Magazin GALORE
Interviews
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Seite 98 im Original
Interview: Ute Cohen
28. August 2018, Berlin. Die „Denkerei“ liegt in Kreuzberg, über den riesigen Schaufenstern klare Ansagen: „Bazon Brock – Denker im Dienst – Öffentliches Glühen“ Hier wirkt er also, der Künstler ohne Werk, der berühmte Professor für Ästhetik, dem seine Schüler an den Lippen hingen, bis sie vor Erschöpfung auf dem Boden lagen. Die Assistentin weist auf den Meister, der an einem schmalen Bürotisch sitzt. Im Regal: zum Kunstwerk erhobene Alltagsgegenstände zu den Themen Liebe und Schönheit, Shampoo-Flaschen und Bonbons. Bazon Brock sondiert, erschnuppert, erfühlt sein Gegenüber. Es wird um Körper und Gewalt gehen, um Pornografie und Barbarei, um Sprechverbote und eine Zumutung namens Freiheit.
Herr Brock, „Lernt fliegen!“ heißt es in Ihrem Manifest aus dem Jahr 1968. Hat sich unsere Gesellschaft aerodynamisch verändert?
Aerodynamisch? (lacht) Ich spreche lieber von der shakespeareschen Sturmdynamik, also der Bewegtheit der Seelen. Ob 1968 da eine große Wirkung hatte, kann man bezweifeln. Fliegen ist ein Synonym für Gedankenarbeit. Wir wollten uns hinausdenken, hinausfliegen aus der Situation. „Fantasie an die Macht!“ hieß es in Frankreich, aber sie ist nicht an die Macht gekommen. Unsere Erzählung von 1968 besitzt eine märchenhafte Dimension. 1968 war aber eigentlich das Gegenteil der großen Vision der fliegenden Gedanken, die aus dem Gefängnis der Gesellschaft in die Welt wirken.
Sieht man vom Eskapismus mithilfe von Drogen ab...
Auch das war nicht 1968! Das war die Aussteigerszene der Popkultur. 1968 war aber kein Erlebnis der Popkultur, kein Aussteiger-, sondern ein Einsteigerprogramm: Bürger, kommt herunter und reiht euch ein. Nicht: Geht ins Schlafzimmer und raucht einen Joint.
Wurde die geistige Mobilität, die Sie forderten, ersetzt durch körperliche Mobilität, das extreme Hin- und Herjetten in Billigfliegern zum Beispiel?
Die Hin- und Herfliegerei ist eine Auswirkung der 68er-Bewegungen in einem bestimmten Milieu. Das sind die Leute, die die Chefs von Werbeagenturen wurden. Eine merkwürdige Karriere für einen politischen Aktivisten. Diese Leute verstehen die Kraft des Wünschens falsch, denn ein großer Teil der Wünsche bleibt unerfüllbar. Das Potenzial der Veränderung muss man im Verzicht erkennen. Asketen sind selbstdiszipliniert. Erreicht hat 1968 deshalb nichts, weil wir es gar nicht darauf angelegt haben, unsere Wünsche erfüllt zu bekommen. Stattdessen wollten wir aus der Kraft der Unerfüllbarkeit weiteres Potenzial, weitere Energie ableiten.
Waren die 68er demnach Asketen?
Klar. Der autonome Mensch entflieht nicht Verkehrsregeln und Steuerzahlung, sondern er unterwirft sich selbst dem Programm der zivilisatorischen Zähmung. Die Aufhebung der Regeln zerstört jede Möglichkeit, sich frei zu fühlen. Man musste sich 1968 etwas zumuten können, lange laufen, marschieren. Bei wenig Essen und Trinken musste man den ganzen Tag überstehen bei permanenten Diskussionen. 18 Stunden am Tag Auseinandersetzungen, das erfordert körperliche Fitness.
Ihre Studenten lagen schlafend auf dem Boden...
