Buch Arnold Bode. documenta Kassel. Essays.

brockimport 0713-orig.jpg, Bild: brockimport ID_Object 713.
brockimport 0713-orig.jpg, Bild: brockimport ID_Object 713.
Buchbeschreibung: Hrsg. von der Stadtsparkasse Kassel 1986 in der Reihe: Kassel trifft sich - Kassel erinnert sich. Mit zahlreichen Abbildungen. 8 , 134 S., Opbd. Beiträge von Bazon Brock, Harald Szeemann, Manfred Schneckenburger u.a.

Erschienen
1985

Verlag
Stadtsparkasse

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

Umfang
135 Seiten

Seite 57 im Original

Bode wendet Kunst an: documenta urbana

Die documenta entstammt der Nachkriegszeit, in der man mit Recht glaubte, daß die Bevölkerung eine Menge von dem nachzuholen habe, was während der Zeit des 3. Reiches in der Welt geschehen war und was hier aufgrund der Bilderstürmerei der Nationalsozialisten nicht wahrgenommen werden durfte.

Die Entstehungszeit der documenta war außerdem zugleich eine Epoche internationalistischer Auffassungen, in der man die Kunstwerke als universale Sprache nicht mehr an Kulturregionen, nicht mehr an Kulturlandschaften, nicht einmal an Kontinente gebunden sah. Die Annahme, die Kunst in der gesamten freien Welt spreche nur eine einzige Sprache, ging davon aus, daß die Kunst in jenen Jahren, wie es der Volksmund ausdrückte, abstrakt war. Abstrakte Kunst konnte gerade wegen ihrer Abstraktheit fruchtbar mißverstanden werden.

Die Aufnahme dieser internationalistischen abstrakten Sprache durch die Bevölkerung der gesamten westlichen Welt fand auf eine Weise statt, die man von Seiten der hehren Kunst her für bedenklich hielt. Die Bevölkerung der westlichen Welt weigerte sich mehr oder weniger, die abstrakte Kunst in Gestalt von gemalten Bildern in Museen und Galerien zu akzeptieren; statt dessen rezipierte man die abstrakte Kunst als neue Form des Ornaments auf Tapeten, Wandschirmen, Lampenschirmen, Möbelstoffen, Tischdecken und in Gestalt des berüchtigten Calderschen Mobiles, das in kaum einer Wohnung fehlte.
Aber: von heute aus gesehen war das keine für die Kunst unangemessene Rezeption. Die Durchschnittsbevölkerung zeigt mit ihrer Aneignung der .abstrakten Kunstsprache als Ornamentalstil ein fruchtbareres Verständnis als die Kunstfachwelt.

Stilbildner und Stilkiller!

Durch den Gebrauch, den die Bevölkerung von der abstrakten Kunst machte, dokumentierte sie, daß es tatsächlich um einen neuen Stil ging; denn von umfassendem Stil kann man erst sprechen, wenn sich die künstlerischen Gestaltungsvorstellungen über die Kunstwerke hinaus auf die Gestaltung der öffentlichen und privaten Lebenssphären übertragen lassen. Tachismus auf Sesselbezügen verwies die abstrakte Kunst in den Rang eines vorherrschenden Stils, wie es jener der griechischen und römischen Antike, der des irisch-germanischen Frühmittelalters, jener der Gotik, des Barocks, des Jugendstils und des Art-deco-Stils gewesen waren. Eine erstaunliche Leistung der vergangenen hundert Jahre, gleich drei geschichtlich einmalige Stile hervorgebracht zu haben.

Ebenso bemerkenswert ist, daß Künstler auch als Stilkiller bzw. Stilverhinderer wirksam wurden. In den sechziger Jahren hatten die Produktionsbedingungen in den westlichen Industriegesellschaften Erscheinungsformen von Gütern und Lebensumgebungen hervorgebracht, die nur darauf zu warten schienen, durch künstlerische Gestaltung zu einem vorherrschenden Stil geprägt zu werden. Die Erscheinungsformen der Massenkonsumprodukte wurden jedoch durch affirmative, übersteigernde Ubernahme in die Kunst so gründlich verengt, daß sie faktisch stil-untauglich wurden. Ihre Reklamation für den engen Bereich der Kunst ließ sie wirkungslos werden.

