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Das Kreuz mit der Kunst
Künstlers Gestalttragung
Die beiden Blumes sind Repräsentanten der Gattung des poeta doctus, das heißt des durch Denken Gestaltenden. Häufig wird die Fähigkeit zu denken mit Gelehrsamkeit durch akademische Ausbildung assoziiert. Man sollte aber besser vom gebildeten Künstler als jemandem sprechen, der sich verpflichtet fühlt, sein Handeln zu begründen (wie ein Wissenschaftler). Begründungspflichtig waren die Blumes primär aus ihrer Berufsrolle als Kunstpädagogen heraus, die sich bereit zu finden haben, ihre spezifischen Vorgehensweisen mit den geltenden Lehrplänen zu vereinbaren.
Für alle ihre Tätigkeiten wurde eine spezifisch deutsche Themenstellung bedeutsam, die mit dem Begriff Gestalt, der in keiner anderen Sprache vorgegeben ist, umrissen wird. Dieser Begriff umfasst eine derartig grundlegende Vorgabe der Weltorientierung, dass ihm eine ganze psychologische Disziplin, eben die Gestaltpsychologie zu entsprechen versuchte, deren Hauptvertreter die Professoren Koffka, Köhler und Wertheimer just während des Ersten Weltkriegs wurden (Kriege bewirken ja die gewaltsame Aufhebung jeglicher Gestalt in indifferente Bruchstücke).
Der Begriff Gestalt steht für die unmittelbare Einheit von Materialität und Spiritualität, von sichtbar und unsichtbar, von gegenständlich und abstrakt, von physisch und metaphysisch. Am besten macht man sich das mit Blick auf das Bemühen deutlich, mit dem das Kleinstkind lernt, vom sichtbaren Teil eines Gefäßes auf den unsichtbaren, rückwärtigen Teil zu schließen, indem es sich ihn als materiell-physisch gegeben vorstellt und die Vorstellung als eine Tatsache akzeptiert. Die in der deutschen Sprache grundlegende Gleichsetzung von Handeln und Bewirken umfasst also immer die Absicht, mit dem physikalischen Gestalten eine Wirkung auf den Geist zu verbinden. Für deutsche Künstler wurde das Gestalten zum Kreuzweg, auf dem sie die Verpflichtung zur Gestaltung trugen wie Jesus das Kreuz als Verpflichtung auf die Auferstehung.
Die Blumes haben ihr Spätwerk als einen solchen Kreuzweg ironisch-souverän ausgewiesen (heute am besten repräsentiert durch die späten Arbeiten in digitalen Großfotoserien). Soweit ich weiß, sind vor den Blumes keine bildlichen Analogien etwa zum „Verheddern in Argumenten“ oder zum „Selbstwiderspruch“ oder zu „Kategorienbrüchen“ gebildet worden. Was diese Leistung auszeichnet, erkennt man, wenn man weiß, dass es bis dato keinen bildsprachlichen Ausdruck für Negation oder für Behauptungen im Konjunktiv oder Plusquamperfekt gibt.
Die Blumes demonstrieren mit der Serie „Abstrakte Kunst“ (Haus Konstruktiv, Zürich, 2002-2011), wie mit diesen Mankos der Bildsprachen umgegangen werden muss: eben durch ihren Gebrauch. Der Akteur interveniert in die Gestalt als Einheit von materieller Form und nur gedanklich ausweisbarem Sinn. Sinn ist also die unsichtbare Seite der Form als Gehalt der Gestalt (das entspricht dem Blume’schen Begriff der Ideoplastie = Gedankengestalt).
Die schnellste und nachdrücklichste Orientierung auf das zentrale Thema dieser Arbeitsserie gewinnt man, indem man sie auf die extrem bedeutsame Serie „Im Wald“ (1988/90) bezieht. Dort sieht man die Blumes in gestischer Annäherung an Baumstrukturen. Analog dazu arbeiten sie in Zürich an geometrischen Abstraktionen der Naturkörper, denen sie sich wie der Förster dem Holz, Hänsel und Gretel dem verwirrenden Dickicht, Rotkäppchen der Angst vor dem Wolf oder Siegfried dem Drachen gewachsen zeigen wollen. Sprachlich übersetzt orientieren sie sich in Bildgefügen von Vertikalität, Horizontalität und Diagonalität, geöffneten oder geschlossenen Horizonten des Aktionsfeldes oder den Aufhellungen bzw. Abschattungen von Vorder-, Mittel- und Hintergründen ganz wie in der Wahrnehmung des Waldes. Der reale Wald wird für die Blumes zu einem Formenwald, in dem sie sich zu behaupten versuchen wie die Museumsbesucher vor den Arbeiten der Konstruktivisten und Minimalisten, vor denen Piet Mondrians und Max Bills. Das ist ein für alle Zeitgenossen aufschlussreiches Bemühen, wenn man etwa die Analogien zwischen Entwaldung durch Übernutzung oder Zerstörung durch Waldschäden parallelsetzt zur Entformung oder Zerstörung durch Ikonoklasmus oder Verdrängung. Was entspricht den Räuberromanen à la Renaldo Renaldini und „Wirtshaus im Spessart“ bzw. den kolonialistischen Holzfällern und Pelzjägern in der Welt der Geometrie und der sogenannten abstrakten Kunst? Ist es die unmittelbare Analogie zwischen dem Beuteschema der Raubtiere und dem der Galeristen und Sammler? Oder die Analogie zwischen Urwald und Wald der Urformen Kreis, Quadrat, Dreieck, Linie, Punkt und Fläche? Welche Geschichten erzählen sich die Kämpfer und Liebenden, die Wissenden und Zweifelnden, die Pathetischen und Ironischen in den abstrakten Formgefügen?
Die Blumes legen nahe, dass man sich im finsteren Walde die gleichen Geschichten erzählt wie im wohltemperierten Museum. Da die Waldarbeiten der Blumes zur historischen Gattung der Naturstudien und der Landschaftsmalerei gehören, können sie ihre Annahme auf Höchstleistungen der Kunstgeschichte stützen, wie sie etwa der Berliner Kunsthistoriker Börsch-Supan mit Blick auf Casper David Friedrich vortrug.
Friedrichs „Chasseur im Walde“ (1813) bietet einen Blick auf einen Fichtenwald im Schneewinter. Den Bildvordergrund markieren links und rechts junge Fichten. Fast das gesamte Bild wird durch eine undurchdringliche Dunkelheit hochstämmiger Fichten beherrscht. In der Mittelachse des Bildvordergrunds zwei Baumstümpfe, auf deren einem ein Rabe sitzt. Ebenfalls in der Mittelachse die Rückansicht eines Soldaten eines französischen Jagdbataillons, der klein und verloren auf der Schneefläche vor dem riesigen Fichtenwald positioniert ist.
Auf der symbolischen Ebene ist das Bild als Beschreibung der Situation napoleonischer Soldaten zu lesen, die sich in dem undurchdringlichen Wald verirren und verlieren werden. Der Rabe krächzt ihnen bereits das Totenlied.
Auf der allegorischen Ebene veranschaulicht die Bildkonzeption den Begriff der Angst und Verlorenheit eines Trägers und Realisators zivilisatorischer Naturbeherrschung angesichts einer übermächtigen Natur. Auf der anagogischen Ebene bezeichnet das Gemälde einen patriotischen Appell, den eingedrungenen Feind in die Irre laufen zu lassen, ihn also durch passiven Widerstand seiner Schlagkraft zu berauben. Auf der metaphorischen Ebene veranschaulicht das Bild die Welt der winterlichen Gemütsverfassung des Individuums zwischen Selbstbehauptung und Verlorenheitsangst. Das Gemälde wird zur politischen Allegorie im Hinweis auf den Untergang der napoleonischen Armee in den winterlichen Weiten Russlands und zu einem patriotischen Appell, „im Befreiungskrieg zusammenzustehen – auf dem Schnee der deutschen Zustände vor der Befreiung wachsen die jungen Fichten als eine neue Generation nach den Opfern des Krieges heran“.
Die Übersetzung des kunstgeschichtlichen Beispiels auf den Wald der Formen, in welchen die Akteure, also die beiden Blumes, den Formen Gehalt zu geben versuchen, könnte etwa lauten:
Auf der symbolischen Ebene böte sich für das Formengeschiebe die intellektuell-ironisch überhöhte Erzählung an, dass die ganze „Abstrakte Kunst“ gar nicht in die Geschichte der Malerei gehört, sondern in die vieltausendjährige Geschichte der Ornamentik, oder zynisch: Kein Wunder, dass die „Abstrakten“ mit ihrem Formentanz glaubten, mit gegenstandslosen Bildern strategisch der Zensur entgehen zu können, da sie ja ohnehin keine bestimmten Gehalte vertreten würden.
Auf der allegorischen Ebene erzählen sich die Akteure von der Nichtigkeit alles menschlichen Getues vor den Naturgewalten: vom Aufstand der Formen und von der Tücke der Objekte, die sich jedem Versuch, sie künstlerisch zu bändigen, entziehen – wenn auch die Blumes wie Laurel und Hardy im permanenten Scheitern die Vision des endlichen Gelingens wachhalten.
Auf der anagogischen Ebene lancieren sie den Appell an den nicht an Bild- und Formwerdung gebundenen unverkörperten Geist: die Aktionskünstler übernehmen die vom Zweiten Vatikanischen Konzil 1962-65 aufgegebenen Ritualformen; statt zu Malen und zu Bildnern geht es jetzt um rituelle Gesten und Beschwörung des Unsichtbaren. Die Künstler erproben die Rollen von Spiritisten und Schamanen.
Auf der metaphorischen Ebene ist das Formgeschiebe Kunsttherapie in theatralischer Nachahmung von Gemütszuständen, deren Fraglichkeit allzu offensichtlich ist: Kann man denn nach Schablone, auf Kommando Liebesrausch und Begeisterungspathetik ausdrücken? Kann man hemmungslos nachfiebern, was irgendjemand vorfiebert?
Und wie! Das zeigen nicht nur die politideologischen Veitstänze brauner und roter Volksmassen oder heute jedes Publikum von noch so durchschnittlichen Popkonzerten. Wenn man das auf die erlebnishungrigen Besucher von Museen „Moderner Kunst“ überträgt, erscheinen die angeblich aufklärerischen Bemühungen der Museumspädagogik als Animationsgehampel der Kulturindustrie.
Die Blumes, wie alle Modernisten der zurückliegenden 100 Jahre, waren noch geprägt von den bürgerlichen Abwehrgesten gegen die sich angeblich durch ihr Gebaren Autorität anmaßenden modernen Künstler. Die bürgerliche Empörung war selbst durch die wissenschaftliche Maskierung erkennbar, wie sie etwa Arnold Gehlen mit seinen Programmatiken gegen die „Kommentarbedürftigkeit der Modernen Kunst“ mit großem öffentlichen Echo vortrug. Gehlen krächzte wie der Rabe bei C. D. Friedrich das Untergangslied und verfertigte das Panorama der Niederlage der Moderne durch ihre Selbstüberschätzung analog zur Niederlage der napoleonischen Armeen in den ortlosen Wäldern Germaniens und Russlands.
Insofern wäre für die Zürcher Serie der Blumes, statt ihre Waldserie anzuführen, wie wir es hier gezeigt haben, die Analogie zur Gehlenschen Invektive gegen die „Moderne Kunst“ schlagender und vielleicht auch wirkungsvoller gewesen. Die Zürcher Serie hieße dann „Arnold Gehlens Kampf mit den Objekten der abstrakten, konkreten, konstruktivistischen modernen Kunst“. Die Zürcher Serie wäre dann Wissenschaftskabarett von höchstem Unterhaltungswert.
Da ich den Kampf Gehlens bereits 1990 entsprechend aufgeschlüsselt habe, verweise ich Interessierte auf den Text „Ikonographie der gegenstandslosen Kunst“:
„Ein Quadrat ist keine abstraktere Figuration als die ikonische Darstellung einer Kuh. Die Repräsentation eines Quadrats ist nicht weniger gegenständlich als die Photographie, die Zeichnung oder die Skulptur einer Kuh – wer ein Quadrat herstellt, kann sich dafür ebenso einer gegenständlichen Vorlage bedienen wie der Zeichner einer Kuh. Nur die konventionellen Bedeutungen von »Kuh« und »Quadrat« sind unterschiedlich. Die Probleme (...), mit den Bedeutungen umzugehen, sind die gleichen, ob man nun eine Kuh oder ein schwarzes Quadrat zu zeichnen, zu malen, zu skulpturieren, zu beschreiben versuchte. Auch die Resultate solcher Handlungen sind gleich, nämlich Zeichengefüge irgendwelcher Art. Ihr Gehalt indessen wird unterschiedlich sein, je nachdem wie sie in der ikonologischen Untersuchung der Kultur einer Epoche als Kunstwerke oder wissenschaftliche Illustration oder Handelsgüter oder Einrichtungsgegenstände oder Lehrmittel in Gebrauch waren, respektive gewertet wurden.“
Um im Bilde zu bleiben: Wir glückhaft Nachlebenden ehren den karikierend-überhöhten Leidensweg der Künstler Anna und Bernhard Johannes Blume. Unsere Palmwedel sind bedrucktes Papier, dessen Vervielfältigung darauf hinweist, dass wir es im Kunstkontext stärker als im christlich-theologischen eben nicht nur mit einem Heilsbringer, sondern mit Tausenden zu tun haben. Umgekehrt wäre es leichter: Milliarden Christen als Verkörperung Jesu, aber nur ein wirklich kreativer Schöpfer des Himmels und Erde. Was für eine fromme Vision! Bis auf Weiteres bleibt es bei den Beispielgaben der Künstler.
© Bazon Brock, Cronenberg 2023
siehe auch:
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Zur Ikonographie der gegenstandslosen Kunst – Abschnitt in:
Ikonographia
Buch · Erschienen: 01.01.1990 · Herausgeber: Brock, Bazon | Preiß, Achim