In aktiven Phasen schliefen wir eben im Museum. Die meisten Deutschen kannten damals ihre Körper nicht. Es gab in diesem Land einen hohen Anteil an Tabuisierung. Krebs war total tabuisiert, psychische Erkrankungen total tabuisiert, aber auch Behinderungen. Die letzten Schwerstkriegsversehrten wurden in Anstalten gehalten, Leute mit einer weggeschossenen Backe, wo man in den geöffneten Mundraum hineinsehen konnte, oder die sonstwie verkrüppelt waren. 1968 veröffentlichte man das. Die Studenten mussten Körper, ihren eigenen und die der anderen, erst entdecken.
Wie erklären Sie sich die heutige Rastlosigkeit?
Heute gibt es überhaupt keine Verortung mehr. Deshalb auch die Wiederkehr des Begriffs Heimat. Das ist nichts anderes als – abgesehen von der politischen Manipulation – eine Anerkenntnis, dass sich permanent zu bewegen eine Beherrschung der Bewegung durch die Orientierung auf den Fixpunkt erfordert. Wir brauchen eine Adresse. Sich zu verorten in dieser für alle erschlossenen Welt, das ist unser Wunsch. Der archimedische Punkt, von dem aus man hebelt, heißt Heimat. Man braucht ihn, denn es kann niemand Universalist sein, niemand kann frei fließen, wenn er nicht irgendwo hingehört.
Wie wichtig ist der Körper in der Kunstrezeption?
Im Wesentlichen ist das eine Frage der Beherrschbarkeit. Der Körper muss zum Medium werden können. Er ist es vor allem, wenn er trainiert ist. Gesund ist ein Mensch, der seinen Körper nicht thematisiert.
Es ist also die Krankheit unserer Zeit, dass der Körper permanent thematisiert wird.
Genau. Weil natürlich das Realgeschehen in der kapitalistischen Warenwelt die natürliche Körperlichkeit der Menschen überfordert. Man setzt sich auf einem Sofa ab – Couch-Potato – und operiert dort unabhängig von dieser Hülle. Das hat sich als nicht haltbar erwiesen, weil der Körper von Natur aus eine Leib-Seele-Beziehung ist. Ein gesunder Geist in einer Hülle ist nicht möglich.
Nur ein gesunder Körper führt zur Revolution?
Wer ein Fettsack des Genusses wird, kann überhaupt keine sexuellen Liebesaktivitäten mehr absolvieren. Dabei hängt die Arterhaltung von der Kopulation ab. Alle Reize aus der Umgebung sind sexuelle, darauf muss artspezifisch geantwortet werden. Daher entstand die Fitnessbewegung. Lebendig ist, wer die aus der Umwelt kommenden Appelle aufnehmen kann und entsprechend reagiert.
Steht der Körper im Dienst der Revolution?
Nein, 1968 sollte der Körperkult vom Odium des politischen Missbrauchs befreit werden. Die 68er sollten endlich wieder aus reiner Lust kopulieren können – und eben nicht Reproduktionsverpflichtungen genügen. Die Künstler der 68er bezogen sich auf die Lebensreformbewegung der 1890er Jahre mit permanentem Leben in Luft, Licht und Wasser. Diese Freikörperkultur wurde aber auch in totalitären Staaten unter Stalin und Hitler fortgeführt. „Kraft durch Freude“ war die Erfüllung der Bauhaus-Parole: Luft, Licht, Freiheit in den Werkstätten.
Gibt es einen Beweis dafür, dass sich Kunst körperlich auswirkt?
Das stellte man im 14. Jahrhundert fest, als die Männer den Frauen ihre lebengebende Kraft neideten. Sie bemalten Holztafeln und stellten fest: Der Betrachter wird durch das Anschauen zornig, aggressiv oder liebevoll gestimmt, sexuell lusterfüllt. Das war der Beweis. Kunst ist nicht das, was an der Wand hängt. Kunst ist das, was sie im Betrachter bewirkt. Ein Hund pinkelt, wenn er einem stabartig geformten, vertikalen Gebilde gegenübersteht. Genau so reagiert der Mensch – artspezifisch natürlich – körperlich auf ein Kunstwerk.
