Ausstellungskatalog Essen in der Arbeitswelt

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Zu einer Ausstellung des IDZ Berlin (TeutI) 1972.06.21-08.27

Redaktion: Lippki, Erika

Erschienen
1970

Verlag
IDZ Berlin

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Umfang
98 S. + Beil. : Ill., graph. Darst.

Einband
kartoniert

Seite 38 im Original

Essen als Weltaneignung

Die primäre Form der Weltaneignung ist die Aufnahme von Nahrung durch den Mund. Der Mund ist ein Weltorgan, das Aneignung nach dem Prinzip der eingestülpten Oberfläche ermöglicht. Solche Einstülpungen sind die entwicklungsgeschichtlich frühesten Formen der Organbildung. Durch Einstülpung entsteht ein Hohlraum, der Außenwelt zur Innenwelt macht; dadurch wird eine Differenzierung des Organismus gegenüber seiner Umwelt ermöglicht. Der Organismus nimmt Umwelt in sich auf.
In der Unterscheidung zwischen angeeigneter Umwelt und aneignendem Organismus bilden sich früheste Beziehungsformen von weltverschlingendem Subjekt und Welt aus. Der Organismus richtet sich mit seinem Aneignungsorgan auf bestimmte anzueignende Bestandteile seiner Umwelt aus. Die Aneignung findet in einer bestimmten Richtung und Intention statt. Als Phasen des Aneignungsvorgangs werden unterschieden:

a Ausrichtung auf Anzueignendes,
b der Aneignungsvorgang,
c die Transformation des Angeeigneten,
d die Ausscheidung des transformierten Angeeigneten, wodurch sich der Stoffwechsel zwischen Welt und Aneigner wieder schließt.

Das Essen sollte demnach verstanden werden als Form der Aneignung, als Transformation des Angeeigneten und als Moment des Stoffwechselkreislaufs, der sich in dem Moment schließt, in dem das Gegessene und Transformierte wieder ausgeschieden wird.

1.1 Essen als Weltaneignung

Bedeutsam für das Weltaneignungsorgan Mund ist, daß es auf Kooperation mit anderen Aneignungsorganen des Menschen angewiesen ist: auf Augen, Geruchssinn, Tastsinn, die Hand und die Beine.
Die Fortbewegungsorgane und die Augen ermöglichen die über weite Distanzen gehende Ausrichtung des Mundes auf die anzueignenden Weltbestandteile. Die teleskopartig bewegbaren Arme ermöglichen eine differenziertere Nahkonfrontation von Mund und Anzueignendem. Der Kopf und der Mund selber können als begrenzt mobile Systeme Feineinstellungen der Konfrontation erreichen. Es ist verständlich, daß für die Menschen die frühesten Formen der Weltaneignung einen entscheidenden Einfluß auf die in seiner Entwicklung später ermöglichten Aneignungspraktiken behalten.
Diese erste Form der Weltaneignung durch den Menschen ist die Aufnahme von Nahrung durch den Mund, wobei sich in dieser frühkindlichen Entwicklungsphase das Aneignungsorgan Mund noch nicht auf das Zusammenspiel mit den anderen Aneignungsorganen verlassen kann. Deshalb hat der Mund alle wesentlichen Aneignungsleistungen durch die anderen Organe zunächst selber zu erbringen, bzw. müssen solche Aneignungsleistungen durch die Tätigkeit der Vermittlung anderer übernommen werden. So führt die Mutter mit eigener Intention Welt in das Aneignungsorgan Mund ein, indem sie ihre Brustwarze dem kindlichen Mund so anbietet, daß im gleichen Augenblick Grob- und Feinkonfrontation ermöglicht werden. Der Mund selber ist in dieser Phase der Entwicklung wesentlich Aneignungsorgan, das selber an der Transformation des Angeeigneten kaum Anteil hat. Aneignung ist primär »Verschlingen«.
Beim Verschlingen passiert das Angeeignete in der Gestalt den Mund, in der es in ihn eingeführt wird. Dabei kommt es zu einem sehr intensiven Oberflächenkontakt zwischen Schleimhäuten und Angeeignetem. Dieser Oberflächenkontakt ist eine erste Form der Wahrnehmung des Angeeigneten durch den kindlichen Aneigner, weshalb Kinder das Wahrnehmungsorgan der Mundinnenwände auch dazu benutzen, unmittelbaren Kontakt zur Gegenstandswelt aufzunehmen.
Es ist bis heute strittig, wie die Programmierung des Geschmacks als eines Wahrnehmungsapparates vonstatten geht. Es spricht einiges dafür, daß die gesamte Mundschleimhaut daran beteiligt ist, wenn auch die geschmackliche Grundprogrammierung in der Süß/Sauer-Skala bereits vorliegt, bevor der erste Kontakt von Mund und Welt stattfindet.

