit Gold und nicht mit Amalgam machen lassen könnten. Er selber hätte mit einem einzigen Jahresgehalt alle Strafgefangenen zahntechnisch sanieren lassen können. Aber das gilt auch für andere Bereiche. In Deutschland gibt es so viele Spendenaktionen vom Roten Kreuz bis zu Brot für die Welt. In Wirklichkeit sind das alles Geschäftsmodelle: 80 % dessen, was da eingenommen wird, geht in die Selbstverwaltung; höchstens 20 % werden dem eigentlichen Zweck zugeführt. Flüchtlingspolitik ist heute das erfolgreichste Geschäftsmodell. Die Leute glauben immer noch, es gehe um die Linderung von Not. Dabei werden die Krisen von uns selbst inszeniert. Das afrikanische Elend wurde ja bekanntlich durch die subventionierten Nahrungsmittel, die von Europa nach Afrika abgeschoben wurden, hervorgerufen.
Das ist wirklich der Tod der Politik gewesen, das sieht man heute. Ein Politiker ist heute ein armer Hund, dem kein Mensch auch nur das Geringste an Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zutraut. Inzwischen gilt das auch für die Banker, eigentlich für alle Akteure der kapitalistischen Ordnung. Das ist das eigentliche Resultat. Natürlich hat man gesagt, man wolle andere Wertungen, andere Einstellungen, aber doch nicht mit dem Ziel, dass sich wirklich etwas ändert. Denn wenn sich alles nach Wunsch ändert, wo bleiben dann die Wünsche? Wünsche sind nur so lange wirksam, wie sie nicht erfüllt werden. Also war klar, so lange es Stalinismus gab, so lange es Totalitarismus gab, hatten die Künstler etwas zu tun. Aber wehe, wenn sich die Beklagten dieser Strategie selbst bedienten, so wie Mao, Stalin oder wie heute Erdogan sagen: Was wollt ihr eigentlich, wir haben doch eine demokratische Verfassung! Jeder hat Rederecht bei uns, alle sind frei. Das ist dann das Ende der künstlerischen Interventionsmöglichkeiten. Und der Anspruch auf ‘68 heißt ja nichts anderes als Optionalismus, Wunschproduktion, und zwar so weitgehend, dass das Wünschen nicht mehr helfen kann. Denn wenn Wünsche erfüllt werden, sind sie tot. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Art Psychoökonomie, die nicht mehr naiv wie bei Kleinbürgern darauf abhebt, sich die Erfüllung der Wünsche zu erhoffen, sondern auf die Produktivität der Unmöglichkeit, auf die Produktivität des Unwahrscheinlichen und des ganz und gar Anderen. Das ist das Entscheidende.
‘68 UND DIE VERGANGENHEIT
Im protestantischen Pfarrhaus ist die Bigotterie eine Zwangserscheinung. Sie basiert auf der Diskrepanz zwischen Anspruch und Geltung. Alle, die dem ausgesetzt werden, sind gebrandmarkt. Das war in der Generation der 68er auch so. Viele haben sozusagen den väterlichen Agenten etwas vorhalten wollen, nur die Frage war eigentlich, was. Die Einsicht war de facto, dass die Bevölkerung weitergekommen war in der Durchdringung der politischen Phänomene des Absolutismus, der historischen Phänomene des Fundamentalismus oder Totalitarismus. Warum? Weil sie ja selbst die Erfahrung gemacht hatte, wie ein fundamentalistisches, totalitäres Regime entsteht. Wenn du einem Menschen sagst, und sei es mit religiöser Legitimation wie beim Islam, der nichts anderes ist als Appell zur Unterwerfung: »Du hast die Aufgabe, alle Feinde Gottes zu töten, ohne Einschränkung, ohne Legitimation, ohne Begründung, ohne Gerichtsverfahren, ohne normativen Vorgaben«, dann ist die Entwicklung von Faschismus/Totalitarismus zwangsläufig. Der deutsche Faschismus war nichts anderes, als dem Kleinbürger die Macht über Tod und Leben zu geben. Das war alles, die Nazis hatten gar keine eigene Ideologie. Und die Bevölkerung wusste das auch. Der Antisemitismus war in Frankreich viel größer als in Deutschland. Warum gab es dann in Frankreich dieses Desaster nicht? Die Deutschen hatten die Erfahrung gemacht, dass Leute wie sie selbst, wenn sie den Auftrag bekamen, dies oder das zu tun, ohne jede Hemmung auf den Knopf drückten und nach Belieben folterten, in Erfüllung des Befehls. Wenn Du einem normalen Arbeitslosen, der durch Himmler Arbeit bekommen hat, als Mitglied der SA oder SS, eine Waffe in die Hand gibst, dann benutzt er sie. Du brauchst ihm gar kein Kommando zu geben. Du brauchst ihm nicht zu sagen, er solle von jetzt an dies und das tun. Dahinter steckte keine Mission. Es ergab sich einfach aus der Macht derer, die Gewalt ausüben können, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Und das ist eigentlich der Begriff von elterlicher Autorität. Das wussten die Deutschen. Der Vater musste sich in seiner Autorität nicht rechtfertigen. Das ist der wahre Grund für den Faschismus, für den Totalitarismus. Das hatten alle erkannt und niemand wollte sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen, weil es alle wussten. Die väterliche Autorität ist genauso unbegründbar wie die der Schergen in den Lagern und liegt in der Nichtnotwendigkeit einer Rechtfertigung. Wer sich in der Ausübung von Gewalt nicht rechtfertigen muss, der hat eben die Macht.
Das führte nach dem Krieg zu einer Art von Schuld- und Schamgemeinschaft, aus der heraus vieles entstand, was jetzt pseudodemokratisch genannt wird. Da gibt es zum Beispiel Leute, die stolz darauf sind zu sagen, der Holocaust sei einmalig, wir Deutschen hätten in unserer Geschichte etwas Einmaliges, das mache uns so schnell keiner nach. Das nennt man in der Theologie Sündenstolz. Das ist Faschismus im neuen Sinne. Wenn Auschwitz einmalig war, warum soll man sich dann darum kümmern? Denn wenn es einmalig war, kommt es ja nicht wieder. Man muss sich nur um das kümmern, das droht wiederzukommen. Wenn es aber wiederkommt, dann war es ja nicht einmalig. Also wurde ständig behauptet, es sei ein weltgeschichtlich einmaliger, noch nie dagewesener Zivilisationsbruch gewesen. Faktisch gab es das in der Geschichte aber schon zigmal und wird es demnächst auch wieder geben. Dann ist es aber unsinnig zu sagen, wir sollten daraus lernen, überrascht zu reagieren: Ja, Herr Lehrer, aber warum denn, wenn es doch einmalig war und nicht wiederkommt? Genau das haben die Deutschen immer wieder erörtert. Was sollen wir daraus lernen, wenn es einmalig ist? Dieser Konflikt ist bis heute Anlass für die Bildung von Formationen wie der AfD. Niemand ist das Problem bisher angegangen, außer Künstler wie wir, die diese Fragen dauernd bearbeiten.
Redaktion: Linde Kapitzki mit Bazon Brock