Magazin Die beste Zeit

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Die beste Zeit. 02/2021
Die beste Zeit. 02/2021

Erschienen
01.04.2021

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Issue
02/2021 April-Juni

ISBN
ISSN 18695205

Umfang
80 S.

Seite 16-21 im Original

Heilmatland

Ein Beitrag zur Kunstreligion mit Joseph Beuys in Wuppertal von Bazon Brock

Barmen und Elberfeld waren einmal Heiligland. Mit starker Emphase, wie in mittelalterlichen Zeiten üblich, feierte man sonntagsselig noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die Städte im Tal der Wupper als zu denkendes, vorzustellendes Jerusalem. Vor allem die vielen freikirchlichen Sekten übertrugen die angestammten Abläufe von Prozessionen und Ritualen auf die Begehung des städtischen Lebensraums, als ob man eine Erinnerung an die Topografie des geografisch gegebenen Jerusalem ausleben wollte.

Das von der heiligen Helena, der Mutter des ersten christlichen römischen Kaisers, initiierte Gebäude der Grabeskirche Christi wurde allenthalben im Modell kopiert; „Zionsberge“ luden sogar auf dem „platten Land“ zu simulierten „Reisen nach Jerusalem“ ein.

Das bekannteste Beispiel hochliterarischer Repräsentation des heilsgeschichtlichen Geländes bietet zu Ende des 19. Jahrhunderts Theodor Fontane, der allerdings als volkstümliche Legende ausgibt, was tatsächlich Apostelgeschichte ist: Jesus trifft vor dem Schafstor Jerusalems auf einen Krüppel, der ihm erzählt, dass er wie viele andere auf die Gelegenheit warte, bei dem leider nicht vorhersehbaren Brodeln des Sees vor ihren Augen als Erster ins Wasser zu gelangen und so geheilt zu werden. Wenn Fontane das Brodeln und Kochen des Stechlin-Sees als Zeichen weltweiter Katastrophendrohung wiedergibt, entgeht ihm der Kern der Erzählung, dass das Schäumen des Sees auf Heilstaufe im Zusammenbruch der profanen Welt hinweist.

Wie erklärt man sich derartiges Erleben? Gilt für gläubige Christen bei der Begehung des Vorstellungsraums Jerusalem in der realen Stadt das Gleiche, was für „Theatergläubige“ angenommen wird, nämlich unmittelbar in der eigenen Sinnlichkeit zu realisieren, was auf der Bühne ausdrücklich als bloße Simulation vorgeführt wird? Das reicht wohl nicht. Stanislawskis Postulat verpflichtet den Schauspieler, jene Gefühle in sich zu erzeugen, die er beim Zuschauer ansprechen soll. Zwischen Schauspieler und Zuschauer entsteht ein paralleler Swing wie beim Paarlauf auf dem Eis. In der Imitatio Christi übte man sich in den Parallelswing mit Jesus ein, der in der Vorstellung als innerpsychische Realität wirksam wurde.

Schon vor Stanislawski versuchte etwa Madame Blavatsky, hinduistische Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Körper und Seele, der Psychosomatik, auf europäische Übungstraditionen, auf die Askese zu übertragen, der zufolge es der Geist sei, der sich die Körper forme. (Der makabre Benn bezichtigt in diesem Zusammenhang Friedrich Schiller, Selbstmörder gewesen zu sein, weil sein Geist schon nach 46 Jahren dem Körper die Lizenz zum Leben entzogen habe.)

Mit Verweis auf Rudolf Steiner, der Blavatskys hinduistische Theosophie/Verehrung der Götter in europäische Anthroposophie/Würdigung des Menschseins überführt hatte, gründete man die Waldorfschulen, um die Übertragungsenergien im Leib-Seele- wie im Mensch-Welt-Verbund durch Training zu entfalten.

Als Medien der Übertragung aktivierte man Vorstellungen, die ganz unzeitgemäß zu sein schienen, aber von vielen Künstlern, etwa im Umfeld Kandinskys und dessen kosmischer Malerei, als ganz modern propagiert wurden. „Mal’ak, so benannten die alten Israeliten bestimmte Geschöpfe, die nicht besonders klar konturiert waren. Engel konnten alles mögliche sein: Naturkräfte, überirdische Wesen, auch Menschen, vor allem aber und immer wieder Spracheindrücke, intensiv bis zu Visualisierung, ja bis zur Körperlichkeit – Stimmen, die aufrichteten oder schlugen, töteten, entrückten, retteten, kräftigten. Unbestritten war ein Mal’ak eine Kreatur, niemals Gegenstand von Anbetung. Als ein vielseitiger Übermittler war er nicht rein passiv wie ein schwingender Luftraum, kein Medium, aber doch auch kein schaffender Autor. Wie eine poetische Metapher stand er für etwas anderes, aber dieses andere war nicht zu trennen von ihm selbst, indem er geschah.“ (Christian Lehnert, 2020, 43)

