Geschrieben als Vortrag für das Zweite Kasseler Totengespräch ›GOD DOG‹, Kassel, 23./24. 11. 1984; veränderte Fassung in Bauwelt 9/1986
Die Frage nach dem Hund stellt sich auf einem Umweg. Im Griechischen heißt der Hund Κύων, liefert also die Stammwurzel für alles, was wir mit ›Zynismus‹ bezeichnen. 1983 erschien eine gigantische Studie von Peter Sloterdijk über den Zynismus und wurde seitdem diskutiert. Sloterdijk (Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1983) macht in seiner Untersuchung die zwei seit der Antike gegebenen Stränge der Entwicklung des Zynismus deutlich. Das eine sind die Zyniker in dem Wortsinne, den wir alle kennen: satte, fette Zyniker, die genau wissen, daß sie auf tönernen Füßen stehen, sich dadurch aber nicht abschrecken lassen, ihren Anspruch dennoch zu erheben. Auf der anderen Seite sind alle diejenigen, die sich selber fürchten, vor tönernen Füßen, vor Lügen, vor Anpassung etc., und die deswegen aussteigen. Der erste Aussteiger der Antike, der diesen Namen für sich in Anspruch nahm, war Diogenes. Er lebte in einer Tonne und sagte dem machthabenden Zyniker Alexander: »Geh mir aus der Sonne«, als dieser Diogenes versprach, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.
Bis heute sind diese Positionen von Kyniker und Zyniker unversöhnt. Hier die Grünen, Körnchenfresser, Barfußgeher – und auf der anderen Seite die Machthaber, die bei aller Einsicht in die Windigkeit des eigenen Geschäfts sehr wohl wissen, wie tönern das ist, und eben doch ihren Machtanspruch aufrechterhalten. Diese beiden Positionen lassen sich indes nicht nur als einfacher Gegensatz begreifen.
So könnte man diese Opposition nämlich auch als eine Verbindung verstehen, die den Beziehungen von ›Herr und Knecht‹, von ›Herr und Hund‹, von ›Natur und Kultur‹ zugrunde liegt.
1 Analyse und Ohnmachtserfahrung
Wenn wir ein Automobil besitzen und mit diesem nützlichen Gegenstand Probleme haben, dann nehmen wir es auseinander. Wenn das Automobil, nachdem wir es wieder zusammengesetzt haben, einwandfrei seine Funktion erfüllt, glauben wir sagen zu dürfen, daß wir verstanden haben, was ein Automobil ist. Der rationale Geist, der sogenannte moderne, erkennt sich als ›Verstehender‹, wenn es ihm gelingt, ein Problem durch Rekonstruktion seiner Entstehungsgeschichte zu lösen.
Auf diese Weise lassen sich aber nur relativ bescheidene Probleme, wie die eines kaputten Autos, verstehen. Ein Kunstwerk zum Beispiel können wir nicht einfach in seine Entstehungsgeschichte auflösen. Auch soziale Phänomene können auf diese Weise nicht verstanden werden. Jeder hat die Erfahrung gemacht, daß etwa ein Konflikt unter Ehepartnern nicht durch die Rekonstruktion nach dem Motto »aber Du hast angefangen – nein Du« aufhebbar ist.
Die von der Psychoanalyse bearbeiteten Phänomene der Verdrängung, der Projektion, der Übertragung etc. sind Reaktionen auf die schmerzliche Erfahrung, daß soziale Probleme nicht rational behoben werden können. Man kann ihnen nur begegnen, indem man sie einem formalen Verfahren unterwirft, zum Beispiel der Pflicht zum Kompromiß.
Das dialektische Denken versucht, den formalen Kompromiß auch als einen materialen zu erfassen. »Zu einem Streit gehören immer zwei; nicht nur der Täter war schuld, sondern auch das Opfer; etwas wird schon dran sein: wer sich lauthals verteidigt, hat Unrecht«, so oder ähnlich enden die Versuche, jeder Seite gerecht zu werden, wenn man sie denn nicht »rational« verstehen konnte. Nicht verstehen zu können, bedeutet immer, Ohnmacht zu erfahren. Sie ist noch weit schwerer zu verkraften als Macht. Wo Gewaltanwendung als Verwandlung von Ohnmacht gesellschaftlich geächtet ist, bleibt nur der bewußte Verzicht als ein Weg, mit der eignen Ohnmacht fertigzuwerden.
2 Zyniker und Kyniker
Seit Diogenes in seine Tonne stieg, um wie ein Hund zu leben und sich damit der Verfügungsgewalt eines Weltherrschers zu entziehen, ist das ›Aussteigen‹ die erfolgreichste Strategie zur Abarbeitung von Ohnmacht geworden. Solche Kyniker bieten gegenwärtig als gefestigte Sozialcharaktere jenen Zynikern Paroli, die als Neurotiker der Machterfahrung an nahezu allen Schaltstellen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Künste sitzen.
Der Zyniker will rational argumentieren und verstehen, was nicht durch Argumente, sondern durch Macht erzwungen wurde. Er zerlegt soziale Konstellationen wie Automobile, weil er glaubt, auch eine Mechanik der Macht erkennen zu können. Wenn dann die Teile des sozialen Beziehungsgeflechts (nach der Vorstellung des Machtmechanikers wieder zusammengesetzt) kein funktionierendes Ganzes ergeben, hilft nur ein hochmütiger Zynismus über das Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit hinweg.
Über die kynischen Aussteiger ist wahrscheinlich jedermann hinreichend orientiert. Blumenkinder und grüne Asketen, sektiererische Ekstatiker und alternative Naturfreunde, Fluxus- und Happeningartisten fanden verständlicherweise mehr Interesse als die Zyniker der Macht; verständlich deswegen, weil es eben sehr viel mehr Menschen gibt, die mit Ohnmachtserfahrungen als mit dem Machtrausch fertigzuwerden haben. Weil aber die intellektuellen Zyniker die öffentlichen Medien beherrschen, die so auffällig über kynische Aussteiger berichten, läßt sich behaupten, daß die prall bunten, hämischen, anrüchigen Aussteigermärchen von den Zynikern lanciert wurden, um sich mit ihrer eigenen Machtneurose nicht konfrontieren zu müssen.
Sloterdijk versucht, diesem Ungleichgewicht mit seiner Studie über den Zynismus abzuhelfen. Die Studie hat nur einen Fehler: Sie übersieht, daß es neben den Machtneurotikern die große Gruppe jener Machtmenschen gibt, die Macht geradezu rührend naiv, getragen von besten Absichten, ja von hohen Zielen, ausüben; Machtmenschen, die gar nicht auf die Idee kämen, verstehen zu wollen, was ohnehin nicht »rational« verstanden werden kann, und die deswegen auch gar keinen Anlaß haben, zynisch zu werden.
Ist der Direktor einer der größten chemischen Fabriken unseres Landes zynisch oder naiv, wenn er auf entsprechende Kritik an seinen Produkten antwortet: »Was wollen Sie eigentlich? Einerseits ist für Sie die Überbevölkerung das gefährlichste Phänomen des jetzigen Weltzustandes, andererseits machen Sie uns heftige Vorwürfe, weil vielleicht einige der von uns verwandten Substanzen Krebs hervorrufen können.« Er ist ganz sicherlich ein Zyniker, wenn er fortfährt: »Sie sollten froh sein, daß wir wenigstens auf diesem Wege der Natur behilflich sind, das vom Menschen erzeugte Überbevölkerungsproblem abzuschwächen!«
Ist Präsident Reagan ein intellektueller Zyniker oder ein naiver Machtmensch? Und was ist unser verehrter Bundeskanzler? Ja, was war denn eigentlich Herr Hitler? Bei Licht besehen ist keiner der großen Machthaber, schon gar keiner mit totaler Macht, je ein Zyniker gewesen. Sie waren nur alle mit einem hinreichend beschränkten Horizont begnadet und mit dem gesündesten Menschenverstand, mit der natürlichen Dummheit des Naturprodukts Mensch.