Wann haben Sie selbst einmal eine extreme Reaktion vor einem Kunstwerk verspürt?
Für mich ist das biografisch eindeutig: 1959 vor Hundertwassers Motiv des labyrinthischen Zirkels. Als ich die Hundertwasserspiralen sah, dachte ich: Wenn wir das richtig betrachten, müssen wir selbst spiraloide Bewegungen vollziehen. Dann haben wir angefangen, Linien durch die Räume zu ziehen, das Motiv in Realität übersetzt. Wir haben eine kontinuierliche Linie durch den Raum gezogen, nie unterbrochen.
Sie sprechen von „pornografischer Energieübertragung“ bei der Betrachtung eines Kunstwerks. Bestimmt Sexualität unsere Wahrnehmung?
Nein, das ist nur der bestimmendste Impuls. Fortpflanzung ist das Ziel, deshalb sind das die stärksten Primärreize. Bei Bildern ist das genauso, sie sind wie lebendige Menschen. Jegliche Wahrnehmung der Welt wird durch pomografische Wirkungsübertragung in Gang gesetzt.
Ist das geschlechterübergreifend?
Man hat immer behauptet, das sei geschlechtlich differenzierbar, das stimmt aber nicht. Alle Einschränkungen sind kulturell. Wenn jemand gezwungen wird, sich öffentlich zu verschleiern, dann ist das kein Schutz vor Zugriffen von außen, sondern ein Hindernisgrund, sich selbst auf Reizauslöser einzulassen. Die Protektionisten als Antiaufklärer verbieten den Frauen durch Verschleierung, sich selbst noch als souveräne Reizgeber und Reiznutzer zu verstehen. Ohne sich als Reizgeber aktiv zu äußern, verkümmert auch die Verarbeitung der von außen kommenden Appelle zur Reaktion auf solche Reize.
Vor ein paar Jahren gab es in Berlin eine Ausstellung namens „Porn Porn Porn“. Die Frage lautete: Ist das Pornografie oder Kunst? Blanker Unsinn diese Frage, oder?
Ja, weil natürlich alle Kunstrezeption auf dem pomografischen Mechanismus beruht. Wenn man einen Kaufimpuls auf Nudelpackungen entstehen lässt, dann hat das zwar nichts mehr mit Nacktheit zu tun, aber auch für Nudeln wirbt man erfolgreich nur unter Indienstnahme des pornografischen Grundwirkungsschemas. Eine funktionierende Verpackung erzeugt einen starken Reiz, der sich körperlich äußert – und damit einen Kaufimpuls.
Ich sehe ein Bild und reiße mir die Klamotten vom Leib...
(schmunzelt) Theoretisch ist das richtig. So müsste man eigentlich reagieren. Körper kann man aber nicht vom Geist abkoppeln. Man kann nicht sagen, ich muss jetzt im Museum kopulieren, da das Bild so einen starken Reiz ausübte. Jeder Richter sagt, als zivilisierter Mensch müssen Sie eben Ihre Triebe beherrschen und sublimieren. Dann stehen Sie vor einem Bild und schreiben ein Gedicht, anstatt zu kopulieren.
In der Ausstellung gab es ein Bild von Martin Eder, auf dem er Techniken der Hochglanzfotografie malerisch auf einen pickligen Körper überträgt.
Der, Pickelkörper, den ein Maler abbildet, um der pornographischen Wirkung zu entgehen, ist kein Beweis dafür, dass das Schema nicht funktioniert. Die Reaktion ist einfach nur Abwendung, Kotzen statt Gier. Deformation führt zum Kotzen. Kotzen ist aber der Beweis, dass das Grundschema, das vom limbischen System gesteuert wird, funktioniert. Hinwenden und Abwenden ist ein und derselbe Prozess. Sie gieren nach Schokolade, essen, bis der Moment der Überschreitung der Ekelschwelle kommt, dann kotzen Sie. Das gilt auch für Pornografie.