Sollte man nicht annehmen, dass die Kraft der Mal’aks längst durch die Warenpropaganda des Kapitalismus mit größter Subtilität überboten worden sei, wie die Werbung sie etwa Waschmitteln nachsagte, die nicht nur „sauber“, sondern„rein“ wuschen? Seit 1960 dürfte auch in Elberfeld und Barmen, wie überall im Königreich der Kunden, die Stadt als Kaufhaus alle religiöse Vorstellungskraft der Zeitgenossen besetzt haben. Da boten Jerusalem und Rom nur noch wenig Faszination. Brodelnde Wasser wie vor dem Schafstor und am Stechlin wurden Kurziele der Krankenversicherten, in Abano Terme und überall, wo es seit römischen Zeiten nach Schwefel oder Salzlake roch. Danach war man wieder fit für vierzig Monate am Fließband in der Automobilindustrie und im Kaufrausch resistent gegen Zusammenbruchsahnungen aus der Zukunft.

Durch die Arbeit von Künstlern wie Beuys wird aber mehr und mehr erkennbar, dass zwischen alttestamentarischen Mal’ak und zeitgemäßen Malakten, zwischen Spiritualismus der Gläubigen und Spiritismus der Kaufenden in den Wirkungserwartungen kaum ein Unterschied besteht. Der Käufer glaubt auf die gleiche Weise an das Wirksamwerden der erworbenen Güter wie der Gläubige an die Geister der Vermittlung zwischen Welt und Gott, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Essen und Gegessenhaben, zwischen Wesen und Wirkung.

Wie immer man jemals das christliche Heilsversprechen ausgelegt hat – heute gilt unmissverständlich, dass im Unterschied zu allen anderen Religionen der Weltgeschichte nur die christliche Theologie die vernünftige Rede und nicht nur märchenhafte Erzählung von Gott ermöglicht. Denn nur weil Gott Mensch werden musste und wurde, können Menschen über Gott wie über alle anderen Gegebenheiten in der Welt sprechen. Gott bleibt nicht das Jenseits des Menschen. Alle Vorstellungen der Erhebung zu Gott, der Apotheose, sind sagenhaft beliebig; auch die opportunistische Aneignung von Menschengestalt durch Götter ist harmloses Mimikry, wie man es im sozialstrategischen Rollenspiel des Alltags häufig glaubt, erkennen zu müssen. Gott ist entweder Mensch oder bloße Fiktion. Und unter Menschen stiftet der Geist Heil, wenn er deren Beziehungen untereinander belastbar, gar verbindlich werden lässt. Und das nicht nur in der Beziehung von Eltern zu Kindern, von Arbeitgebern zu Arbeitnehmern, von Reichen zu Armen; sondern generell ist ein Mensch nur Mensch in der verbindlichen Beziehung zu Anderen. Der historische Name für solche dauerhaft gestifteten Beziehungen ist „Heiliger Geist“. In ihm gründet erst recht Einsteins Feststellung „Alles ist relativ“, alles Gegebene wird nur aus seinen Relationen/Beziehungen zu anderem bestimmbar, also aus dem Heiligen Geist.


Jeder Mensch ist Mensch

Der Elberfelder Rolf Jährling hatte ab 1961 in der Moltkestr. 67, ganz im Sinne der früheren Jerusalem-Imagination und der Mal’ak-Aktivitäten, mit der „Galerie Parnass“ ein Übungsgelände für künstlerische Erprobung des Menschseins zur Verfügung gestellt. Seinem Beruf als Architekt gemäß, ging es ihm um Vorstellungen und Einbildungen als Lebensräumen unter besonderer Berücksichtigung von Zeitverläufen: Arbeitszeit, Schlafenszeit, Erholungszeit, Lernzeit, Erzählzeit, Erlebniszeit. Eine Einheit dieser Zeitdifferenzierungen stiften die kalendarischen Zyklen, andere die epochalen geschichtlichen Ereignisse oder die religiösen Orientierungen.

Die zeitgenössischen Adressaten dieser Anleitungen zum Leben in Bildern, Texten, Erinnerungen und Vorstellungen waren unterschiedlich motiviert. Eine für viele gleiche Motivation stiftete die um 1960 weit reichende Faszination durch den Roman „Ulysses“ von James Joyce, der eine 24-Stunden-Periode der Lebenszeit des Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom erzählt. Seit Ende der 1950er Jahre feierten wir, wie in Dublin vorgemacht, den 16. Juni als Bloom’s Day (zum Beispiel in der Galerie Dorothea Loehr), so wie die Franzosen ihren 14. Juli als Sturm auf die Bastille und die Amerikaner den 4. Juli als Independence Day begehen.

