Ausstellungskatalog Zeitreise

Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel

Zeitreise, Bild: Hrsg. von Georg Christoph Tholen u.a. Basel u.a.: Stroemfeld/Roter Stern, 1993..
Zeitreise, Bild: Hrsg. von Georg Christoph Tholen u.a. Basel u.a.: Stroemfeld/Roter Stern, 1993..

[Ausstellung: 3. März - 2. Mai 1993, Museum für Gestaltung Zürich] 

Erschienen
1992

Herausgeber
Tholen, Georg Christoph | Scholl, Michael | Heller, Martin

Verlag
Stroemfeld/Roter Stern

Erscheinungsort
Basel, Deutschland

ISBN
3-87877-409-5

Umfang
414 S.; Ill., graph. Darst; 8°

Einband
Gebunden

Seite 315 im Original

Zeitkrankheit

Therapie: Chronisches Warten

»Wer schreibt, der bleibt«, war einst die tröstliche Maxime der bürgerlichen Intellektuellen bei der Bewältigung ihrer Todesfurcht, dem auffälligsten Symptom von Zeitkrankheit. Aber das Zeitvergehen in Erwartung des Zeitlos-Werdens zu überstehen, ist heute eine sinnlose Empfehlung; denn wer bliebe überhaupt zeitlos ewig noch, wenn auch weitere 5% der Bevölkerung schreibend, malend, komponierend, kurz, Lebenswerke schaffend, überleben wollten? Wer sollte deren ewige Gegenwart garantieren, indem er die Toten vergegenwärtigt, also deren Werke memoriert? Selbst wenn es den Bewohnern der Canettistraße, der Neckermanngasse, des Tellerwegs und der Reaganallee gelänge, monatlich vor einer semantischen Polizei zu beweisen, daß sie ihrer kulturellen Pflicht zum pausenlosen Memorieren zeitloser Größe nachgekommen seien, würden sie wohl viel eher daran denken, sich selbst zu verewigen als die Canettis, Tellers, Neckermanns.

Kulturschöpferisch ist mit der Zeitkrankheit nicht mehr fertig zu werden, und selbst wo Vollendung noch gelänge zwischen Werden und Vergehen, löste sie nur Trauer aus, denn Vollendung ist die radikalste Form des Endes; dem Vollendeten folgt nichts mehr nach. Gott sei Dank gelingt uns die Vollendung nicht mehr, und so sind wir gezwungen, uns nach einer anderen Art von Dauer umzusehen als die der erzwungenen Dauer der Tausendjährigkeit von Reichen und der Zeitlosigkeit von Werken. Das Überleben, das Andauern der Menschheit als Gattung ist wichtiger als die Wahrung der Erinnerung an einzelne Menschen und Werke, konstatierte einer der ausgeprägtesten zeitkranken Schreiben-ist-Bleiben-Künstler. Das zu verstehen, meinte Canetti, sei allerdings nur möglich, wenn man endgültig akzeptiert habe, daß der wahre Triumph des bleibenden Überlebens in der Ohnmacht liege, die wir prinzipiell vor dem Anspruch auf Zeitbeherrschung zu akzeptieren lernen müssen. Diese Ohnmacht als Kraft entdeckte Canetti folgerichtig in den Massen, die den Tod leugnen, dem Ende der Zeit spotten und der gesunden Dummheit des Gefühls frönen, man sei unsterblich, wenn man die Stunden nicht zählt.

Dieses ergebnislose Auf-der-Stelle-Treten, der rasende Stillstand, das erwartungslose Warten der Masse und ihrer Macht begegnet uns auch in Becketts Dialektik des Verstummens und in Sartres existentialistischer Selbstzerstörung des historischen Täters. Die auf ihre naturwüchsige Zeitunempfindlichkeit pochende Masse erzwingt das Schweigen der Heroen, den Zusammenbruch der programmatischen Erlösungstaten und demonstriert die Ohnmacht der Handelnden vor der Wirklichkeit. Die Kulturheroen werden von der Masse gezwungen, ihre Tatkraft zu fesseln und im Zustand des Wartens zu verharren wie die Steine und die Sterne, denen man auch nicht mehr ansehen könne, welcher Absicht sie ihre Entstehung verdanken und worin sich der Sinn ihres Vorhandenseins erfüllt. Warten, das ist die Form von Dauer, der sich Canetti anvertraut, eine gegen sich selbst erzwungene Dauer durch Unterlassen, durch Beherrschen aktionistischer Nervosität, durch Verschweigen der tiefsten Selbstzweifel und durch Verstummen erpresserischer Hilferufe.