Sie kämpften für die Freigabe der Pornografie...
Vor der Freigabe der Pornografie zeigte das Verbotene einen besonderen Reiz. Zu viel Pornografie führt zu Abstumpfung, man muss aber den Naturmechanismus zwischen Hin- und Abwendung einhalten.
Hat die „No-Porn“-Kampagne von Alice Schwarzer zu einem Überkonsum von Pornografie geführt?
Das kann so begründet werden, ja. Die Kritik stärkt das Phänomen, deshalb sind die Kampagnen alle gescheitert. Im Gegenteil: Seit der medialen Verfügbarkeit von Pornos, insbesondere im Internet, verlieren immer mehr Menschen die Lust an der sexuellen Aktivität. In Japan wird überhaupt nicht mehr kopuliert. Die brauchen eine staatliche Aufforderung!
Gegen Disziplinierung haben Sie nichts einzuwenden?
Nein, eine Regel ist keine Disziplinierung im Sinne von Unterwerfung, sondern die Möglichkeit der Freiheit.
In der öffentlichen Wahrnehmung steht bei den 68ern oft das Laissez-faire im Vordergrund. Bei Ihnen zählt das Gegenteil: die körperliche und geistige Anstrengung.
Ja. Wie rezipieren Sie Ihren eigenen Körper? Sie schauen in den Spiegel, sagen sich: Erreiche ich das Optimum oder nicht? Sobald Sie sehen, dass Sie es nicht können, machen Sie Übungen, schminken sich, um wieder auf den alten Stand der Freiheit zu gelangen.
Optimum ist ein Begriff den ich infrage stelle.
Das Optimum ist die freie Verfügbarkeit des Körpers, nicht die Thematisierung des Körpers. Defekte wollen wir beseitigen, um frei zu sein. Und Freiheit wollen Sie doch, nicht wahr?
Im Privaten konzentrieren wir uns voll auf den Körper, im öffentlichen Raum droht sein Verschwinden. Facebook zum Beispiel löscht jegliche Nacktheit. Wie gefährlich ist der Körper?
Offiziell redet man von Rücksicht auf andere kulturelle Einstellungen. Das körperliche Motiv ist aber nur ein Vorwand für die eigentlich gemeinte geistige und gedankliche Unterdrückung, das ganze Gerede ist also nur eine Pseudo-Legitimation von Zensur. Es sind religiöse, politische, moralische Einwirkungen, die unter falscher Flagge segeln. Politische Korrektheit ist nichts anderes als die Legitimation von Machtausübung durch Zensur, getarnt als moralische Rücksichtnahme auf andere. Das sind schlicht getarnte Aspekte der Tyrannei.
Sind das Symptome einer zunehmend totalitären Gesellschaft?
Offensichtlich gibt es die Tendenz, autokratische Regime wiedereinzuführen. Wir sehen das in Russland, China, der Türkei. Das hat seinen Grund in der Evolution: Insektenkulturen erzeugen Hochleistungen mit dummen Individuen, die Kollektive hingegen sind extrem intelligent. Die Termiten erzeugen ein Idealklima in ihrem Bau, jede einzelne Termite ist aber saudumm. Bei den meisten Säugetieren und Primaten ist es umgekehrt: Die Individuen können alles, aber die Kollektive sind dumm. In einer Autokratie mischt man die Vorteile der Führungskraft des Individuums mit der Kollektivitätskraft der Insekten. Das droht uns überall, weil Freiheit anstrengend ist.
Folgt auf Körperexzess nun wieder eine schamvolle Gesellschaft?