So einleuchtend auch Sloterdijks Differenzierung von Kynikern und Zynikern sein mag, es wäre wohl für uns folgenreicher und hilfreicher, danach zu fragen, wie kynische und zynische Ohnmachts- beziehungsweise Machtneurotiker einerseits und die gesunde, erfolgreiche, machtstrotzende Dummheit andererseits gerade gegenwärtig mit bemerkenswerter Ausdruckskraft einander das Echo liefern, »sonor, seriös und dialektisch«.
Zunächst also ein Hinweis auf das dialektische Niveau jener Alliance aus Zynismus und Dummheit. Wir erinnern uns, daß der Zyniker seinen sprechenden Namen jenen verdankt, die wie die Hunde lebten oder vielmehr vegetierten, sich über das Aas der verfaulten, korrupten Herrschaftskaste hermachten; unanständig in aller Öffentlichkeit ihrem Geschlechtstrieb frönten und sich nicht domestizieren ließen.
Es ergibt sich daraus dann wohl die Frage nach den Herren und ihren Hunden, den Tätern und den Opfern, dem Geist und seiner Verkörperung.
3 Herr und Hund
Muß der Herr Hund werden, um des Hundes Herr sein zu können? Ist die Dialektik ihres Verhältnisses eine andere als die Beziehung zwischen Herr und Knecht, und wie anders wäre möglicherweise die Entwicklung der Gesellschaftstheorien verlaufen, wenn Hegel statt des Paradigmas »Herr und Knecht« dasjenige vom Herrn und seinem Hund gesetzt hätte? Frauchen jedenfalls macht ihren Hund zum intimen Freund, vermenschlicht seine Gefühle und Wahrnehmungen – während diejenigen zu armen Hunden herabsinken, denen herrisch alle Türen vor der Nase zugeschlagen werden.
So scheint die Forderung, unsere Tierschutzgesetze endlich auch auf Menschen auszudehnen, immer noch mehr als ein erhellender Zynismus zu sein, vor allem angesichts der Tatsache, daß es den Haushunden der ersten Welt besser geht als den Menschen der dritten.
Manch einer hat den renommierten Zoodirektoren schon angeboten, hinter Käfiggittern neben Gorillas und Schimpansen einzusitzen, um so wenigstens auch einmal pflegliche Liebe, ein geregeltes sorgenfreies Dasein und die wohltuende Aufmerksamkeit ganzer Scharen von Mitmenschen zu erfahren. Aber der Herr Mensch kommt ja auf den Hund, um zu verstehen, daß er selber kaum mehr als bloße tierische Natur ist, und andererseits soll derjenige die Tiere besonders lieben, der die Menschen kennt. Wer Massentierhaltung als lohnendes Geschäft betreibt, kennt offenbar die Menschen, ohne die Tiere deshalb lieben zu müssen. Tiere haben tatsächlich ein delikates Seelenleben und können viehisch leiden; weswegen sich die Tierversuche eigentlich verbieten sollten, wie sich seit langem Versuche an lebenden Menschen verbieten.
Das Herr/Hund-Paradigma erreicht seine dialektische Rätselspannung, wo die Vermenschlichung des Tieres zu experimentellen Massentötungen im Tierversuch führt, weil die so gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragen werden sollen (also auch Menschen sind vor allem Tiere), und wo auf der anderen Seite den Tieren menschenwürdige Freiheiten gewährt werden sollen, weil die aus ihrem Opfer erhobenen Erkenntnisse für die Anwendung auf den Menschen wertlos seien.
Die Beherrschung der Natur wurde durch Züchtungserfolge am Tier tatsächlich erfolgreich demonstriert, was gerade die Vertreter der einen und alles umfassenden Natur auf den Gedanken bringen mußte, auch Menschen wie Tiere zu züchten. Die Tierliebe jener Menschheitsveredler im Reichssicherheitshauptamt ist tatsächlich konsequent logisch und nicht nur kitschig verbrämend.
Muß man mit dieser dialektischen Sophisterei fortfahren? Eine sinnvoll genutzte Dialektik sollte uns ja gerade aus dem endlosen Hin und Her, aus dem Einerseits und Andererseits, aus den Fragen nach der Priorität von Huhn und Ei, also nach den Bedingungen der Bedingungen herauskatapultieren. Die Kyniker gebrauchen die Dialektik, um sich nicht entscheiden zu müssen; die Zyniker, um sich der Verantwortung zu entziehen; die naiven Machtmenschen bekennen wahrheitsgemäß vor jedermann, dialektische Spitzfindigkeiten gar nicht verstehen zu können und deswegen Vertrauen zu verdienen.
Wir werden unser Schicksal nicht wenden können, indem wir uns kynisch zum Brudertier bekennen oder zynisch triumphierend das Wolfsgesetz der Natur anerkennen oder sattlächelnd, folgenblind, vertrauensselig den gedanklichen und sprachlichen Täuschungen unseres natürlichen Weltbildapparates uns anheimstellen. Wir überleben weder durch Aufgehen in der Natur noch gegen die Natur oder jenseits der Natur in Geisterreichen der Himmelswelten.
Unsere Aufgabe ist, endlich mit dem lange gehegten Plan zu beginnen, dem Schöpfergott ernsthaft Konkurrenz zu machen; wir müssen die Natur schaffen.
Die Künste, unter ihnen ganz wesentlich die Architektur, haben diesen Auftrag der Menschheit an sich selbst immer schon, ja ausschließlich verfolgt - über das bloße Verstehen der Natur und über die daraus resultierende Ausbeutung der Natur hinaus.
4 Kultur - Natur
Die vornehmlich als Wissenschaft analytisch betriebene Durchdringung von Kultur und Natur der Herrenwelt und der Welt des Hundes hat eine merkwürdige dialektische Kunstfigur geschaffen: die Komplexität aller Probleme. Den Wissenschaften war es ihrem erklärten Selbstverständnis zufolge tatsächlich gleichgültig, ob sie einen Hund sezierten oder seinen Herrn, oder ein Rudel oder eine Horde als Sozialverband studierten. Unter dieser Voraussetzung ließ sich das Beziehungsgeflecht von Kultur und Natur, von Herr und Hund beliebig knüpfen oder durchtrennen.
Gerade bei der analytischen Durchdringung entstand jene makabre künstliche Größe der Einheit von Subjekt und Objekt, von Herr und Hund, von Täter und Opfer, von Geist und Verkörperung, die wohl nur noch aggressiv zerstört werden kann, soll sie nicht als hundsköpfiges Ungeheuer weiterhin Schrecken verbreiten – sei es, daß die Opfer dieser Wissenschaft als potentielle ›fall-out-Frankensteins‹ ihren Schöpfern die Kehle durchschneiden, will sagen, den Geldhahn zudrehen; sei es, daß die wissenschaftlichen Täter gegen sich selbst zu wüten beginnen, will sagen, die Errungenschaften des kritischen Rationalismus selbst aufgeben.
Baudelaire hat dieses Ungeheuer besungen:
»Ich bin die Wunde und das Messer.
Ich bin die Fresse und der Faustschlag in die Fresse.
Ich bin der Körper und das Kreuz, das Opfer und der Täter.«
Damit wir es recht verstehen: Das ist eine Aussage über das Resultat analytischer Wissenschaft und nicht etwa über die dagegen mobilisierte Kraft aggressiver Zerstückelung.
Baudelaire beschreibt ebensowenig wie Nietzsche die Therapien, er beschreibt das Resultat positiven Denkens, das bedenkenlos künstliche Ungeheuer schafft, um die Macht seines Wissens zu demonstrieren.
Es sind ja nicht nur die befehlsgemäßen und pflichtgetreuen Täter der Sonderkommandos, die sich selber als Opfer darstellen, um gerechtfertigt zu sein. Es ist nicht nur der Vergewaltiger, der sein Opfer beschuldigt, durch aufreizendes Verhalten die Vergewaltigung selbst gewollt zu haben. Es ist nicht nur der Architekt, der seinen Auftraggeber dafür verantwortlich macht, statt eines Hauses eine seelische Folterkammer gebaut zu haben. Es sind die analytischen Positivisten, die mit ihrer Autorität als Wissenschaftler jedermann beweisen, daß verantwortlich nur sein kann, wer das komplexe Zusammenspiel aller Faktoren überschaue; das aber sei gerade einer Wissenschaft nicht möglich, die erklärtermaßen nur mit begrenzten Einzelheiten zu tun haben könne.
Der Eiertanz um die Verantwortlichkeiten gegenüber der Zerstörung unserer natürlichen Lebensbedingungen ist für diese Selbstentschuldung durch Verweis auf ein undurchdringliches Großes und Ganzes sinnfälliges Beispiel.
Die Kyniker wollen sich solchen Ganzheiten verpflichten, die, wie gesagt, undurchdringlich bleiben; die Zyniker laborieren erfolgreich an angeblich kleinen, eng umgrenzten Problemkonstellationen; und die naiven Machtmenschen versichern nachdrücklich, daß es beängstigende Probleme weder im Detail noch im Ganzen gebe, so lange man nur die zersetzende Kritik und die endzeitlichen Prophetien nicht zur Kenntnis nehme.
Was den Künstlern zu diesen Fragen bisher eingefallen ist, geht über die Verheißung der Auferstehung durch Selbstvernichtung eines christlichen Märchenbuches kaum hinaus. Ja, sie sind häufig so weit aus der Gegenwart entrückt, mit so wenig Geistesgegenwart begabt, daß sie allen Ernstes behaupten, nur selber über jene zerstörerischen Energien zu verfügen, durch die ein neues schöpferisches Chaos erzeugt werden könnte. Sie können immer noch nicht verstehen, daß in unserer Gegenwart durch Pflege am meisten zerstört wird und nicht durch Vernachlässigung; daß man durch Verteidigung am besten vernichtet, was man ja angeblich nur verteidigt, um es zu bewahren. Diese Gestalten des 19. Jahrhunderts sehen ihre Aufgabe immer noch darin, das angebliche Tabu der schöpferischen Aggressivität abarbeiten zu müssen. – Sie werden den Dreh schon finden, die von Kambodscha über den Libanon bis Nordirland alltäglich so erfolgreiche Aggressivität als die uneigentliche zu demonstrieren, weil die eigentliche der Wirkung von Kunstwerken vorbehalten sei.
Geht es ihnen vielleicht nur um die Symbolwelten der Bilder, um Vorstellung und Spekulation, um Traum und Poesie? Die völlige Hemmungslosigkeit, mit der in den populärsten Bildwelten, im Fernsehen, zu jeder Stunde Aggressionen jenseits des bisher von Künstlern Ausgedachten vorgeführt werden, machen die Behauptung vom Tabu der Aggressivität in unserer Mainzelmännchenrepublik zu einer mutwilligen Seltsamkeit.
Schöpferisch aggressiv ist wohl gegenwärtig gegen Kyniker, Zyniker und Machtmenschen, wer Askese als Leistungssport betreibt, wie der geniale Wolfgang Neuss. ›Ruinieren‹ als handlungstheoretisches Konzept (Vgl. hierzu ›Ruine als Modell der Differenz‹, in diesem Band S. 176-198): Das heißt ja wohl, richtig verstanden, all den Großpathetikern der Kreativität in Wissenschaft und Industrie klarzumachen, daß jeder Dummkopf mit hinreichenden Mitteln alles Beliebige in die Welt setzen kann: beachtlich sind dergleichen Leistungen erst, wenn die arroganten Schöpfer beweisen, daß sie den göttlichen Mist, den sie in die Welt gebracht haben, auch wieder aus ihr herauszubringen vermögen. Allein in dieser Hinsicht können Künstler mit Recht ihre Leistungen reklamieren: Was sie in die Welt setzen, hat Gott sei Dank keinerlei Bedeutung, nimmt kaum Platz weg, ist in jeder Hinsicht folgenlos, beruft sich auf keine Autoritäten, ist nicht sanktioniert und legitimiert außer durch die jederzeit mögliche Widerrufbarkeit, also durch kontrolliertes Verschwinden.
Die bisherigen schöpferischen Halbheiten, nur die Welt mit Gerümpel vollstellen, aber nicht wieder leerräumen zu können, weist uns deutlich doch nur als Halbweltfiguren aus – als Halbgötter, die aggressiv zerstören, was ihnen unerreichbar bleibt.
Es wird ja wohl niemand mehr behaupten wollen, daß nach wie vor die Kriege sinnvolle Veranstaltungen in diesem Sinne sein können. Beim letzten Mal gab es schon 50 Millionen Tote und erhebliche Berge von Trümmern. Erstens regte diese Scheinleere der Schlachtfelder den kreativen Ehrgeiz von Millionen in besonderem Maße an; zweitens bedeutet das Hergestellte, so oder so zu konsumieren, keineswegs eine Umwandlung ins Nichts.
Ruinöse Künste als vorbildliche Formen menschlicher Reproduktion führen den Wirkungsanspruch des menschlichen Geistes dahin, wo er allein gerechtfertigt ist: auf dem Papier, auf der Leinwand, auf dem Theater, also als bloßer Schein.
5 Banalisierung des Heiligen
Am gefährlichsten ist der dialektische Zauber einer Verkehrung aller Verhältnisse durch ihre analytische Durchdringung, weil die so postulierte Undurchschaubarkeit des Großen und Ganzen nur durch »sonore Verklärung« erreicht werden kann. Voll tönen die Glocken, aber sie werden mit Bimmel und Bammel die Wandlung nicht erzwingen, selbst wenn sie wie Kanonendonnern klingen. Auch die großen Einzelnen werden ihre Selbstüberhöhung mit ewigen Ruhm verheißenden Werken nicht mehr durchsetzen können – seien sie Wissenschaftler, Künstler oder andere Tätertypen. Auch der größte Familienbetrieb muß zur Aktiengesellschaft werden, auch der mächtigste Präsident der Welt ist nur das Geschöpf anonymen Wahlgeheuls. Auch Dutzende von Päpsten, Ayatollahs und Großgurus werden keine anderen Gottesstaaten etablieren können als die durch Terror, Mord und Wahnsinn bisher schon historisch ausgewiesenen. Die Götter lassen sich nicht herbeipressen, sie wären denn keine.
Das anbetungswürdig Große, Allgemeine, Verbindliche und Dauernde fällt den Bombenanschlägen von einigen Verrückten zum Opfer, und wenn nicht ihnen, dann in jedem Fall den Reaktionen derer, die diese Verrückten verfolgen. Zwischen den allerchristlichsten Fernsehpredigern mit ihrem Milliardenpublikum in Fernsehkathedralen, die mit Mattscheibenwänden die Fenster gotischer Himmelsbauten zu überbieten versuchen, und den sektiererischen Wanderpredigern für freies Atmen und gesunde Ernährung besteht durchaus kein Unterschied. Sie alle verschaffen ihrer Klientel die Illusion, als Geistwesen zu handeln, obwohl sie doch bloß von Instinkten manipuliert werden. Das große Heiligungsprogramm ist darauf gerichtet, den natürlichen Menschen in seiner Mordlust und Habgier, in Neid und Gedankenlosigkeit zu einer idealistischen Größe der Selbstverleugnung werden zu lassen, anstatt ihn mit seiner ganzen inferioren Natur unausweichlich zu konfrontieren. Da läßt sich denn als christliche Missionierung verstehen, was ohnehin aus Machtlust und Habgier betrieben wird. Da wird zur eisernen Pflicht, was als bloße Neigung Alltagskriminalität hieße. So und nur so wurde schon Rom zu einer Weltmacht, und dieses Muster hat sich wegen Bewährung in allen Weltgegenden bis auf den heutigen Tag erhalten.
Zeitgemäß und als Aufgabe unabweislich wäre hingegen die Banalisierung des Heiligen und auch darin haben die Künstler Beispielhaftes zu bieten, wenn sie aus Abfall, der Jedermann zur Verfügung steht, Werke schaffen. Die Heiliger des Heiligen, vor allem die Auslober unsterblicher Kunst, glaubten ihr Ansinnen in Gefahr, wo nicht mehr die Kunst aus extremen Besonderheiten, sei es Goldgrund oder einmalige Könnerschaft der Linienführung, emporgezaubert wird. Vielsagend, Jedermann betreffend, ist aber Kunst nur da, wo sie mit dem Jedermann Zugänglichen operiert und diese Banalität in die Aufmerksamkeit zu heben vermag. Die Kunst ist groß, wo sie banal ist und das Selbstverständliche zum Thema erhebt. Es ist also gerade das Wichtigste im Tun der Künstler für die Nichtkünstler, dem sich die Anbeter von goldenem Firlefanz in auratischen Strahlen, vor lauter Sehnsucht nach der Erhebung aus dem Selbstverständlichen, nicht auszusetzen wagen.
Die Banalisierung des Heiligen muß ihnen immer noch als Sakrileg erscheinen, obwohl zumindest die Künste dieses Jahrhunderts Jedermann die Erfahrung ermöglichten, daß nur im Alltäglichen und Banalen das Heilige noch zu thematisieren ist. Der nackte Zweckbau läßt die Sehnsucht nach uneinholbarer Schönheit lebendig werden. In der vollständigen Öde und fragmentierten Häßlichkeit unserer Ruhrgebietsstädte erschließt sich die Welt als Verkörperung eines Geistes, dessen wir niemals habhaft werden können. Wo das nach wie vor behauptet wird, und sei es von Genies, die wie Raffael den Ausdruck der Schönheit vor Augen zu führen verstünden, da müssen wir uns vor Peinlichkeiten krümmen. Auch die Dichter, die bedeutsamsten unserer Gegenwart, gehen über die Dörfer; wenn sie dort die Gegenwelt, und sei es mit der Kraft eines Dante, herbeizuzwingen versuchten, müssen wir ihnen die Gefolgschaft verweigern, wie allen anderen, die Ratten in Paradiese zu geleiten versprechen. (Vgl. in diesem Zusammenhang: ›Heiligung von Filzpantoffeln‹, S. 24-33; ›Kunst und Kirche‹, S. 53-57)
Wir müssen wieder und wieder versuchen, ihnen klarzumachen, daß das Ästhetische ausschließlich in der uneinholbaren Differenz von Geist und Verkörperung, von Gedanke und Tat, von Begriff und Anschauung begründet ist. Keine noch so große Formvollendung einerseits oder unvorstellbare Gedankenfülle andererseits, erheben uns auch nur einen Millimeter vom Boden. Gerade weil keine menschliche Anstrengung diese Elevation erzwingen kann, haben Wahrheit und Schönheit und Gerechtigkeit so große Macht über unsere Gedanken und Taten – aber als Ideen und als nichts sonst.
Jenseits bleiben Herr und Hund, Opfer und Täter, Geist und Leib, was sie als Konkrete, als je Einzelne sind. Wer sie gegeneinander aufrechnet, auswechselt oder ineinander verwandelt, versucht sich der Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit zu entziehen.