Wurden in den 80er Jahren nicht solche Positionen des Wartens sichtbar? Daß sich die Massenverkehrsteilnehmer bisher vornehmlich über das ihnen aufgezwungene Verharren in Warteschleifen nur geärgert haben, kann man nicht sagen. Stautourismus ist ein Massenvergnügen. Die Reaktionen auf Vostells einbetonierte Cadillacs als Monument des »Ruhenden Verkehrs«, also des seiner eigenen Logik nach zum Stehen gebrachten Verkehrs, zeigen warum: Dieses Warten und Verharren im Stau ist nicht mehr an die Erwartung einer Veränderung der Verkehrssituation, also einer prinzipiellen Besserung gebunden. Warten ohne Erwartung ist ein Ohnmachtserlebnis, das die Masse der Verkehrsteilnehmer nicht mehr an die Macht delegieren kann, da die vielen Verkehrsteilnehmer selber der Grund ihrer eigenen Ohnmacht sind. Selbst da, wo der Verkehr noch fließt, bewegt sich der zeitgenössische Reisende nicht fort. An jedem Reiseziel erwartet ihn die gleiche Situation. Fortbewegung und Verharren sind identisch geworden im Warten ohne Erwartung. Die ehemals hilfreiche Ausgrenzung von Wartezimmern gegenüber Erfüllungsräumen von Erwartungen (den Behandlungsräumen, den Schlachtfeldern, den Kabinetten) verliert ihren Sinn, wenn alle Zimmer zu Warteräumen werden und die Befindlichkeiten der Raumbewohner oder -nutzer durchwegs denen von Patienten gleichen. Patienten sind Menschen, die sich ihrem Zustand gegenüber nicht anders als wartend verhalten können. Ihre Erwartung auf schließliche Genesung bleibt gegenüber der konkreten Forderung des Wartens abstrakt und ist auch nur noch bei relativ harmlosen Erkrankungen begründet. Die entscheidenden Krankheiten sind längst chronische geworden, das heißt, auf alle absehbare Zeit nicht veränderbar. Der Zeithorizont des chronisch Kranken ist auf das hoffnungsvolle Warten festgelegt, ohne daß die Zeit stillstünde. Dieses chronische Warten erzeugt eine andere Qualität von Dauer, als es die Zeitlosigkeit bleibender Werke vermag. Wer die Zeitgenossen beim Umgang mit solchen Werken beobachtet, fühlt sich an das Lektüreverhalten von Wartenden bei Ärzten und Frisören erinnert. Man blättert das Daliegende durch, weil man ja zu warten hat. Das blätternde Betrachten läßt das Warten zu einer erfüllten Form des Verhaltens der Massen werden. Auch für die sogenannten kulturschöpferischen Singulärerscheinungen kommt es darauf an, das Warten nicht passiv erdulden zu müssen, sondern zu einer Form des Handelns zu erheben. Unsere Bibliotheken und Museen, die Standorte der bleibenden Werke, sind Warteräume, in denen dies Warten als sinnvolles Handeln trainiert werden kann – sehr im Unterschied zu jenen Wartehallen, in denen Unterhaltungskünstler versprechen, die Zeit des Wartens totzuschlagen oder zumindest doch so attraktiv zu gestalten, daß dem Wartenden die Zeit nicht lang wird. Das Warten ohne beschönigende Maskierung des Stillstands ruft als sein produktivstes Resultat eine Ausweitung der Zeit, man möchte sagen eine Verlängerung der Zeit in die Ewigkeit, hervor.

In den 80er Jahren wurde von den Wartenden in diesem Sinne »die Entdeckung der Langsamkeit« dankbar aufgegriffen. Robert Wilson, einer der Gestalter solcher Langsamkeit, fand Massenzuspruch bei all denen, die von der CocaCola-Pause als Zeitschnitt und Stillstellung enttäuscht waren und die durch die permanente Animation in den schönsten Wochen des Jahres nicht mehr zur Ruhe fanden. Gerne stimmten sie Neil Postman zu, die Erinnerung an die Kindheit sei eine Erinnerung an das selbstvergessene Spiel, an das Gefühl endloser Fortdauer der Tage und Zeiten und der Wiederholung der gleichen Daseinsformen ohne die Angst, sie schon bald unter dem Druck der Ereignisse aufgeben zu müssen.