Es gibt Zivilisationstheorien, die behaupten, auf Freisetzung folge Restriktion, dann wieder Freisetzung: Rock hoch, Rock runter, Rock wieder hoch. In Wahrheit ist der Wandel aber durch das limbische Regulativ in der Natur begründet. Man hat das an Ratten festgestellt: Greift man in ihr limbisches System ein, verdursten sie, weil sie die Ablösung von der Reizquelle vergessen. Wellenbewegungsmodelle funktionieren auch nicht mehr für Westeuropa, weil sich muslimische Einwanderer nicht synchron zu den hier Lebenden verhalten. Biologisch kann man den Wechsel von Exzess und Tabu jedoch erklären.
Sie selbst haben ein Kleid nur aus Reißverschlüssen designt.
Ja, das Kleid folgt der Dialektik von Enthüllen und Verhüllen: öffnen und schließen. Verhüllen dient nur der Stimulierung, man freut sich umso mehr auf den Inhalt, je auffälliger die Verpackung ist, wie beispielsweise in der japanischen Kultur.
Glauben Sie wie Michel Houellebecq, dass sich die abendländische Kultur einer anderen unterwerfen wird?
Nein, Kulturen unterwerfen sich prinzipiell nie. Das ist ein Schreckgespenst. Wer Unterwerfung fordert und noch dazu als Religion, der ist antidemokratisch. Indem ich Autonomiegedanken der Individuen leugne, gibt es Unterwerfung.
Soll man Unterwerfung tolerieren?
Nein. Die Scharia ist keine religiöse Bewegung, sondern eine Gesellschaftsordnung. Man kann natürlich aber auch sagen, der Kapitalismus sei die moderne Religion schlechthin, mit seiner Parole „Unterwerft euch!“ – und zwar eurem Kaufimpuls.
Wie sollen wir mit den kulturellen Differenzen umgehen? Kunstwerke verhüllen?
Keinesfalls. Wir können doch nicht zulassen, dass wir wieder zurückgehen in eine Gesellschaft mit barbarischen Idioten. Reizquellen verhüllen, weil man sich nicht beherrschen kann? Das wäre die Freisetzung der barbarischen Urkräfte.
Der Körper ist auch ein Gefängnis. Ernst Bloch soll zusammengebrochen sein, als er erkannte, dass der Ausbruch aus der eigenen Wahrnehmung niemals möglich sei.
Das ist doch klar. Ich kann nur meine eigenen Gefühle wahrnehmen, nicht Ihre. Bloch war seiner ersten Frau so inniglich verbunden, dass er annahm, dass sie sich wechselseitig wahrnahmen und in eins übergingen. Dass dem nicht so war, hat ihn ohnmächtig werden lassen, auf dem Rheinufer in Ludwigshafen.
Sind Tattoos und Piercings ein Ausbruch aus dem Körper?
Nein, was hier mit Tattoos ausgedrückt wird, ist der reine Irrsinn, die vollkommene Willkür. Das ist eine kapitalistische Ausbeutung der Maori-Kultur. Tattoos sind kulturell gebunden, man muss sie lesen können. Es ist nichts anderes als ein Zeichen der Rebarbarisierung, die Unterwerfung unter ein Beliebigkeitsdiktat. Die Leute verfügen über ihren Körper, als sei er nix, kümmern sich nicht um Konsequenzen. Das wird noch zu Rückwirkungsprozessen führen! Die Yakuza hacken sich den kleinen Finger ab, als Zeichen der Zugehörigkeit. Ein Tattoo reicht schon bald nicht mehr: Das wird hier auch kommen.
Branding als Körperschmuck ist also auch Zerstörung.
Ja, es ist die Legitimation von Gewalt als Zerstörungskraft. Jeder, der sich tätowieren lässt, will eigentlich bestätigen, dass er für Gewalt als Ausdrucks- und Vernichtungskraft ist. Er schätzt Körper nicht. Jeder, der sich tätowieren lässt, ist ein Faschist. Wir reden über die eintätowierten Nummern der KZ-Insassen, und nun gehen die Leute freiwillig her und lassen sich die gleichen Nummern eintätowieren. Die sind doch wahnsinnig! Wir müssen unseren Körper anerkennen als natürliche Gegebenheit. Wir sind biologisch evolutionär geprägte Wesen. Wer das leugnet, ist von vornherein verrückt.
Der Transhumanismus sagt, der Mensch könne seine Grenzen durch technische Verfahren erweitern. Schlauer werden, immer älter werden. Was halten Sie davon?
Nichts, denn das ist ein totalitärer Ausdruck von Kräften der Zerstörung, die den Kapitalismus ausmachen. Der Kapitalismus bedeutet eine schöpferische Zerstörung. 1968 mit „Macht kaputt, was euch kaputtmacht, um nicht kaputtzugehen“ war etwas ganz anderes.
Michel Houellebecqs Gedicht vom Dichter in der Grotte beschreibt den transhumanen Menschen, der auf uns zukommen wird.
Alles Unsinn! Transhumanisten glauben, die Zukunft zu sichern, aber dann ist es kein Menschsein mehr. Das ist ja der Witz!
Kann man ein verändertes Menschenbild nicht koppeln mit dem Glauben an die Liebe?
Nein, weil das Gefühl der Liebe abhängig ist von dem, was wir naturevolutionär als Lebewesen geworden sind. Es sieht so aus, als ob die Gedanken frei wären, aber das sind sie eben nicht. Wenn Sie erschossen werden, nützt Ihnen die Freiheit der Gedanken nichts mehr. Die Transhumanisten wollen die Grenzen der beschränkten Existenz hinausschieben. Den Tod abschaffen zu wollen ist Unsinn. Denn erst unter Drohung des Todes wird das Leben interessant und jede Minute kostbar.
Im Transhumanismus gibt es keine Liebe mehr?
Natürlich nicht, weil sie keine Basis mehr hat. Es gibt keine Liebe losgelöst von der physischen Existenz. Wenn der menschliche Körper nicht mehr da ist, gibt es auch keine menschlichen Gedanken mehr.
Houellebecq sagt: „Ich glaube an die Liebe. Sie ist das Einzige, was wir haben.“
Na und? Was bedeutet das für den Transhumanismus? Nichts. Das sagte man vor 200 wie vor 2000 Jahren. Seit den Dichtungen der Sappho wissen wir das in unserem kulturellen Bereich. Alle Lust will Ewigkeit, sagt Nietzsche. Es gibt aber keine beliebige Wiederholung. Das liegt an der prinzipiellen Erschöpfung der Wiederholungsmöglichkeit: Man stirbt oder stumpft ab. Sie können doch die Menschen nicht vernichten und sagen, das Transhumane sei das Ziel. Das ist ja nur solange ein Ziel, wie es den Menschen gibt. Transhumanität ist ein Unsinn.
Sie haben einmal gesagt: „Identifizierung mit mir und dem, was ich sage, ist unmöglich.“ Haben Sie nicht genau das Gegenteil bewirkt: eine „Begeisterungsgemeinschaft“, die Ihnen zu Füßen liegt?
Nö, die gibt's leider nicht. Jeder würde gern eine solche Wirkung bestätigt bekommen, um dann wenigstens zu sagen: Kinder, ihr dürft euch nicht unterwerfen. Das gibt's jedoch nicht. Auch Nietzsche hat beklagt, dass ihm niemand gefolgt ist. Ich würde wahnsinnig gern mal Leute kennenlernen, die bereit wären zu sagen: Ich unterwerfe mich deinem Führungsanspruch!
Und dann?
Würde ich sie dahin führen, dass sie autonom werden. Das wäre der Beweis meiner Fähigkeit, als Lehrer zu wirken. Davor haben die meisten Angst, und deswegen kommen sie nicht, denn Freiheit ist eine Zumutung und nicht eine Belohnung. Ich muss mich zur Autonomie durchringen, dafür muss ich wahnsinnig viel wissen. Der Erfolg des Lernens ist aber, dass ich immer besser weiß, was ich nicht weiß. Ich bin kein Schamane, sondern diagnostiziere wie ein Arzt. Das ist den meisten viel zu anstrengend.