1.2 Essen als Transformation

Erst mit der Ausbildung des Kauapparates und mit der Beherrschung der Bewegungsmuskulatur übernehmen der Mund und der Mundinnenraum die Funktion einer Transformation des Angeeigneten. Die Gestaltwahrnehmung des Innenmundes tritt zurück, da sie inzwischen durch die anderen Aneignungsorgane des Körpers übernommen worden ist. Die Gestalt des Angeeigneten wird nun bereits durch den Tastsinn, Geruchssinn und den Gesichtssinn getätigt, bevor es zur Aneignung durch den Mund kommt. Im Abbeißen wird das Anzueignende vereinzelt; durch Kauen zerhackt; mit der Zunge geknetet, vom Speichel weich gemacht, wodurch nunmehr die differenzierte Substanzwahrnehmung an die Stelle der Gestaltwahrnehmung tritt.
Substanzwahrnehmung im Vorgang der ersten Transformation aufgenommener Nahrung geht einher mit der vollständigen Vernichtung jeder Gestalt des Aufgenommenen, bis jener gestaltindifferente flüssige Brei erzeugt ist, der die differenzierte Substanzwahrnehmung ermöglicht. Substanzwahrnehmung gilt einer letzten Kontrolle über die Genußfähigkeit des Angeeigneten und vor allem der Erzielung eines zusätzlichen Gewinns an Aneignungslust, indem das Gutschmeckende Aneignung über die bloße Befriedigung von Hunger hinaus stimuliert. Die Aneignung in der Transformation und Substanzwahrnehmung wird zu einem lustvollen Genießen des Angeeigneten; wohingegen transformationsloses Verschlingen lustvolles Genießen der Aneignung selber ist. Deswegen werden primäre Aneignung als Genuß des transformationslosen Verschlingens und sekundäre Aneignung als Genuß des Angeeigneten unterschieden. Zur vollen Ausbildung der Genußfähigkeit gehört sowohl primäre als auch sekundäre Aneignung.
Über solche voll ausgebildete Genußfähigkeit verfügen nur wenige Menschen. Bei den einen dominiert die Verschlingungslust, weil die Transformationslust gerade durch das Verschlingen nicht ausgebildet werden konnte; bei den anderen ist die Verschlingungslust äußerst gering, wodurch die Voraussetzung für mögliche Transformationslust ebenfalls fehlt. Ursachen für diese Störung der Genußfähigkeit sind, soweit sie nicht organisch bedingt sind, fehlerhafte Konfrontationsformen von Welt und Subjekt. »Verschlinger« leben in einer ständigen Angst vor dem Objektverlust - sei es aus Gründen der Knappheit, sei es unter der Entzugsdrohung durch andere. In sozialen Situationen der knappen Nahrungsmittel nimmt auch die Konfrontationshaltung des Verschlingens rapide zu. Die Verschlinger versuchen, sich einen möglichst großen Anteil an den vorhandenen Nahrungsmitteln dadurch zu sichern, daß sie anderen an der kollektiven Nahrungsaufnahme Beteiligten zuvorkommen. Diese Verschlingungshaltung wird meistens habituell ausgebildet - über den konkreten Anlaß hinaus. Auch bei Sicherung der Nahrungsquellen werden solche Menschen weiter den Aneignungstyp »Verschlingen« beibehalten. Da über lange Perioden der sozialen Entwicklung des Menschen Knappheit der Nahrungsquellen gegeben war, bedurfte es anstrengender Ritualisierung der Nahrungsaufnahme, um die Aneignungsform des Verschlingens zu bändigen und somit die Chancen der Transformation zu erhöhen.
Bei Menschen, die nicht einmal Verschlingungslust ausbilden können, liegt - soweit keine organischen Schäden vorhanden sind - die Ursache in ihren individualgeschichtlichen Entwicklungsbedingungen. Ihnen wurde durch strikte Verbots- und Gebotsregulierung unmöglich gemacht, den ursprünglichen Aneignungstrieb durch Verschlingen als Grundvoraussetzung einer Welt/Subjekt-Konfrontation zu sichern.