Langsamkeit, Verharren, Warten, ein permanenter Transit in die Ewigkeit durch Stillstand und Stillstellung (klassische Therapiemaßnahmen) erzeugen, so meinte einer der produktivsten Kulturtheoretiker der 80er Jahre, andere Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen. Dietmar Kamper glaubte sogar, eine Verschiebung der Leitsinnhierarchien feststellen zu können: Durch Zuhören kommuniziere man intensiver als durch jede andere Art von Wahrnehmungstätigkeit und Transformationshandeln. Abgesehen davon, daß die Medien das Angebot von Talk-Shows in den 80er Jahren enorm vergrößerten, weil sie die billigsten Produktionen sind, stießen sie wohl deshalb auf Massenresonanz, weil in ihnen der Leitsinn »Zuhören« (als Leistung der Teilnehmer) besonders zur Geltung kommt. Dieser Typus einer Masse wurde von Canetti noch als Publikum analysiert. Die Medienwelt definiert Publikum aber nicht mehr im Unterschied zu den Akteuren; auf sie träfen eher Canettis Analysen der Festmassen zu, wobei sich die Feste der Erwartung doch erheblich von der Feier des Wartens unterscheiden. Die jüdische Kultur ist eine Kultur des Wartens, das auf keine Weise die Erfüllung der Erwartung, als Ankunft des Messias, behaupten oder versprechen darf.

Was hört der Zuhörende? Er hört sich selbst als Fremden und Anderen, dessen Aussagen er auf eine Weise zu kritisieren vermag, die er seinen eigenen Äußerungen gegenüber nicht vorzutragen wagte, weil der Beweis der Unzulänglichkeit und Haltlosigkeit eigener Überzeugung schwer zu ertragen ist. Im Zuhören wird die Kraft des Wartenkönnens allen erfahrbar, die nicht mit sich zurechtkommen und die auf Abhilfe sinnen, die nur möglich wäre, wenn die Wartenden nicht mehr sie selbst blieben. Darauf verweist die in jeder Talk-Show mehrfach flehentlich oder herrisch, kumpelhaft oder auf Regularien pochend vorgetragene Bitte »Lassen Sie mich doch endlich mal ausreden«, was doch überhaupt keinen Sinn macht, da jeder weiß, wie endlos lange er noch reden könnte, ohne je ausgeredet zu haben. Das Zuhören ist ein Warten, für das ein Ende ebensowenig gefunden werden kann, aber es ist im Unterschied zum Ausredenwollen nicht darauf angewiesen, verstanden zu werden. Das zuhörende Warten vermag auch die unverständlichste und verschlüsselte Mitteilung als sinnvoll zu erfahren, weil es die Zeit und die Erwartung des Wandels in ihr gerade dadurch zu transzendieren vermag, daß es mit dem Unverständlichen, dem Nicht-Erklärbaren, dem nie identisch Faßbaren von vornherein rechnet.

Das zuhörende Warten äußert sich vor allem in Schweigen (oder als schweigende Mehrheit), das allerdings nie kommunikationsstrategisch eingesetzt werden darf; dann würde es zu wissendem Schweigen, dem peinlichsten Verhalten von Talk-Show-Beteiligten. Solche Überlegenheit wäre bloß wieder eine Machtgeste, der sich das zuhörende Warten gerade zu enthalten versucht.

Schon die 70er Jahre hatten durch die Ausdehnung von Theaterabenden auf mehrere Stunden das Rezeptionsverhalten der Zuschauer verändern wollen. In den 80er Jahren überbot man die Aufführungsdauer um das Doppelte. Ariane Mnouchkine, Peter Brook, Heiner Müller, H.J. Syberberg, Peter Stein führten ihre Zuschauer allerdings insofern in die Irre, als sie mit ihrer Zeitstrukturierung die Zeit zu erfüllen versprachen. Jeder mußte annehmen, daß diese unglaublich langen und aufwendigen Inszenierungen irgendwo anders hinführen sollten als zur endlosen Dehnung und Wiederholung der theatralischen Mittel, die schon in der ersten halben Stunde vollständig ausgeschöpft waren. Das Publikum erlebte die Dauer des endlosen Wartens noch als andauernde, erschöpfte Leere.

Wir werden in den 90er Jahren hinreichend Gelegenheit haben, das erwartungslose Warten zu trainieren. Mit diesem Warten wird auch endlich für uns Kunstprimeln wie für die Massen das zum Ereignis, was nicht geschieht. Wir dürfen längst nicht alles tun, was wir können, echot es aus allen Zukunftsbekenntnissen. Soll nun denn doch das Unterlassen als Form des Handelns zumindest aufgewertet werden? Abwarten und Tee trinken!

Mit diesen Hinweisen werden natürlich nur kulturelle Phänomene in Erinnerung gerufen. Es sind aber genau die Phänomene, mit denen Macht in Zukunft zu rechnen hat und an denen sie scheitern muß. Daß zum Beispiel Armeen wie die Bundeswehr der Dauer als Zustand des Wartens nicht gewachsen sind, zeigen die vielen Berichte über den Unwillen der Soldaten, den Dienstbetrieb als permanentes Herumgammeln ertragen zu müssen. Die psychologische Belastung des andauernden Wartens ist für eine funktionsfähige Armee genauso groß wie für expansionsabhängige Unternehmen und ergebnisgeile Denker.

Canettis Schlußfolgerung lautet: Mit der Abschaffung des Todes als Form der Machttranszendierung und Kulturproduktion brechen alle Programmatiken zusammen, die Macht als Instrument von deren Verwirklichung rechtfertigen. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß diese Programmatiken als Kampf des Guten gegen das Böse, des Westens gegen den Osten, des Kapitalismus gegen den Kommunismus, der Gläubigen gegen die Ungläubigen, der Freunde gegen die Feinde, der Künstler gegen das Publikum, der Massen gegen das Individuum zusammengebrochen sind. Das Wiederaufleben des Fundamentalismus aller Schattierungen ist nur ein fürchterlicher Reflex auf diese Tatsache; er wird sich nur so lange als Terror abstrakter Errettungsideen behaupten können, wie er Tod und Selbstopfer als Beweise von Macht auszugeben vermag. Das wird möglicherweise noch lange dauern, muß aber dennoch prinzipiell erfolglos bleiben, weil die so demonstrierte Macht sich am Ende gerade durch ihren Erfolg selber liquidieren wird. Umso bedauerlicher sind die sinnlosen Opfer, denen nicht vergönnt war, wartend die Selbstwiderlegung der Geschichte durchzustehen. So perfide es klingen mag, Kanzler Kohl war der erste Politiker der 80er Jahre, der das wartende Verharren als Form des politischen Handelns zum Thema erhob: »Wir sitzen die Probleme aus«, das wäre die Maxime des Wartens schlechthin. Es ist aber erst als ein Handeln legitimiert, wenn es sich gegen die Erwartung richtet, wir könnten mit der Verwirklichung bestens ausgedachter Pläne ans Ziel unserer Wünsche gelangen. Gefährlicher als die Aussitzer waren in den 80er Jahren die scheinbar so positiv denkenden Männer der Tat, die alle Probleme durch das fröhliche Anpacken zu lösen versprachen. Ihnen gegenüber erschienen sogar die betenden und meditierenden Selbsterfahrungsgurus geradezu als aufgeklärte Geister.

Worauf warten die Unaufgeklärten? Woran leiden die Zeitkranken, diese gnadenlosen Zeitschinder? Das hätten sie eigentlich bei ihren onkelhaften Ärzten erfahren können: »Na, mein Guter, was fehlt uns denn?« – »Herr Doktor, ich habe hier ...« Wir haben also generell nur, was uns fehlt, und uns fehlt nur, was wir haben – eine tröstliche Relativierung der Reichen, Mächtigen, Gesunden. Die einen wissen gar nicht, was sie alles haben, weil ihnen nichts fehlt, und können es deswegen nicht nutzen; die anderen haben die Illusionen des wahrhaften guten Lebens, aber nicht die Voraussetzung, es auch zu führen. Heimat ist nur ein Thema in der Fremde, oder unter den Drohungen des Fremden; Gesundheit ist nur ein Mangel an Anlässen, sein Dasein zu problematisieren. Sprichwörtlich sind die große Zukunft, die man hinter sich hat, und die Genialität dessen, der mit ca. 50 Jahren noch genauso klug ist, wie er es schon mit 8 Jahren oder 9 Jahren gewesen war. Sie alle, wir alle halten der Temporalisierung, der Verzeitlichung der Geschichte, unserer Geschichte nicht stand. Denn naiverweise, dummerweise stellen wir Zeitvergehen als ein Fließen dar, analog zum Bewegungsstrom, der von den Quellen zu den Ozeanen führt. Wir sehen die Vergangenheit hinter uns und die Zukunft vor uns und erleben die Gegenwart als rasendes Vergehen einer potentiellen Zukunft, also von etwas, was noch gar nicht da war. »Und das soll es nun gewesen sein?«

Wenn die Vergangenheit hinter uns läge, abgeschlossen in jenem damaligen Ort, an den die Zeit nicht mehr zurückkehrt, bräuchten wir uns um sie wohl kaum zu bekümmern; sie wäre vergangen und könnte uns nichts anhaben.

Wenn die Zukunft nur vor uns läge in jener unerreichbaren Ferne des Dermaleinst, hätten wir kaum Anlaß, sie zu fürchten oder auf sie zu hoffen wie die Zeitkranken. Alle Vergangenheit erscheint ihnen als verloren: »ja früher, da ehrten die Kinder noch ihre Eltern, herrschten Gottesfurcht und Liebesernst, früher waren die Künstler noch auf die Ewigkeit orientiert, die Nahrungsmittel noch rein und die Städte frei von Lärmplage – aber heute ...«. Die Zeitkranken fühlen sich beraubt von der Vergangenheit, weil sie futsch sei – und enttäuscht von der Zukunft, weil die sich nur in Zukunft einstellen wird. Für sie ist die Zukunft verloren.

Die Zeitkranken pendeln so zwischen der Klage über den Verlust des Gewesenen und über die Unerreichbarkeit der versprochenen Wandlung zum Besseren und hindern sich an der Erfahrung des Gegenwärtigen, der Jetztzeit. Wer gegenwärtig ist, gar geistesgegenwärtig, dem sind Vergangenheit und Zukunft Realien dieser seiner Gegenwart. Wenn die Zeitmodi eine Bedeutung haben, dann als in der Gegenwart wirksame Vergangenheit und Zukunft. Zukunft gibt es nur als Einfluß auf das gegenwärtige Verhalten, je nachdem, ob man die Zukunft fürchtet oder herbeisehnt. Zukunftserwartung realisiert sich immer als Gegenwart und nie als ein Dereinstmal. Die Vergangenheit ist, zum Beispiel als Geschichte, in der Gegenwart präsent und wirksam, also unabgeschlossen, oder sie bleibt eine Chimäre naiver Zeitvorstellung. Die Therapie der Zeitkranken wäre also darauf auszurichten, ihnen das Gegenwärtigsein des Vergangenen und Zukünftigen als eigene Gegenwart deutlich zu machen – das heißt, man muß sie das Warten lehren, aber nicht das Warten, das im Eintritt des Erwarteten vergehen wird, sondern das erwartungslose Warten.

Den zeitkranken Wissenschaftlern, den Historikern sollte wieder klar werden, daß es Geschichte nur als Erzählung von jeweils Lebenden gibt und nicht als Rekonstruktion des tatsächlich Vergangenen. Postmoderne und Posthistoire sind Gegenwarten, in denen eine Vielzahl von Vergangenheiten und Zukunftserwartungen gleichzeitig und nebeneinander wirksam werden. Sie sind gerade nicht die Verabschiedung der Geschichte, sondern die Erscheinung der Geschichte als Gegenwart. So viel Vergangenheit und so viel Zukunft war nie – das markiert unser Entwicklungsniveau. Nichts bleibt mehr zu erwarten. Alles ist schon da. Deshalb hoffnungslos die Lage? Für Zeitkranke ja! Therapie? Warten! Edward Hoppers Bilder ansehen, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Anmerkungen am unteren Seitenende:
S. 315: tröstliche Maxime
S. 316: Warten ohne Erwartung
S. 317: die Entdeckung der Langsamkeit
S. 318: das zuhörende Warten
S. 319: die sinnlosen Opfer
S. 320: Dieses Papier ist »leicht holzhaltig«, also weniger »alterungsbeständig«.
S. 321: Dieses Papier ist »holzfrei, chlorfrei, ph-neutral, alterungsbeständig«.

S. 315
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S. 316
S. 316
S. 317
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S. 318
S. 318
S. 319
S. 319
S. 320
S. 320
S. 321
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siehe auch: