Das Wort ist der Phallus des Geistes. Gottfried Benn (2019)
Warum haben die Gesellschaften im Raum Odessa so viele musikalische Hochleister hervorgebracht? Einer von ihnen, der Pianist Arthur Rubinstein, antwortete, das liege an der dortigen Erziehungsmethode. Besonders Vorschulkinder übten an einem Instrument nur dann ausdauernd und mit Leidenschaft, wenn ihnen dafür die ersehnte Belohnung möglichst unmittelbar gewährt werde. Für sie heiße Belohnung für die Mühsal des Übens die Aussicht auf den unmittelbaren Genuss von Schokolade. Das dürfte auch anderenorts so sein, aber in Odessa erklärten die Musiklehrer den Übenden, dass sie die Belohnung unendlich steigern könnten, wenn sie, statt die Schokolade in wenigen Minuten zu verschlingen, um sich dann wieder nach neuer Schokolade zu sehnen, sich vorstellten, wie sie Schokolade genießen; denn die Vorstellung des Genießens halte unendlich viel länger an als jedes tatsächliche Verzehren der ersehnten Süßigkeit.
Was Rubinstein da aus eigener Erfahrung als leistungssteigerndes Prinzip darstellt, gilt universell als pornografische Transzendenz, zu deutsch Selbsterregung durch intrapsychische Aktivität, z. B. durch das Vorstellen. Die Konfrontation mit einem realen Attraktor ist in hohem Maße bedingt (das eben bezeichnet Realität) und deswegen weniger effektiv. Die Simulation erhöht die Wirksamkeit des Attraktors ganz entscheidend, weshalb eben pornografische Simulation einen höheren und länger andauernden, weil angstfreieren Effekt als eine Realkonfrontation bietet.
Evolutionär hat sich die pornografische Simulation in den Jagdgemeinschaften schon vor hunderttausend Jahren ausgebildet – zur Meisterschaft gediehen in den Höhlenmalereien der Jungsteinzeit. Die Orientierung auf eine potentielle Beute während der stundenlangen Jagden dauerte sehr viel länger als die jeweilige Realkonfrontation mit der Beute. In der Vorbereitungsperiode konnte aber die Koordination, vor allem das Aufrechterhalten der Handlungsintensität nur durch extrem starke intrapsychische Orientierung auf die Vorstellung der Jagdbeute erreicht werden.
Man tritt Glaubensüberzeugten wohl nicht zu nahe, wenn man ihren theologischen Exegeten vorschlägt, die sensationelle Eröffnung des Johannes-Evangeliums einerseits aus der Tradition des Kratylos-Dialogs von Platon und andererseits aus der Neuropsychologie der simulierten Transzendenz heraus zu verstehen. Natürlich kann man sagen, dass die Gegebenheiten unserer Lebensumgebung erst dadurch für uns bedeutsam werden, dass wir sie durch Benennung unterscheidbar werden lassen; dass aber die Namensgebung nur eine Adressierung für die Erfahrung im Umgang mit den Dingen ist, vor allem natürlich, wenn sie unsere Handlungsintention zu stören vermögen, also für uns gefährlich werden können. Dann erweitert sich der Name zu einem Vorstellungsbild, das vor allem wirksam wird, wenn wir den gefährlichen Sachverhalten aus dem Weg gehen wollen. Dieses Agieren mit Vorstellungsbildern anstelle der Realkonfrontation in gefährlichen Objektkonstellationen nennt man Bewusstseinsbildung. Sie ist die erfolgreichste Optimierungsstrategie für Handeln, weil sie den Wirklichkeitssinn (dort droht Gefahr) durch den Möglichkeitssinn (so ließe sich die Gefahr verringern) erweitert.
Wenn das Johannes-Evangelium mit der welteinmaligen Konstatierung beginnt, dass am Anfang von allem das Wort stand und das Wort bei Gott und Gott das Wort war, dann ist die Welt eine Simulation im Bewusstsein derer, die in ihr leben und die Bedingung dieses Lebens durch weitere Simulationen, d.h. weitere Worte oder Wortkomplexe als Bilder zu verändern versuchen. Denn jedes Rekonstruieren der Entstehungsgeschichte kann ja nur den Sinn haben, die Logik des Entstehens zu immer weiteren Entwicklungen zu nutzen.
Das Johannes-Evangelium bietet eine Anleitung im Verständnis für die welteinmalige Behauptung, dass Gott in Jesus Mensch geworden sei. Denn wenn das Wort bei Gott ist und Gott das Wort, dann kann dieses Wort im Bewusstsein der Menschen nur als Differenz von Wort und Nichtwort, dem Fleisch, wirksam werden. Der Körper des Menschen bietet also die verlässliche Basis für jeden Gottesbezug, das heißt, für die Arbeit mit dem Wort und den Wort-Clustern, also den Bildern.
Weil Gott Mensch geworden ist, lässt sich von ihm ganz verlässlich und vernünftig ebenso denken und Mitteilung machen wie von anderen Menschen. Und da es den Menschen nie im Singular geben kann, denn Mensch ist man nur in Bezug auf andere Menschen, und alles Gegebene für uns nur im Bezug auf andere Menschen Bedeutung hat, sind wir Repräsentanten der Menschheit, die mit dem Kollektivsingular Gott heißt, also der Menschheit gewordene Gott. So ist »Gott« eine Konsequenz der Bewusstseinsbildung, wie immer er auch repräsentiert wird.
Die durch Bewusstsein erreichte Verbindung des Wirklichen mit dem Möglichen, des Realen mit dem Potentiellen, des Relativen mit dem Absoluten bedeutet dann auch, dass die Vorstellung von Gott als inkorporiert und inkarniert in der Menschheit mächtiger ist, als jede reale Konfrontation mit ihm in der Gestalt konkreter Menschen sein kann.
»Gott« ist eine Simulation des Bewusstseins und die effektivste aller Simulationen ist ein Placebo. Es hat lange gedauert, bis man das Placebo endlich als Wirkung ohne Ursache, als Wunder auch in der Wissenschaft akzeptierte; aber eben als reale Wirkung durch Simulation und nicht etwa durch faulen Zauber, dessen Wirkung nur von Scharlatanen behauptet werde. Heute ist Placebo-Medizin endlich die entschiedenste Herausforderung für den Begriff der medizinischen Therapie, wie Gott die entschiedenste Herausforderung für die Aufrechterhaltung von Bewusstsein ist.
Dass das Bewusstsein als Selbstbezug der Wort- und Bildarchitektur aber keine autopoetische Selbstgenerierung ist, dafür sorgt verlässlich, dass alles Leben des Stoffwechsels mit der Lebensumgebung bedarf. Diese Rückkopplung aufs Wirkliche erzwingt nicht, wie immer wieder behauptet, den kruden Materialismus oder Positivismus, weil ja Bewusstsein nicht nur die Simulation oder Sublimierung des Wirklichen erreicht, sondern in der Selbsterregung der lebenden Systeme jeder Möglichkeitssinn auf der unaufhebbaren Bedingtheit des Wirklichen beruht. Nietzsche stiftete für dieses Verfahren den Begriff des sich selbst steigernden Lebens oder die Tendenz zur Selbstübergipfelung des Lebens gegenüber den Bedingungen seiner Existenz. Der Schulpforta-Zögling Nietzsche war und blieb der Hegelianer der guten, innerweltlich hantierbaren Unendlichkeit.
UND MÜHLMANN LÄCHELT
In Heiner Mühlmanns 2014 bei Fink erschienenen Essayband Der Kunstkrieg heißt es auf Seite 20: »Das Mysterienritual ist eine magische Transformationsmaschine, die aus Hokuspokus reale physische Macht herstellt. Das wird besonders deutlich in dem römischen Rechtsbegriff ›auspicia imperiumque‹. Er beschreibt mit Hilfe eines formelartigen Ausdrucks den Transformationsprozess ›mach aus Hokuspokus eine Umwelt verändernde Kraft‹. Wir erfahren, dass auf der Auspizienseite der Flug und das Schreien von Vögeln beobachtet wurde, um den Willen der Götter zu erkunden. Sobald der Wille der Götter bekannt war, entstand ›imperium‹. ›Imperium‹ war die von den Göttern verliehene, charismatische Kraft, die den Feldherrn befähigte, das Heer zum Sieg zu führen. Dass es sich beim ›imperium‹ der Römer um eine reale Kraft handelte, die imstande war, die physische Welt zu verändern, wird niemand bestreiten.«
So wird also über die »reale Kraft« des Placebo hinaus generell die normative, also die Handlung bestimmende Kraft von kontrafaktischen Behauptungen, eben von Hokuspokus, erkenntnisstiftend.
Dass etwas bloßer Hokuspokus oder Voodoo-Getue oder deutschtümelnde Beliebigkeit sei, ist kein Einwand.
Gerade durch offen gezeigte Kontrafaktizität gewinnt man reale Macht, die sogar als von höherer Stelle verliehene charismatische Kraft gilt (siehe Hitlers Berufung auf das Schicksal). Das eben ist die Kennzeichnung aller Ideologie, egal, worauf sie sich beruft, ob auf Blutreinheit der Arier, die aus keiner Genetik oder Anthropologie begründet werden kann, oder auf den vom Markt regulierten Kapitalismus, denn dieser Markt wird ja gerade von Kapitalisten beliebig etwa durch Subventionen oder Beeinflussung von Gesetzgebung manipuliert.
Der Prozess der Transformation von bloßer virtueller Vorstellung zur handlungsbestimmenden, normativen Kraft beruht Mühlmann zufolge immer auf einer trinären Struktur der Stiftung von Bedeutung:
Zum Einen muss in einem Kultraum eine Fachschaft Berufener ein Kultbild oder einen Fetisch oder ein Hoheitszeichen oder ein Gründungsdokument präsentieren, indem sie es den Anwesenden »zeigt«. In diesem Falle heißt das, die Aufmerksamkeit aller im Kultraum Anwesenden auf den Flug und das Geschrei von Vögeln zu richten. Zum Zweiten müssen diese »Priester« in einer kultischen Handlung, also nach vorgeschriebenen, weil tradierten Verfahren, die Flugformationen und die akustischen Zeichen systematisieren und in eine Bildfiguration überführen. Zum Dritten müssen sie dann aus dieser Figuration den Willen der Götter ableiten und allen mitteilen, wodurch sie den politischen und militärischen Führern der Gesellschaft charismatische Kraft zusprechen können.
WAS IST MIT DIESER SICHT GEWONNEN?
Zum einen erübrigen sich alle Fragen nach Letztbegründung. So wie sich Soldaten angesichts permanenter Todesdrohung, also angesichts der Unhaltbarkeit ihrer Existenz, nur auf Haltung, also auf Beherrschung ihrer Psychodynamik verlassen können, die durch Mannschaftsformation, durch das Beispiel anderer, definiert wird, können auch Kulturen durch bloße Formalisierung ihrer Handlungen des letzten, festen Grundes gewiss werden. Es bedarf keiner Offenbarung von außerhalb der Gemeinschaften, um transgenerationale Verbindlichkeit zu erreichen.
Das noch vor kurzem allgegenwärtige »existentielle Pathos« des Dennoch-Menschen angesichts des Nichts erschafft das Kollektivbewusstsein in der denknotwendigen Entwicklung der Begriffe Gott/Götter, Absolutes, Mögliches, Virtuelles.
Die Verfahren dieses Selbstschöpfungsprozesses entwickeln sich stets aus der trinären Einheit von Zeigen, Handeln und Sagen, also vom Zeigen des Kultobjekts, der rituellen Hantierung mit ihm und der bis zum Epos, zum Roman, zur Philosophie oder Theologie gesteigerten Erzählung als Zeichen der Macht jener, die sich der kultischen Verehrung zuwenden. Zum anderen lässt sich diese Kultkraft erheblich steigern, wenn man sie nicht nur jeweils konkret an bestimmtem, heiligem Ort zu bestimmter Festzeit real erfährt, sondern sie in virtueller Rückkoppelung von bloßer Möglichkeit und intrapsychischer Aktivität auf dauernde Verfügbarkeit umstellt,
also so gut wie jederzeit an jedem Ort zur Selbsterregung bis zur höchsten Aktionskraft einsetzen kann.
Enkulturation ist erst dann optimal gelungen, wenn die einzelnen Mitglieder des Kulturverbandes gerade außerhalb der Kontrolle durch die anderen den trinären Schritt der Letztbegründung situationsbedingt allein zu gehen vermögen. Mit diesem Modell der Selbstgenerierung des letzten Grundes aus dem ganz unverbrämt anerkannten Kontrafaktischen hätten wir die aristotelische Definition Gottes als des unbewegten Bewegers in die für den Menschen zutreffende Beschreibung umgesetzt, soweit vom Menschen nur die Rede sein kann, wenn er lebt. Die tiefste Weisheit aller Kulturen ist in Tertullians wie Kants Maxime credo quia absurdum ein für allemal vorgegeben:
Letzte Verbindlichkeit hat nur das Wissen, das sich auf keine Offenbarung von außen, sondern nur auf seine eigene Logik stützt.