1.3 Essen als Moment des Stoffwechsels von Subjekt und Welt

Dem Prozeß der Weltaneignung korrespondiert mit Notwendigkeit der Prozeß der Produktion. Diese Korrespondenz ist naturgeschichtlich festgelegt, muß aber bei Menschen auch gesellschaftsgeschichtlich gesichert werden. Eine Reihe von gestörten Umweltbeziehungen ist darauf zurückzuführen, daß der Zusammenhang zwischen Aneignen und Ausscheiden nicht erschlossen wurde. So können sich Kinder häufig mit Angeeignetem förmlich bis zum Platzen vollpumpen. Harn- und Stuhlverhalten als Verweigerung notwendiger Ausscheidung sind Folgen der gestörten Relation von Aneignung und Produktion.
Kinder müssen lernen, ihre Ausscheidungen als solche Produktionen zu betrachten, ja, sie sogar mit Lust zu betrachten, damit ihnen die Bedingtheit von Aneignung im Von-sich-Geben verstehbar wird.
Individualgeschichtlich ist die bewußte Kot- und Urinausscheidung die erste Form von Produktion des Menschen überhaupt. Ihr Schicksal wird weitgehend das gesamte produktive Verhalten eines Menschen mitbestimmen. Das große Befriedigungsgefühl durch eine erbrachte Leistung, das Kinder beim Koten und Urinieren haben können und haben sollten, hängt von der gestalthaften Organisation der produzierten Ausscheidung ab. Sowohl das »Haufenmachen« wie auch die willentliche Lenkung des UrinstrahIs gewähren dadurch Produktionslust, daß sie Gestaltformen sind. Auch erwachsene Menschen nutzen solches Befriedigungsgefühl noch aus, wenn sie ihre eignen Exkremente nach der Ausscheidung mehr oder weniger intensiv zur Kenntnis nehmen. Die lange diskreditierte Stuhlguckerei ist indessen nichts anderes als eine erfolgreiche Erinnerung an jene primäre Produktion von Gestalt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen dürfte nach jeder Ausscheidung zumindest einen flüchtigen Blick auf den produzierten Kothaufen werfen, bevor sie sich durch Bedienung der Wasserspülung von ihrer großartigen Hervorbringung trennen.
Aneignung und Produktion unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, daß das Angeeignete in der Aneignung transformiert wird, in seine Bestandteile zerlegt und einer Reihe von chemophysischen Prozessen unterworfen wird. Im Unterschied zu dieser Verinnerlichung ist Produktion eine Vergegenständlichung und Veräußerlichung, die nur gestalthaft und nicht indifferent gestaltlos als heterogene Masse erscheinen darf. Das kann auch eine zusätzliche Erklärung für die Tatsache sein, daß sich die meisten Menschen vor Erbrochenem mehr ekeln als vor den Exkrementen. Erbrechen ist gleichsam eine Umkehrung des Aneignungsverfahrens; ausscheidende Exkremente hingegen seine natürliche und unumgängliche Konsequenz. Mit der Produktion der Exkremente wird erst auf der gegenständlichen und anschaulichen Ebene der Kreislauf von Natur-Mensch-Natur geschlossen. Essen gewinnt somit erst im Zusammenhang mit den Ausscheidungen von Kot und Urin seine vollständige Dimension eines Anschlusses des Menschen an die Welt.
Um so bedeutender ist, daß für unsere Kultur die strikte Trennung von Essen und Ausscheiden verbindlich ist. So ist es außerordentlich negativ sanktioniert, beim Koten zu essen. Selbst bei jenen legendären römischen Gastmählern, die permanenten Genuß von Angeeignetem ermöglichen wollten, waren Koten und Urinieren aus dem Handlungsfeld ausgegliedert. Immerhin hat sich das Prinzip »Nachttopf« als unmittelbare Integration der Ausscheidung in den Zusammenhang der selbstverständlichen Lebensäußerungen lange erhalten, und es wird in Strafanstalten bis auf den heutigen Tag - allerdings gegen die Intentionen der Gefangenen - aufrechterhalten, wo sich die Gefängniszelle als Einheit von Schlafraum, Eßraum, Aufenthaltsraum und Toilette darstellt.
Koten und Urinieren als primäre Produktion behält bestimmenden Einfluß auf die sekundären Produktionsformen des Menschen, die wir generell als Arbeit bezeichnen. Innerhalb der sekundären Produktion wird die notwendige Relation von Aneignen der Verinnerlichung und abscheidender Vergegenständlichung besonders eindeutig: man ißt, um durch chemo-physische Transformation des Angeeigneten Lebensenergie zu erzielen.