Hat man Ihnen schon einmal den Mund verboten?
Selbstverständlich versuchen Leute dauernd, Sprechverbote zu erlassen, aber die greifen nicht bei mir, da ich eben autonom bin. Ich setze mir die Regeln als Bedingung der Freiheit selbst, daher macht mir das Gerede der anderen nichts aus. Das ist nur Ausdruck von Machtgebaren. Die Disziplinierung – „Schränke dich ein, geh zu Schweigekursen“ – soll ja nur die Aufmerksamkeit auf die Sprachakte verstärken und nicht verhindern.
Soeben ist das Buch „Vox“ erschienen, eine Dystopie, in der Frauen nur hundert Wörter pro Tag erlaubt sind. Bei Überschreitung des Quantums gibt es Elektroschocks. Auf welche Wörter würden Sie persönlich am ehesten verzichten, wenn man Sie zwänge?
100 Wörter am Tag? Das ist eine viehische Rebarbarisierung. Man kann natürlich auch mit dem kleinsten Potenzial etwas Gewaltiges produzieren, aber der Grundgedanke ist nichts anderes als die Aufforderung zur Unterwerfung unter ein Diktat. Insofern verbietet sich allein das Eingehen auf diese Möglichkeit von selbst.
Ach, mal ein kleines Spiel ...
Ist ja kein Spiel. Ist ja ein blutiger Ernst, ein blutiger barbarischer Akt, den man einem Menschen nicht zumuten darf, wenn man nicht Barbar ist. Wen man ein Barbar ist, freilich, dann ist das heiter.
Geboren wurde er als Jürgen Johannes Hermann Brock, sein Gymnasialprofessor Max Thiessen gab ihm den Namen „Bazon“ – das ist griechisch und bedeutet: der Redner, der wie ein Anwalt öffentlich nicht seine eigenen, sondern die Sachen seiner Klienten vertritt. Als solcher liebt er die weite Geste, unterwirft sich nichts und niemandem. Er lässt aber auch Kritik gelten, fordert sie sogar. Eines seiner Reizthemen: Political Correctness. Bazon Brock schreibt die Freiheit des Denkens und Handelns, die Autonomie des Menschen groß. Er fordert Freiheit und Regeln, denn: „Freiheit ist nicht Anarchie.“ Die von ihm aufgestellten 18 Theoreme sollen dazu dienen, an den „unlösbaren Problemen“ der Welt zu arbeiten.
Der Körper verschwindet aus dem öffentlichen Raum. Verhüllt wird er, in Museen verhängt aus Angst vor Gefühlsverletzungen, aus sozialen Netzwerken gelöscht. Der Körper aber ist für Bazon Brock zentral für die Wahrnehmung, für menschliches Handeln. Brock plädiert für einen gesunden, respektvollen Umgang mit dem Körper. Eingriffe und Entstellungen hindern den Menschen daran, frei zu sein. Tattoos sind für Brock imperialistische und faschistische Willkür. Völlig abwegig ist für ihn die Idee, den Menschen durch den Transhumanismus zu überwinden. Das Ziel der sog. Transhumanisten, mithilfe des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts den Tod nicht als entscheidende anthropologische Konstante wahrzunehmen und den Menschen zu transformieren, hält er für irrsinnig.
»Erreicht hat 1968 deshalb nichts, weil wir es gar nicht darauf angelegt haben, unsere Wünsche erfüllt zu bekommen.«
»Die Aufhebung der Regeln zerstört jede Möglichkeit, sich frei zu fühlen.«
»Politische Korrektheit ist die Legitimation von Machtausübung durch Zensur, getarnt als moralische Rücksichtnahme auf andere.«
»Gesund ist ein Mensch, der seinen Körper nicht thematisiert.«