Leben in historischen Vorstellungen wie in einem Roman, zum Beispiel im „Ulysses“, bedeutet dann auch, das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit im Leben der Leser erfahrbar zu machen. Lesezeit als Lebenszeit, oder: Erleben, wie man liest. Leben, wie man die Zeitung liest, sagt Bloom. Und die erscheint jeden Tag aufs Neue als eine andere. Deshalb schlug ich Jährling und meinen gleichermaßen von Joyce begeisterten Kollegen vor, in der Galerie Parnass eine 24-Stunden-GAP-Aktion als gradus ad parnassum zu planen. GAP, also Aufstieg zum Gipfel der Anerkennung, hieß ein Förderprogramm für Studierende der Deutschen Studienstiftung; bei Jährling konnten nun einmal die Enthusiasten der Lehre Joseph Beuys, Bazon Brock, Nam June Paik und die Lehrmeister Wolf Vostell und Tomas Schmit, Charlotte Moorman und Eckart Rahn ihre Parnass-Tauglichkeit demonstrieren.

Wegen der Popularität der von Vostell propagierten Aktionsform „Happening“ wurde aus meinem Vorschlag das „Wuppertaler 24-Stunden-Happening 1965“, obwohl der Begriff Happening längst durch „action teaching“, „performance“, „Fluxus-Manifestation“, „Präsentation“, „Agitpop“ zur Unfassbarkeit abgeschwächt worden war. Am 5. Juni 1965 begannen die Protagonisten kurz nach Mitternacht, jene Vorstellungs- und Einbildungsräume darzustellen, in denen sie sich 24 Stunden lang bewegen wollten. Für Vostell war es ein Tag im KZ, für Paik und Moorman ein Tag im Musikparadies, für Brock ein Tag mit dem Großvater auf dem Lande, für Schmit ein Tag im Labor, für Rahn ein Tag auf der Seidenstraße. 

Für Beuys war der 5. Juni ein Tag in ganz nahen, aber unbekannten Räumen wie zum Beispiel dem Raum unter der leeren Kiste oder in der Kniekehle. Diese Räume ließ er mit der Fühllichtkamera sichtbar werden. Er orientierte sich durch Wärme-/Kältedifferenzen, Nah-/Fernempfindungen, Weich-/Hartüberlagerungen, durch das Echolot der Gefühle und seine Bekenntnisfrömmigkeit. Wieder erprobte er seine Definitionskraft, Leerformen, Zwei-Seiten-Formen, Zwischenräume, also generell offene Formen auszuweisen. Seine in dieser Hinsicht bekanntesten Markierungen sind in Fettkörpern repräsentierte Ecken oder mit Unschlitt ausgefüllte Hohlräume als Negativformen oder Formen des Negativen.

Wenn man Beuys zusah, wurde selbst der klarste Blick auf die von ihm ausgeführten Handlungen unscharf. Alles fragwürdig? Welche Form hat die Leere oder die Null? Ist die Null eine Zahl, gibt es das Nichts auf gleiche Weise wie das Etwas? Bewegt sich etwas im Raum oder wird der Raum erst definierbar durch die Bewegung in ihm? Ist die Differenz auf gleiche Weise gegeben wie die differenten Teile?

Man bewegt sich, oder sieht Andere sich bewegen, in unbestimmter Landschaft (Landschaft ist von Vorstellungen überformte Natur). Erst die Körper im Raum lassen den Raum als körperliches Gebilde erfassbar werden. Wenn die sich bewegenden Körper aus dem Raum verschwinden, verschwindet der Raum, der für den Betrachter erst durch die Erinnerung an das Gesehene rekonstruierbar wird. Noch zu Zeiten der Aufklärung nannte man diese Sicht auf Körper, die aus dem Raum, den sie definiert hatten, verschwinden, das Geistersehen. Diesem Geistersehen widmete Kant seine frühen Vorlesungen, um es dann in seinen Begriffsschöpfungen der Vorstellungs- und Einbildungskraft praktikabler zu formulieren.

Beuys ist ganz sicher der begabteste und erfahrenste Geisterseher der Nachkriegskunstpraxis, der die alttestamentarischen oder die schamanischen oder keltischen oder auch pflanzlich-tierischen Praktiken des Geistersehens produktiv zu nutzen verstand.

Schamanische Kraft definieren wir als Fähigkeit eines Menschen, ohne fremde Hilfe etwa aus dem Verlust der eingeübten Welterfahrung (selbstinduziertes „Irresein“) selbständig wieder herauszufinden. Ein Schamane beruft sich selbst zu dieser Prüfung und legitimiert und autorisiert sich dadurch, dass er sie durchsteht und damit besteht.
Keltische Spiritualität beruht auf der Fähigkeit, nicht-menschliche Akteure als raumbildende Kräfte zu identifizieren und sie in menschlicher Einbildung zu repräsentieren.
Die pflanzlich-tierischen Geistwesen erkennen wir im Metabolismus, durch den wir Pflanzen und Tiere in Lebensenergie für uns verwandeln (siehe die Theologie des christlichen Abendmahls).

Wir wollen versuchen, anhand des Beuys'schen Kunstbegriffs den historischen Prozess anzusprechen, in dem ausgerechnet Mitglieder der altjüdischen oder der keltischen Kultur zu Missionaren des Christentums werden konnten. Das gesamte Beuyswerk stützt sich auf diese Transformation; aber Beuys zeichnet sich dadurch aus, dass er den historischen Prozess gegenläufig rekonstruiert. Er lässt von der christlichen Ikonographie aus die keltische Spiritualität wie die des Mal’ak in befremdender, erstaunlicher Weise erkennbar werden. Man sollte sich erinnern, dass Thomas Mann die gesamte Moderne, zu der Beuys zweifellos gehört, als „intentionale Re-Barbarisierung“ kennzeichnet. Das entspricht dem griechischen Verständnis von Barbarei als Begegnung mit dem Fremden und dem Jenenser Verständnis von Romantisieren. Letzteres hat Novalis 1800 als Intention formuliert, „dem Nächsten und Bekanntesten die Anmutung des Fernsten und Fremdesten, also einen geheimnisvollen Sinn“ zu geben.

Beuys schließt unmittelbar an die Jenenser Romantik an. Er versteht mit Novalis und Co. den Beginn der deutschen Ikonographie mit der Donauschule und Dürer. Daher erklärt er Dürers Hasen bei Schmela in Düsseldorf ebenfalls 1965 die deutsche Kunst als Geschichte der Ikonographie des Deutschseins. Von Rembrandt übernimmt er den Goldhelm als nächsten Verweis auf die Entwicklung der deutschen Ikonographie, indem er sein Gesicht mit Blattgold belegt. Besonders wichtig ist für ihn der dritte Schritt mit der Mystik Jakob Böhmes und den Gold-/Porzellanmachern des Dresdener Hofes um 1700. Vierter Schritt: Novalis' Romantik und Schellings Theosophie. Dann Goethes Topos der „Beseelung“, erarbeitet in seinen naturkundlichen Schriften, die schließlich Rudolf Steiner als erster ediert hatte. So kommt Beuys zum Bildungsgestus der Anthroposophen, in welchem die schwarze Schultafel als zeitgemäße Repräsentation der mosaischen Gesetzestafel erscheint. Gesetz ist für die Modernen das, was man in stringenter Logik als Zusammenhang erschlossen hat.

Die Tafeln repräsentieren das, was trotz aller Fertigkeit nicht gezeigt, sondern nur gedacht werden kann. Glaubte man etwa, mit „Atom“ oder „Individuum“ auf das zeigen zu können, was als das Kleinste eben nicht mehr teilbar sei, so erzwang das Denkbare jenseits des bloß Zeigbaren die Teilbarkeit des Unteilbaren. Damit führt der Begriff weit über das Erwiesene hinaus, sodass selbst die extremsten Materialisten in der Gruppe der Kleinteilchenforscher inzwischen anerkennen müssen, dass die Welt nur im Begriff des Geistes fassbar ist. Denn Geist ist im Begriff gegeben. Alles Material, alle Form, alle Naturgesetze sind Verweise auf den Geist als Begriff. Welch’ schöne Pointe, dass die Kleinteilchenphysiker zu Joyce aufschließen, wenn sie etwa den Begriff der Quarks, Teilchen des geteilten unteilbaren Atomkerns, von den Poeten übernehmen.

Beuys hat das „begriffen“. Er eröffnet ständig durch Mal’ak-Erfahrung, durch Geistersehen selbst in den kleinsten Formgebungen Perspektiven auf das, was nicht sichtbar ist, aber umso zwingender gedacht werden muss. Das Durchhalten des Denkens führt zu Verbindlichkeit als etwas, das dauert. Was dauert, ist heilsam. Geist als das, was die Dauer stiftet, ist das Heil und den Ort des Denkens nennt man Heimat.

Fortsetzung folgt am 2. Juni 2021 im Schauspielhaus Wuppertal: Action Teaching zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys von mittags bis Mitternacht mit Bazon Brock, Wolfgang Ullrich, Robert Fleck, Hans Ulrich Reck und anderen.

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