Wiederum geben über diese Beziehung krankhafte Abweichungen nachdrücklich Aufschluß. Bestimmte Störungen - wie etwa Magersucbt - können rein psychisch bedingt sein, wenn der Esser gegenüber dem Angeeigneten das Gefühl der Fremdheit aufrechterhält. Solche Menschen betrachten sich selbst gleichsam als bloße Durchgangsstationen der Nahrung, die in ihnen selbst als selbständige und abgeschlossene Einheiten den Weg vom Mund zum After zurücklegt. In Einzelfällen berichten sie davon, daß sie sehen könnten, wie die Nahrung durch ihren Körper, der gleichsam aus Glas sei, hindurchwandert. Sie haben das Gefühl, durch äußerste Anspannung aller motorischen Systeme des Körpers möglichst schnell die verschlungene Nahrung in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder auszuscheiden.
Gegenläufige Äußerungen machen Kranke, die glauben, mit den von ihnen verschlungenen Weltsubstanzen eine Einheit zu bilden, so weitgehend, daß sie meinen, ihr Körper würde sich selbst aufessen. In der Tat ist es ja immer noch ungeklärt, warum etwa der Magen sich nicht selbst verdaut, was bei bestimmten Krankheiten durchaus der Fall sein kann. Auch scheinen neuere Auffassungen zum Problem der Selbstimmunität des Körpers in der Funktion der Antikörper begründet, die davon ausgehen, daß das Abwehrsystem des Körpers den eigenen Körper zu zerstören beginnt. Für diese Kranken ist das Aneignen von Welt durch Essen eine Form der Entdifferenzierung von Welt und Subjekt. Mythische Einheit entwickelt sich in der Transsubstantiation. Transsubstantiation meint das Identischwerden des Essers mit dem Gegessenen. Ihm droht also permanent die Gefahr, sich in das zu verwandeln, was er durch Essen aneignet. Aber Transsubstantiation kann in bestimmten Praktiken religiöser Weltaneignung auch gewollte Form der Transformation sein, indem etwa durch das Essen eines Gehirns die Kenntnisse des ehemaligen Gehirnträgers oder durch Essen eines Herzens die positiven Charaktereigenschaften seines ursprünglichen Trägers übernommen werden können. Transsubstantiation ist dort nur eine spezifische und extreme Form der Transformierung des Angeeigneten, wobei von einem anderen Kreislaufmodell als dem des Energiehaushaltes ausgegangen wird, nämlich der einheitlichen Form allen Lebens in einem und demselben Moment der Beseelung, der Begeisterung; weshalb es für Menschen wünschenswert sein kann, ihre Subjektivität und Singularität aufzugeben, indem sie sich essend selbst aufheben. Nichts anderes liegt dem Kannibalismus zugrunde, der auch heute in unserer Zivilisation noch deutlich, wenn auch rudimentär, vorhanden ist. Nicht nur, daß man sich »zum Fressen gern« hat und liebende Sehnsucht nach dem Untertauchen und Verschwinden in der Körpergestalt des Partners äußert. Die große Gruppe vegetarisch lebender Menschen bekundet in ihren Begründungen für die Weigerung, Fleisch zu essen, daß sie von der transsubstantiellen Einheit ausgeht, in der alle lebendigen Wesen der Welt prinzipiell gleich sind. Vegetarier beugen der von ihnen noch eindeutiger gespürten Verführung zum Kannibalismus und der dadurch entstehenden Angst vor dem Verschwinden in der anverwandten Substanz vor. Solche nicht bewältigte Angst aktiviert sich dann aber in den meisten Fällen in anderen Zusammenhängen als es die der Weltaneignung und Produktion sind. Für sie verkürzt sich das Kreislaufmodell auf die eine Seite der Externalisierung, die dann allerdings zumeist den Charakter von Zerstörung annimmt.
