Ausstellungskatalog Begegnungen.

Ausstellungskatalog der Deutschen Gesellschaft für Photographie.

Lotar Neumann. Begegnungen. Hamburg 1972
Lotar Neumann. Begegnungen. Hamburg 1972

Neumanns Werk wurde 1971 in die permanente Sammlung der 50 besten zeitgenössischen Fotografen der Photographic Society of America aufgenommen. Dieser Band präsentiert farbenprächtige, zeitlos anmutende Aufnahmen aus Indien. - Mit Beiträgen von Ewald Rathke und Bazon Brock. Nachwort von Walter Boje und Wilhelm Keudel.

Erschienen
1971

Herausgeber
Neumann, Lothar

Verlag
Deutsche Gesellschaft für Photographie

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Umfang
42 Seiten

Einband
kartoniert

Fotografische Bilderzeugung. Zwischen Inszenierung und Objektivation

Die Entstehungsgeschichte der Fotografie setzt sich bis auf den heutigen Tag fort, und zwar nicht in dem Sinne, dass immer noch die fotografische Technik und die Realisationsfähigkeit der Fotografen sich wesentlich weiterentwickeln, sondern in dem Sinne, dass bis auf den heutigen Tag diejenigen Auseinandersetzungen fortgeführt werden, die bei Entstehung des Mediums Fotografie geführt worden sind.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts konnte sich die Fotografie nur dadurch als eine wesentliche neue Realisationstechnik behaupten, dass sie sich überlieferten und ausgewiesenen Realisationstechniken aus dem Bereich der bildenden Kunst anglich. Dieser Weg zur Durchsetzung des neuen Mediums blieb für das Medium selber folgenschwer, ja, er erzwang eine Polarisierung des medialen Charakters der Fotografie nach zwei Seiten, die wir einfachheitshalber als einerseits „inszenierende“ und andererseits „objektivierende“ Fotografie unterscheiden wollen.
Inszenierende Fotografie ahmte zunächst die Techniken der Erzeugung von Bildern nach, die in der bildenden Kunst über Jahrhunderte entwickelt worden waren. Das betraf sowohl die Sujets und Gegenstandsebenen als auch die Wahl der Bildsegmente und die Verwendungsweisen von erzeugten Bildern. Die inszenierende Fotografie will in erster Linie – wie auch die bildende Kunst – Bilderzeugung betreiben; sie will Bildwirklichkeit konstituieren; dabei kommt den Hervorbringungsweisen grösste Bedeutung zu. Ihnen verdanken sich die erzeugten Bilder. In der inszenierenden Fotografie wird das Medium selber bilderzeugend eingesetzt. Die Fähigkeit, zur Bilderzeugung das Medium ausnutzen zu können, wurde immer schon als Kreativität des Künstlers angesehen. Es ist notwendig, sich immer wieder die Tatsache zu vergegenwärtigen, dass schöpferische Fähigkeiten gerade darin gesehen werden, die Techniken der medialen Hervorbringung so einzusetzen, dass sie sich verselbständigen können. Die Hervorbringungstechniken werden gleichsam freigesetzt und führen in die Bilderzeugung Resultate ein, die eine noch so raffinierte Kalkulation ausserhalb der medialen Bedingungen kaum hervorzubringen vermag. Diese Verselbständigung des Mediums ermöglicht die inszenierende Hervorbringung von Bildwirklichkeit.
Bis vor kurzem hat man die inszenierende Fotografie als Kunstfotografie bezeichnet. Diese Kennzeichnung ist nicht mehr ausreichend, seit man dazu übergegangen ist, auch Tätigkeiten, die nicht ausschliesslich künstlerische sind, miteinander zu vergleichen und im Hinblick auf ihre Gleichheit zu unterscheiden. Das mag paradox klingen, ist aber ausserordentlich vorteilhaft.
So gelingt es, dem alten Streit, ob Fotografie Kunst sei oder nicht, zu entgehen, wenn sowohl Kunst wie Fotografie auf ein Drittes hin verglichen werden. Zu diesem Zwecke lassen sich Kunst und Fotografie als Möglichkeiten der Bewältigung von individuellen und gesellschaftlichen Wirklichkeitserfahrungen verstehen, wobei eben Kunst und Fotografie jeweils nicht nur als einzige Möglichkeit der Wirklichkeitserfahrung erscheinen können. Deshalb ist es ganz aussichtslos, von ‚der’ Kunst oder ‚der’ Fotografie zu sprechen, sondern von unterschiedlichen Formen bildend-künstlerischer oder fotografischer Realitätsbewältigung. Die beiden wesentlichsten Formen fotografischer Realitätsbewältigung zitieren wir hier, eben die „inszenierende“ und die „objektivierende“ Fotografie.
Für die objektivierende Fotografie wie für die objektivierenden bildend-künstlerischen Verfahren ist in erster Linie das Medium nur ein Transportvehikel für eine ausserhalb des Mediums vorfindliche Wirklichkeit, die durch die Fotografie objektiviert wird; d.h., dass die Wirklichkeit dem Betrachter oder dem Künstler oder dem Fotografen gegenüber als selbständige und eigenständige Wirklichkeit erscheinen kann. Zu diesem Typ der objektivierenden Fotografie gehört z.B. die Reportage, gehört das journalistische Ereignisfoto, das Sachfoto. Nehmen wir den Fall einer Strassendemonstration als gegeben an, so muss eine objektivierende Fotografie darauf hinarbeiten, dieses Ereignis so fotografisch zu reproduzieren, dass sie es Dritten gegenüber, die an der Demonstration selber nicht beteiligt waren, erfahrbar werden lässt, und zwar so, dass die fotografische Ereigniswiedergabe aus den Zufälligkeiten, Willkürlichkeiten und Beiläufigkeiten herausgehoben wird, dass sie objektiviert wird durch die Wiedergabe der tatsächlich bestimmenden Bedingungen dieses Vorgangs.
Inszenierende Fotografie würde bei dem gleichen Material, nämlich dem Ablauf einer Strassendemonstration, auf ganz gegenläufige Resultate Wert legen. Für sie wäre in erster Linie wesentlich: die Erzeugung einer bestimmten Wahrnehmung des Ereignisses, das Hervorrufen einer atmosphärischen Stimmung und ästhetischen Dichte, die Erzeugung einer nicht näher kontrollierbaren Einstellung des Betrachters zu dem Bild usw.
Inszenierende und objektivierende Fotografie lassen sich auch in einer anderen Hinsicht unterscheiden. Die inszenierende Fotografie bevorzugt das Einzelbild; sie lässt ihre bilderzeugenden Techniken jeweils in einem Bild kulminieren, das – wie in der bildenden Kunst – nach Möglichkeit ganz und gar aus sich selber bestimmbar sein soll. Die objektivierende Fotografie ist die Fotografie der Sequenz. Jedes Einzelbild verweist auf ihm vorausgegangene und ihm nachfolgende, wobei die Interessantheit der objektivierenden Fotografie daraus resultiert, dass der Betrachter in seiner Vorstellungskraft die Fortsetzung oder Rückführung der Sequenz selber vornehmen kann. Die inszenierende Fotografie muss, das ist dem bisher Gesagten zufolge verständlich, eine ungleich umfangreichere formale und mediale Technik entwickeln, um das Einzelbild in ähnlicher Weise für den Betrachter affizierend und interessant zu machen, wie es die Ereignissequenz ist. Dennoch wird es in jedem Fall für einen Betrachter wesentlich schwerer sein, die inszenierende Fotografie in demselben Umfang zu rezipieren wie die Resultate der objektivierenden. Immerhin, eine solche Unterscheidung von inszenierender Fotografie und anderen Typen kann selber schon dazu beitragen, dass die Leistungen der inszenierenden Fotografie effektiver und umstandsloser angeeignet werden können. Vielleicht ist das noch einfacher, wenn inszenierende und objektivierende Fotografie von einem dritten weitverbreiteten Typ der fotografischen Wirklichkeitserfahrung unterschieden werden, nämlich von der Reproduktion.
Reproduzierende Fotografie findet wesentlich innerhalb der Wissenschaft Anwendung, zum Beispiel in der Atomphysik. Dort werden real ablaufende Prozesse fotografisch sichtbar gemacht, da sie erst in dieser Gestalt – also transformiert in Fotografie – wissenschaftlich bearbeitbar und für die Erkenntnis aufschliessbar sind. Erst in diesem Sinne lässt sich wirklich von der viel zitierten Widerspiegelung der Realität durch die Fotografie sprechen. Fraglich ist bis dato, ob sich für eine vorgegebene Realität alle unterschiedenen Typen fotografischer Realitätsbewältigung anwenden liessen oder ob nicht bestimmte Wirklichkeitscharaktere nur durch eine einzige mediale Aufschliessung bewältigt werden dürften, d.h. mit anderen Worten, ob etwa der grauenvolle Zustand hungernder und geschundener Menschen auch durch inszenierende Fotografie angegangen werden kann.
So hat einer der vorzüglichen Theoretiker des Mediums Fotografie, Walter BENJAMIN, einigen Fotografen den schwerwiegenden Vorwurf gemacht, sie würden noch das entsetzlichste und unerträglichste Dokument menschlicher Existenz ästhetisch inszenieren und damit das Elend verdoppeln. Heute scheint mir das nicht mehr eine Frage des eingesetzten Typs fotografischer Wirklichkeitsbewältigung zu sein, sondern eine Frage der Unterscheidung von Handlungszielen und Motivationen des Fotografen bzw. eine Unterscheidung der Verwendungszwecke von fotografischer Wirklichkeitsbewältigung. Deshalb betreffen solche Fragen nicht nur die künstlerischen oder fotografischen Vorgehensweisen, sondern in erster Linie die Rolle der sozialen Bedingungen für künstlerische Tätigkeit. Es scheint eindeutig zu sein, dass wirtschaftlich selbständige und in ihren Zukunftserwartungen abgesicherte Fotografen vor allen Dingen inszenierende Fotografie zur Bilderzeugung einsetzen, wohingegen Fotografie als Auftragsleistung in vorgegebenen sozialen Handlungsfeldern wie Kommunikation oder Ausbildung oder industrieller Produktion durch objektivierende Fotografie erbracht werden sollte. Tatsächlich aber landet die Mehrzahl solcher Unternehmungen zur Auftragserledigung bei der schlichten Verfälschung der Realität, auf die sich die Fotografie bezieht.
Fälschende Fotografie aber ist alles, was nicht eindeutig und bewusst fotografische Handlungsweise ist. Wirklichkeitsverfälschende Fotografie ist jeweils das bloße Zufallsresultat eben nicht festgelegter und unterschiedener fotografischer Arbeit, So gelten Unterscheidungsanstrengungen wie diese auch den Fotografen selber in der Absicht, die gedankenlose Verwertung der Realität einzuschränken.


siehe auch: