Magazin Der SPIEGEL 45/1999

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Der SPIEGEL, 45/1999

Erschienen
08.11.1999

Verlag
Axel Springer

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
45/1999

Neutralisierung oder Schrecken?

Graffiti entsprechen der Inthronisation von Wahrheit als Autorität. Trifft dies zu, so kann man daraus Rückschlüsse auf die Haltung der jungen Leute ziehen, die genau diese Art von Anonymisierung als Auslöschung betreiben. Jemand, der selbst aus dieser Jugendszene stammt, hat vorgeschlagen, dies Neutralisierung zu nennen. Es war Keith Haring, der mit seinem Verfahren Museumsreife erlangt hat. Mir scheint der Begriff der Neutralisierung allerdings eine Überbetonung einer bestimmten Haltung zu sein, nämlich der Rechtfertigung vor Gericht.

In Amerika sind Sprayer vor Gericht freigesprochen worden, weil sie sich auf das Motiv der Neutralisierung beriefen. Sie sagten aus, sie würden als Individuen von der ubiquitären Logo-Kultur in der Freiheit ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt. Als Bürger, so machten sie geltend, haben sie das Recht, sich gegen diese permanenten Eindrücke zu wehren, indem sie sie neutralisieren. Die auslöschende Anonymisierung ist damit eine Form des zivilen Widerstandes bzw. Ungehorsams. Man hat ihnen darauf übrigens entgegengehalten, daß gegen den zivilen Ungehorsam wenig einzuwenden sei, es handele sich aber um einen unzivilen Ungehorsam. Damit verlagerte sich die Diskussion von der Frage des Ungehorsams und des Widerstandes auf die Unterscheidung von zivilisiert und unzivilisiert (gebildet und barbarisch), womit man wieder bei der justitiablen Form angelangt war.

Die Neutralisation scheint mir aber nicht entscheidend zu sein. Die entscheidende Dimension des anonymisierenden Auslöschens, des mythologisierenden Einsetzens einer anderen Autorität – des Todes oder, wie Horstmann zu diesem Phänomen gesagt hat, der Vermondung der Welt –, ist der Schrecken. Und sicherlich ist der Schrecken für Menschen im Blick auf Zeichengebung dann am größten,wenn sie nicht verstehen, in welchem Sinn diese Zeichen gesetzt sind, wie sie kommunizierbar sind.

Dieser Schrecken – wenn man sich als ausgeschlossen, durch Fremdheit bedroht empfindet – ist viel größer ist als andere mythologische Schrecknisse. Man hat die Schreckensreaktion auf das Nichtverstehenkönnen, das Nichterschließenkönnen in psychiatrischen Analysen sehr gut belegt. Die psychischen Auffälligkeiten von Menschen, die ähnlich argumentieren oder handeln wie die Sprayer, deuten darauf, daß sie im wesentlichen aus einem unbeherrschbaren Erschrecken vor der Unzugänglichkeit sich selbst gegenüber handeln. Die bekannteste Form dieses Erschreckens ist jene über die Unzugänglichkeit des eigenen Leibes und der eigenen Sinnlichkeit. Hier braucht man nicht mehr die fremdgesetzten Zeichen anderer Menschen, es genügt der grassierende Autismus, die Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen.

Was aber geschieht, wenn jemand vor einem Menetekel erschrickt? Was intendiert diese Fluchtbewegung? Man flieht dorthin, wo man erwarten kann, einen minderen Schrecken zu erfahren: aus dem Unbekannten ins Bekannte, aus der furchtbaren Dunkelheit in die Helligkeit, aus der Orientierungslosigkeit in die Areale, in denen man sich orientieren kann.

Genau für diese Bereiche steht der Begriff der Geschichte. Geschichte ist der Ort, an dem, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht, Orientierung und Strukturierung möglich ist.

Geschichte schreiben ist das Vertrautmachen, das Durcharbeiten des Materials, mit dem ich umgehe.
Das ist der bemerkenswerteste Sachverhalt in der Problematisierung heutiger Sprayerpraktiken: Die auslöschenden Anonymisierer in der Fluchtbewegung sind von einem ungeheuren Respekt vor der Geschichtlichkeit der Bauten und der Kulturdenkmäler erfüllt. Es gibt unter ihnen einen regelrechte Wettkämpfe darin, sich der Geschichte zu bemächtigen, analog einer wissenschaftlichen Aneignung.