Etwas von der Bewältigungsanstrengung solcher Angst ist darin zu sehen, daß in unseren religiösen Zeremonien nur der Priester berechtigt ist, dem am Abendmahl Teilnehmenden den fremden Leib und das Blut Christi zur Anverwandlung zu reichen. Nur in dieser Absicherung durch hochgradig bestimmte Verlaufsformen wird der mystische Schauer des Verschwindens in die andere Gestalt gebannt. Darin liegt auch der Sinn der Beschränkung der Abendmahlteilnahme auf einen kleinen Kreis der jeweils viel zahlreicher zu Gottesdiensten versammelten Gemeinde: Der unmittelbare personale Kontakt zum Priester verhindert, daß die privatistische Verspeisung eines anderen Leibes zu unkontrollierten Reaktionen führen kann.
Die christologische Streitfrage, ob der Wein substantiell das Blut Christi ist oder nur seine symbolische Erscheinungsweise, macht deutlich, wie sehr Weltaneignung als Transformation im Akt des Aufnehmens von Speisen von der Fähigkeit des Einzelnen abhängt, sich selbst als Subjekt der Aneignung gegenüber dem Angeeigneten zu behaupten. Transsubstantiation dagegen ist auf entweder schwach oder gar nicht ausgebildete Subjektautonomie des Aneigners angewiesen. Der Zusammenhang von Transsubstantiation und Transformation hat seit alters das Symbol einer sich selbst vom Schwanze her auffressenden Schlange gebildet. Dieses Symbol gilt nicht dem Stoffwechselkreislauf als einer Beziehungsform von Welt und Organismen, sondern kennzeichnet den Zustand prinzipieller Unmöglichkeit einer Differenzierung von Subjekt und Objekt.
Zu allen Zeiten war die Einheit eines Leibes - auch des Tierkörpers - gegenüber jedem Eingriff von außen geschützt. Öffnung und Zerlegung eines einheitlichen tierischen und menschlichen Organismus durfte nur von ausdrücklich dafür legitimierten Personen vorgenommen werden. In aller Regel waren nur die Priester dazu berechtigt. Der Ort, an welchem solche Entdifferenzierung des Lebendigen (Tötung) vorgenommen wurde, war gegen öffentlichen Zugang abgesperrt; was sich bis auf den heutigen Tag in lateinamerikanischen Ländern darin erhalten hat, daß die Schlachter als Funktionsnachfolger der Priester (in diesem Bereich) eine rote Fahne zeigen müssen. Noch schwerer ist, die Legitimation zur Öffnung und Manipulation eines lebendigen Organismus zu erwerben. Seit es medizinische Techniken des Eingriffs in den lebendigen Körper gibt, haben sich die Feldschere, die nur zur chirurgischen Manipulation des äußeren Leibes berechtigt waren, in jene mystischen Gestalten priesterlicher Aura verwandelt, als welche heute die Chirurgen erscheinen.
Es mag nur eine äußerliche, aber bemerkenswerte Tatsache sein, daß Chirurgen ihre Instrumente, mit denen sie den Leib öffnen und in ihm operieren, als »Bestecke« bezeichnen, worin sich die hochgradige Ambivalenz jener Handlungen anzeigt, die von Chirurgen ausgeführt werden: die Ambivalenz von Transformation und Transsubstantiation. In ihr scheint die pointierte Kennzeichnung chirurgischen Bewußtseins als Schlachterseele viel eher als Priesterseele verstanden werden zu müssen.
Bei der Bedeutung, die dem Essen und Abscheiden als Grundvoraussetzung des Lebensprozesses zukommt, ist es nur allzu selbstverständlich, daß sich bei der Erschließung und Verwaltung und Nutzung von Nahrungsquellen die Bedingungen sozialer Existenz eindeutig manifestieren. Wer eine Tiergesellschaft kennenlernen will, wird die bestimmenden Momente des Sozialverhaltens dieser Tiere am Futterplatz beobachten können. Soziale Hierarchien in allen ihren Funktionen erschließen sich dort am eindeutigsten.
Das gilt in gleicher Weise für die menschliche Gesellschaft, wenn auch funktionale Differenzierung nach Arbeitsteiligkeit, Situation, Tageszeit, Lokalität es oft schwer macht, unmittelbare und eindeutige Beobachtungen zu tätigen. Auszugehen ist von der verständlichen Regulierung des Zugangs zu den kollektiv erarbeiteten Nahrungsquellen. Nur diejenigen waren primär zum Essen zugelassen, die sich bei der Erschließung der Nahrungsquellen direkt oder indirekt beteiligt hatten. Fremde, die nicht zur Beschaffung der Nahrung beigetragen hatten, konnten dennoch an ihrem Genuß teilhaben, wenn sie bestimmte Rituale der Partizipation an der Nahrungsaufnahme befolgten. Solche Partizipationsformen am gemeinsamen Essen sind die frühesten Rituale sozialer