In diesem Spektrum der Auseinandersetzung von Kunst und Gesellschaft muß sich die documenta behaupten: Künstler haben die Tendenz, ihre Gestaltungsvorstellungen dadurch für sich wirksam werden zu lassen, daß sie sie unbedingt für den Bereich der professionellen Kunst reklamieren, und die Gesellschaft hat die Tendenz, künstlerisches Gestaltungspotential gerade dadurch als Kunst aufzuheben, daß sie sich dieser Gestaltungsangebote skrupellos bedient.

Vor allem die documenta 5/1972 hat diese Wechselbeziehungen thematisiert. In dem Maße, in dem die Künstler wirksam werden, verlieren sie ihre herausgehobene einmalige Position. Die Künstler wehren sich dagegen, indem sie solchen Kollegen den Status wahrer Künstlerschaft absprechen, die sich von vornherein darauf einlassen, ihre Wirksamkeit nicht auf das Feld der Kunst im engeren Sinne auszurichten.

Bode hinter vorgehaltener Hand

Wenn man der Kunst der siebziger Jahre allgemein bedauernd nachsagt, daß sie zu wenig für die Kunstgeschichte und zu sehr für das Alltagsleben tätig geworden sei, dann kann man diese Feststellung gerade als Beweis dafür gelten lassen, wie wirksam in den siebziger Jahren das Alltagsbewußtsein durch Intervention von Künstlern verändert wurde.

Arnold Bode gehörte jener Generation an, die ihre Vorstellungen von der Wirksamkeit künstlerischen Arbeitens durch die Bauhausprogrammatik repräsentiert sah. Es ist deswegen nicht verwunderlich, daß der documenta-Bode die Idee einer documenta urbana entwickelte. Ihm ging es nicht mehr um Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum, sondern um die gestaltende künstlerische Intervention im öffentlichen Raum. Es ging um das Wirksamwerden des künstlerischen Gestaltungspotentials in der Veränderung des Alltagslebens. Was die jungen Künstler noch erschrecken mochte, nämlich Einbußen am herkömmlichen Werkverständnis hinnehmen zu müssen, um wirksam zu werden, das war für einen Bauhausveteranen selbstverständlich; war man doch zu Zeiten des Bauhauses schon so weit gegangen, nicht mehr vom Künstler, sondern vom Sozialingenieur zu sprechen. Bode hat aber wohl den Kunstbetrieb zu gut gekannt, als daß er sich hätte einbilden können, die Institution documenta vollständig in eine documenta urbana überführen zu können. Er wollte deswegen eine documenta urbana neben der herkömmlichen documenta. Mit diebischem Vergnügen malte er im Café Däche die Situation aus: Seine Künstler würden sich Mann für Mann zu entscheiden haben, ob sie wirksam, aber anonym, oder prominent, aber unwirksam bleiben wollten, wobei er hinter vorgehaltener Hand meinte, mancher würde es sich überlegen, wenn er hörte, daß man bei der documenta urbana sehr viel mehr Geld für die gestalterische Umsetzung zur Verfügung haben würde als für die Gestaltung der Säle des Fridericianums zum Museum der hundert Tage.

Da die Geschichte lehrt, daß Bode mehr oder weniger alles durchzusetzen verstand, was er sich vorgenommen hatte, wäre es ihm wahrscheinlich auch gelungen, seine documenta urbana zur eigentlich zeitgemäßen Dokumentation wirksamer Künstleraktivitäten werden zu lassen.

Nicht Design, sondern angewandte Kunst!

Was ohne Bode vom Konzept der documenta urbana übriggeblieben ist, dürfte aber ausreichen, um eine Feststellung zu treffen: Wir brauchen die autonomen Künste zur Entwicklung von Gestaltungspotential; stilistisch wirksam wird dieses Potential aber erst jenseits der Kunst. documenta und documenta urbana werden also sinnvollerweise nebeneinander bestehen müssen. Die Art ihrer Beziehung wird man wohl durch eine Neubestimmung des Begriffs "angewandte Kunst" festlegen müssen.

Als dieser Begriff vor hundert Jahren so weit entwickelt war, daß man mit ihm sogar neue kulturelle Institutionen wie die "Museen für angewandte Kunst" etablieren konnte, hing diesem Begriff bereits etwas von einer Restaurierung vorindustrieller Gestaltungspraktiken an. Angewandte Kunst im Sinne von Semper und Morris schien der Rettung von schon nicht mehr zeitgemäßen Vorstellungen des Künstlers als Artigiano, als Handwerker verpflichtet. Um diesen ideologischen Ballast abzuwerfen, ersetzte man den Begriff "angewandte Kunst" um 1920 durch den Begriff "Design", um zu dokumentieren, daß von individuellen Künstlern entwickelte Gestaltungsvorstellungen auch unter Bedingungen der Massenproduktionen anwendbar seien. Inzwischen ist Design weitgehend synonym für totalen Gestaltungsverzicht, für Ausdrucksverzicht. Design wurde zur Technik der Eliminierung von Auffälligkeit, Charakteristik, Hierarchie, kurz zur Eliminierung von Bedeutsamkeit. Deshalb besteht jetzt die Tendenz, den Design-Begriff aufzugeben und statt dessen den Gedanken der Anwendung von Kunst neu zu formulieren.

- Ist ein Fußballspiel die Anwendung von Spielregeln?
- Hausbau sei angewandte Architektur. Faktum ist, daß man beim Haus-bau geflissentlich die Anwendung von Architektur vermeidet.
- Nicht zu rauchen, wäre die Anwendung von medizinischem Wissen.
Faktum ist, daß ich mir gerade eine Zigarette anzünde.

Wie anwenden?

Herkömmlich wird unter Anwendung also die Überführung von Theorie in Praxis, von Wissen in Macht, von Gedanken in Tat verstanden. Bei den jetzt aktuellen Überlegungen zur angewandten Kunst scheint es um ein anderes Verständnis von Anwendung zu gehen.

Nicht die Theorie soll in Praxis umgesetzt werden, sondern Theorie soll Praxis überall dort kritisierbar werden lassen, wo sie sich als uneingeschränkt und beherrschend durchsetzt.

Wissen soll nicht in Macht umgesetzt werden, sondern Wissen soll Macht zügeln, wo sie sich mit dem Anspruch auf Wahrheit absolut setzt.

Gedanken sollen nicht in Taten angewandt werden, sondern Gedanken sollen die Taten durch Entwicklung von Alternativen einschränken und relativieren.

Ein Fußballspiel ist nicht die Anwendung von Spielregeln, sondern die Spielregeln beschränken die Willkür des Fußballspielens, wodurch es erst zum Spiel wird.

Hausbau ist nicht Anwendung von Architektur, sondern Architektur-Gedanken kritisieren jeden Hausbau, soweit mit ihm behauptet würde, die perfekte Umsetzung von Bauplänen in den materialen Bau sei Kriterium für leistungsfähige Architektur.

Zu wissen, daß Rauchen die Gesundheit schädigt, sollte uns nicht dazu verführen, die Zunahme der Krebserkrankungen dem Zigarettenrauchen zuzuschreiben.

Viele Künstler sagen, wenn sie mal richtig dürften, dann würde die Welt anders aussehen. Ihre Intervention in die Lebensräume verstehen sie weitgehend als Umgestaltung der Lebensräume nach ihren Plänen. Nun denn: als der große Künstler Scamozzi daran ging, nach seinen Plänen eine ganze Siedlung zu bauen, entstand das Gefängnis für Architektur Palmanova. Das war 1593, und das war immer so, wenn die Künstler glaubten, bloß an die Stelle bisheriger Pläne ihre eigenen setzen zu dürfen. Die Künstler, die so ihre Entwürfe anwenden wollen, leiden an Palmanoia, das ist eine gefährliche Krankheit, weil sie die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Plänen und Realisierungen zerstört und damit einem naiven Begriff von Angewandter Kunst Vorschub leistet.

An Palmanoia leiden aber nicht nur die Erbauer der zahllosen Märkischen Viertel in aller Welt. Auch Philosophen und wohlmeinende Normalbürger geben sich ihr gerne hin.

Habermas richtig mißverstehen!

Der Philosoph Habermas sagt völlig zu Recht, daß Aussagen erst dann tatsächlich Anspruch auf Wahrheit erheben könnten, wenn menschliche Kommunikation unter idealen Bedingungen der Herrschaftsfreiheit und allen gleichermaßen zukommender Kompetenz verlaufen würde. Das darf aber nicht heißen, darauf hinwirken zu wollen, diese idealen Bedingungen eines Tages zu erreichen, um endlich die Wahrheit sagen zu können. Da müßten wir schon bis nach dem Jüngsten Gericht warten. Nein, die Schlußfolgerung aus den Habermas'schen Überlegungen sollte lauten: Da Menschen nur unter jenen idealen Bedingungen für ihre Aussagen Anspruch auf Wahrheit erheben können, diese Bedingungen aber niemals gegeben sein werden, kann niemandem hier auf Erden zugestanden werden, daß man sich seinen Auffassungen zu unterwerfen habe, weil sie angeblich wahr seien. Derartige Ansprüche auf Unterwerfung sind palmanoiotisch. Die Wahrheit wäre dann nur eine ungeheuer schmutzige Menschenfalle.

Die sinnvolle "Anwendung" der Habermas'schen Überlegungen besteht darin, mit ihnen grundsätzlich jedwede Aussagen zu kritisieren, die dazu herhalten sollen, endgültige und unwiderrufbare Tatbestände zu schaffen und auch noch zu rechtfertigen.

Das haben jene Künstler verstanden, die eine documenta urbana als zeitgemäße Form der Anwendung von Künsten ausrichten wollen. Ihre Interventionen sind nicht darauf aus, die vorhandenen Gestaltungen von Lebensumgebungen und Lebensformen durch radikal andere zu ersetzen, deren Urheber sie selber wären. Solche Präpotenz würde schnell zur gleichen Misere führen, die es doch zu bearbeiten gilt.
Aufgeklärte Künstler, vor allem ihrem eigenen Tun gegenüber aufgeklärte Künstler, beschränken ihren Wirkungsanspruch auf kritische Interventionen mit so minimalen Mitteln als irgend möglich. Die von ihnen verwandten Materialien sind nicht von zeitenüberdauernder Härte, ihre Konzepte sind nicht auf den Katalog ewiger Größe ausgerichtet. Statt dessen trainieren sie unsere geistige und intellektuelle Beweglichkeit, leiten uns zur Entwicklung von Ideen an, die unsere Vorstellungen vom erfüllten Leben verändern. Sie ermöglichen uns Distanzierung und Relativierung dessen, was sich als wahr und mächtig vor uns aufbaut. Sie ersetzen die unbedingten Schlußfolgerungen aus Expertisen durch Alternativen und geben uns so das Bewußtsein zurück, Auswahlen treffen zu können.

Daß derartige Vorgehensweisen Künstler in Schwierigkeiten bringen und sie zwischen alle Positionen in die Versenkung zu stoßen drohen, lehren die Beispiele. Selbst ein Joseph Beuys bleibt nicht verschont, geschweige denn weniger glückliche Naturen.

Palmanoiotische Normalbürger sehnen sich nach den Fettecken in Galerien und Museen: "Ja, als Plastiker und Zeichner ist der Beuys ein Jahrhundertkünstler. Aber mit seinen andauernden ökologischen Tiraden und gesellschaftspolitischen Pamphleten macht er doch viel von dem zunichte, was ihm als Künstler zugestanden wird." Das hört man übrigens von den gleichen Leuten, die jene Fettecken und Zeichnungen noch vor zehn Jahren als kindische Schmierereien und Bluff verhöhnten. Es dürfte jedoch ziemlich eindeutig so sein, daß Beuys gerade als Künstler und erst als Künstler in der Lage war, so wirksam in ökologische und gesellschaftspolitische Diskussionen einzugreifen, weil er in sie seine spezifischen künstlerischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten einbrachte; weil er also in einer zeitgemäßen Weise angewandte Kunst demonstriert. Das scheinen auch jene mißzuverstehen, die als engagierte Ökologen vermuten, Beuys habe sich im wesentlichen in die Debatte eingemischt, um sich als Künstler in Szene setzen zu können.

Aber gerade als Künstler konnte Beuys durchsetzen, daß auf dem Kasseler Friedrichsplatz Tausende seiner Pflanzsteine gestapelt werden dürfen, die nur beseitigbar sind, indem man dem Appell folgt, der von diesen Steinen ausgehen soll: mit jedem von ihnen einen Baum zu pflanzen. Das ist ein zeitgemäßer Wirkungsanspruch eines künstlerischen Konzepts und seiner Anwendung, denn die Plastik ökologischer Appelle hebt sich als Beuyswerk nur und insofern selber auf, als diesen Appellen Wirkung von kunstinteressierten wie ökologisch interessierten Bürgern zugestanden wird. Wer die Steinhaufen als bloßes Beuys'sches Kunstwerk bewahrt wissen will, verhindert seine Wirkung. Wer das Werk wirksam werden läßt, hebt es auf, bringt es naiven Vorstellungen von einer Plastik zufolge sogar um.

Ja, doch, das ist wieder beispielhaft, was Beuys zur d7 als Künstler geleistet hat, beispielhaft für zeitgemäße angewandte Kunst. Und das denkbar schönste Grabmonument für Arnold Bode.