Kommunikation, die über die Mitglieder der Eigengruppe hinausreichen. Wer als Fremder zur Nahrungsaufnahme zugelassen wurde, war damit in sehr bestimmter Weise zugleich von seinen Markierungen als Fremder befreit, wie auch die Kennzeichnungen erst im vollzogenen Ritual der Partizipation ganz wesentlich wurden. Gastfreundschaft zu gewähren, gehört zu den ältesten Ausbildungen eines kulturellen Domestizierungsanspruchs, der sich auf alle Menschen erstreckte. Dieser Anspruch ist begründet in der strikten Gegenseitigkeit von Erwartungen, die auch Angehörige verschiedener sozialer Gruppen, Stämme, Clans betraf. Partizipation an der gewährten Gastfreundschaft war selbst unter Feinden aufrechtzuerhalten, um eine verbindliche Voraussetzung für die Ausbildung von Beziehungsformen zu ermöglichen. Im Gastmahl, als einem kollektiven Genuß der durch menschliche Arbeit erschlossenen Nahrung, wird noch heute eine Möglichkeit gesehen, Fremde auf die Einhaltung eines vorgegebenen Rituals zu verpflichten und damit für alle Beteiligten gleiche Ausgangssituationen für nachfolgende kommunikative Akte zu schaffen. Das zeigt sich in den weitverbreiteten sogenannten »Arbeitsessen« mit Geschäftspartnern, die heute in jedem Unternehmen die formulierte Eingangssituation einer Verhandlung bilden; obwohl sich heutige Geschäftsleute durchaus nicht mehr als hungernde Fremde verstehen lassen, die zunächst gestärkt werden müssen, um wieder handlungsfähig zu werden, wird ihnen zum Teil vielfach innerhalb eines Tages der Zwang auferlegt, sich dem Partizipationsritual »Essen« zu unterwerfen, um so für die weitergehende Kommunikation präpariert zu werden. Kommunikationsfähigkeit in dem vom Gastgeber gewünschten Sinne wird dabei wesentlich erreicht durch die Stillstellung des Tätigkeitsbedürfnisses, das ein in eine homogene Gruppe eingeführter Fremder hat. Das Essen kanalisiert und verbraucht Tätigkeitswünsche, wobei die physiologischen Folgeerscheinungen von Essen als »Ermüdetsein« und die psychologischen als »Befriedigtsein« ausgenutzt werden. Denn es gilt: »plenum venter non studet libenter«: Befriedigung eines Bedürfnisses ist Stillstellung von Tätigkeitsdrang. Der Gastgeber selber bleibt von dieser Stillstellung ausgenommen allein durch die von ihm erwartete Aktivität, die Speisen anzubieten und den Verlauf des Rituals zu überwachen; weshalb der Gastgeber eines Arbeitsessens von vornherein dem zur Teilnahme gezwungenen Geschäftspartner überlegen bleibt. Die Rolle des Gastgebers als Garant der Einhaltung des Rituals wird noch heute in sogenannten »guten Lokalen« als eine unverzichtbare Dienstleistung des Restaurateurs angesehen. Die Gäste legen größten Wert darauf, daß in diesen besonderen sozialen Räumen ritueller Kommunikation der Geschäftsinhaber oder ein als Weisungsbefugter durch Kleidung und Habitus gekennzeichneter Geschäftsführer anwesend sind. Selbst außerordentlich unsensible und ritualfeindliche Menschen fühlen sich in einem solchen Lokal gekränkt, wenn ihnen von den Bediensteten das Essen einfach auf den Tisch geknallt oder gleichgültig vorgeschoben wird - unabhängig von der Qualität des Essens und den Erwartungen, die sie an das Essen haben.
In diesem Zusammenhang ist die stark wachsende Verbreitung von Selbstbedienungsrestaurants zu erwähnen. In ihnen kommt es nicht mehr zu einem direkten oder indirekten Kontakt zu einer Person in der Rolle des Gastgebers. An seine Stelle treten Funktionszwänge, etwa das Einordnen in einen Bedienungsablauf, in welchem jeweils nur eine Person an einem Punkt des Handlungsgeschehens aktiv werden kann.
Es dürfte sich bei näherer Untersuchung herausstellen, daß dennoch Selbstbedienungsläden nur aufgesucht werden von Essern, deren Partizipationsfähigkeit an sozialer Interaktion nicht ausgebildet oder verlorengegangen ist. Sie wollen sich dem Druck ritueller Interaktion entziehen, ohne zu merken, daß sie damit auf die wesentlichste Form der sozialen Interaktion durch Essen ganz verzichten. Die Reduzierung ritueller Kommunikation in ihren unerhört reichhaltigen Voraussetzungen für Folgehandlungen wird im Selbstbedienungsrestaurant abgelöst durch bloße Funktionserfüllung, bei der sich aus der Tätigkeit des Essens selber keine Folge für den Aufbau oder die Verdichtung der sozialen Beziehung zwischen den gemeinsam Essenden mehr ergibt.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß sich Selbstbedienung zunächst durch Essen am Arbeitsplatz herausgebildet hat. Das Prinzip entstand in den Funktionsbereichen Kaserne und Fabrik. Der soziale Ort bloßen funktionsgerechten Anschlusses an den unumgänglichen Stoffwechselkreislauf in den Formen Energieverbrauch und Energieaufnahme ist die Kantine.
Kantinen für OffIziere und das Führungspersonal von Produktionsstätten haben sich immer in der ursprünglichen Form des Restaurants erhalten.
Eine weitreichende Begründung dafür ist, daß sich die Fähigkeit zu rituellem Handeln innerhalb der sozialen Klassen einer Gesellschaft unterschiedlich ausgebildet hat, und zwar gilt: je höher der soziale Rang, desto größer die Fähigkeit zur Ritualisierung. Da Ritualisierung eine Form kultureller Domestizierung naturwüchsiger Lebensäußerungen ist, ist auch damit gesagt, daß sich die Oberschicht einer Gesellschaft jeweils als erste Rituale und neue Rituale erschlossen hat und erschließt, und daß diese Rituale dann von den jeweils geringer- oder unterprivilegierten Gruppen Übernommen werden. Als Beispiel dafÜr sei das Abspreizen des kleinen Fingers von der Führungshand des Essers zitiert, das heute noch in der Unterschicht weit verbreitet ist als ein Zeichen bewußter Unterwerfung unter die aristokratisch ausgebildete Ritualsform. Zu Zeiten, als der Adel noch mit den Händen die Nahrung an den Mund führte, wurde der kleine Finger abgespreizt, weil man mit ihm den durch kräftige Gewürzeinwirkung verstärkt fließenden Rotz von der Nase wischte und um den so gebrauchten Finger nicht mit der Nahrung in Berührung bringen zu müssen. Rotz und Speisen voneinander zu trennen, war ein Bedürfnis bei aristokratisch verfeinerten Wahrnehmungsformen. Bei Übernahme der Abspreizungshaltung des kleinen Fingers durch die Unterschicht verselbständigte sich die Funktion zu einer rituellen Leerformel; wie ja überhaupt die Unterschichten glauben, daß Rituale gerade als inhaltslose Leerformeln zu bewerten sind, weshalb sich bei verstärktem Emanzipationsbewußtsein so schnell und folgenlos Rituale abschaffen ließen, zumindest im privaten und familiären Bereich kollektiver sozialer Interaktion.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit, und das heißt: der Kontrollmöglichkeit durch andere, wie sie in einem Restaurant gegeben ist, befolgen gerade Angehörige der Unterschichten immer noch Handlungsnormen, die sie im Ritual begründet glauben. Das gilt vor allem beim Gebrauch der Aneignungsinstrumente Messer, Gabel, Löffel in ihrer funktionellen und rituellen Gestaltdifferenzierung als Fischbesteck, Fleischbesteck, Obstbesteck oder in der hochgradig rituellen Gestaltdifferenzierung von Gläsern, aus denen man Weißwein oder Rotwein, Wasser oder Likör, Kaffee oder Tee, Champagner oder Cognac trinkt. Die Instrumentalisierung der Aneignungsvorgänge beim Essen hat etwa in folgender historischer Verlaufsform stattgefunden: Messer aus Stein und Metall - funktionsdifferenzierte Gefäße aus Blattwerk, Holz, Metall und Glas für Trinken, Essen und Aufbewahrung - Löffel aus Holz und Metall - schließlich die Gabel. Die Instrumentalisierung der Zubereitung von Speisen ist stets viel reichhaltiger gewesen, was darauf schließen läßt, daß für den Aneignungsvorgang die Gestaltqualität der Speisen von größter Bedeutung gewesen ist. Die Präparation der Speisen hatte zwei Bestimmungen: erstens mußte die Nahrung durch die Art der Präparation genußfähig gemacht werden; zweitens mußte die Nahrung durch die Präparation und Präsentation, durch Aufbereitung und Dekoration jene Gestaltqualitäten annehmen, die den Genuß des Angeeigneten ermöglichen. Selbst da, wo Speisen außerhalb des Körpers bereits durch Kochen, Schälen, Zerstückeln, Zerkleinern, Klopfen, Kneten, Durchbohren transformiert werden mußten, um genießbar zu sein, hatten sie nach solchen Transformationsprozessen wiederum Gestaltqualität anzunehmen, bevor sie angeeignet wurden.
Über die anthropologischen und kulturellen Bedingungen hinaus äußerte sich in dieser Gestaltqualität die soziale Erzeugungsbedingung der Nahrung, die etwa für den religiösen oder festiven oder Alltagsgebrauch, für den Gebrauch auf Reisen und am Arbeitsplatz eine nicht zu unterschätzende Funktion hatte. In ihr ließ sich nämlich durch den Aneigner abschätzen, welche Bedeutung seiner Aneignung in kollektiver Rezeption zukam, weIche Wertschätzung man ihm entgegenbrachte und in welchem sozialen Handlungszusammenhang seine Aneignung von den anderen gesehen wurde.
Bei bloßer Berücksichtigung der Erzeugungsbedingung von Nahrung durch Natur läßt sich diese Funktion der Gestaltdifferenzierung kaum leisten. Wie wichtig diese Gestaltdifferenzierung ist, erfahren wir, seit es die Möglichkeit der Synthetisierung von Nahrungsmitteln gibt, deren extremste Erscheinungsform die astronautische Pillenmahlzeit darstellt. Mit höchster Verwunderung und äußerst gemischten Gefühlen hat man allseits zur Kenntnis genommen, daß in winzigen Häufchen gestaltloser Substanzen Filet Bourgignon oder Pekinger Mastente stecken sollten.
Durch die Medizin indes ist die Gewöhnung an Gestaltlosigkeit der vereinnahmten Substanzen bereits weit fortgeschritten: Die unterschiedlichen Substanzen werden einheitlich als Aneignungsgestalt »Pille« bezeichnet. Wahrscheinlich wird es selbst über diese vorliegende Gewöhnung nicht möglich sein, gestaltentdifferenzierte Nahrung zu verabreichen; es sei denn, es würden zuvor jene sozialen Interaktionsformen restlos zerschlagen, die bisher als »Essen« verstanden wurden.
Von einer anderen Seite her ist der Eingriff in die rituelle Partizipation an sozialen Akten des Essens einer Veränderung ausgesetzt: nämlich durch »Nichtessen«. Bei der zivilisatorisch/technisch bedingten Ernährung der Westmenschen bleibt als natürliche Konsequenz zur Vermeidung von Schäden das Zunehmen von Nichtessern erwartbar. »Schlankheitshungern« aber kann bisher noch nicht in sozialem Interaktionszusammenhang betrieben werden, wenigstens nicht außerhalb von dafür speziell vorgesehenen Handlungsräumen wie Kliniken, wo sich heute schon Gruppen von Menschen um einen Tisch versammeln, um gemeinsam nichts zu essen.
Wahrscheinlicher, als daß sich diese Form allgemein durchsetzen würde, ist die Entwicklung von Placebo-Speisen, das heißt die Entwicklung von Nahrungsmitteln, die keine mehr sind, sondern nur noch die Gestaltqualität und Genußsubstantialität von Nahrungsmitteln haben. Ja, von der Entwicklung dieser Placebo-Speisen dürfte - sollte sich der Überfluß der entwickelten Industriegesellschaften weiter steigern, ohne daß solche Überflüsse der globalen Verteilung zugeführt würden - eine weitgehende, bisher nur in kleinen sozialen Gruppen gekannte Extremisierung der Weltaneignungsform »Essen« ausgehen. Wo natürliche und soziale Bedürfnissteuerung im Hinblick auf das Essen weitgehend ausgeschaltet werden, wird sich das Essen zur dominierenden Tätigkeitsform der Menschen entwickeln, wodurch sich allerdings ein derart starker Abbau des Tätigkeitsverlangens ergeben wird, daß diese Menschen den unaufhebbaren Zusammenhang von Aneignung und Produktion verlassen. Das dürfte - wie in allen bisher bekannten historischen Beispielen - schon sehr schnell zur Verknappung von Gütern für das soziale Leben führen.
Die durch permanentes Essen erzeugte Handlungsunfähigkeit führt dann zur Auflösung des sozialen Verbandes. Zwar dürfte es nach wie vor angenehmer sein, an den Konsequenzen von extremer Eßsucht als an extremem Nichtessen zugrunde zu gehen. Aber tot ist tot - nur die Sargmacher kennen den Unterschied.

siehe auch: