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Für dieses leere Spiel mit Worten sollt Ihr Buße tun!„Antikenprojekt“: Die Hybris der Berliner Schaubühne beim Umgang mit historischem Material
Wenn ich sage, daß die Präsentation des «Antikenprojekts» uns dazu zwingt, die künstlerische Praxis der Schaubühne auf ihre Voraussetzungen und Ziele hin zu befragen, so heißt das also, daß ich mich selbst von einer solchen Befragung nicht ausnehmen kann.
Wenigstens ein Ziel läßt sich angeben, das für alle künstlerische Praxis gelten kann: wir wollen die Adressaten unserer Aktivitäten, das Publikum, in Handeln und Verhalten beeinflussen und zwar so, daß die Adressaten größere Handlungsfähigkeit und Verhaltensdifferenzierung gewinnen. Dabei gilt, daß das Ziel der Beeinflussung dann annähernd erreicht ist, wenn die Beeinflußten in der Lage sind, sich selbst genau den Urteilsformen und Auffassungsweisen zu unterwerfen, die sie anderen Menschen in ihrer unmittelbaren oder mittelbaren sozialen Umgebung gegenüber anwenden. Erst in der Beförderung dieses Ziels hat künstlerische Tätigkeit unmittelbare gesellschaftliche Wirkung.
Jede Verständigung und jede Gemeinsamkeit im Handeln ist von wechselseitigen Vorgaben abhängig. Man kann diese Vorgaben als Erwartungen bezeichnen. Künstlerische Praxis, beispielsweise das Theater, arbeitet mit den Erwartungen des Publikums, um die Erwartungen selber verändern zu können. Heruntergekommenes Theater düpiert bloß die Erwartungen des Publikums: die Theaterarbeit wird gänzlich sinnlos, wenn das Publikum infolge solcher Düpierung überhaupt keine andere Erwartung an das Theater mehr hat als amüsante Erwartungstäuschung. Daß einige, bloßen privaten Verwurstungsinteressen folgende Kritiker durch das «Antikenprojekt» «alle Vergleiche aus dem Feld geschlagen» sehen, heißt schlicht: sie haben keine Vergleichsmaßstäbe und keine Fähigkeiten zum Vergleichen. Die Logik der Sache ist doch, daß etwas «jeden Vergleich Sprengendes» ohne Vergleich gar nicht als solches erkannt werden könnte. Diese Kritiker sind bereits theatergeschädigte Zuschauer, weil sie vom Theater nur noch die Sprengung von Erwartungen verlangen können.
Die Mitglieder der Schaubühne haben beispielhaft für viele Kollegen immer darauf bestanden, daß das Theater selber Erwartungen auszubilden hat, die als Korrektiv gegen die zerstörerische Praxis bloßer Erwartungstäuschung anzusehen sind. Eindeutige künstlerische Positionen zu vertreten, heißt, sich selber auf die Vorgabe von Erwartungen festzulegen. Auf die vollständige Erfüllung der Selbstfestlegung kann niemand pochen, weil sie auch von Bedingungen abhängt, über die wir nicht nach Wunsch verfügen können. Deshalb sind unser aller Handlungen nicht in erster Linie nach den Handlungsresultaten zu beurteilen, sondern danach, wie konsequent wir uns an unsere eigenen Erwartungsvorgaben halten. Sowohl an der Vorgabe wie an der Konsequenz ihrer Befolgung scheint es uns heute in einem Maße zu mangeln, daß wir in Gefahr geraten, die Möglichkeit völlig zu verspielen, auf das Handeln und Verhalten von Menschen außerhalb der Kunstpraxis noch einzuwirken. Wir haben unsere Fähigkeit, die Voraussetzung für Verständigung und Handeln mit anderen einzuhalten, einer unnachsichtigen Kritik zu unterwerfen. Wie wir tatsächlich miteinander umgehen, widerspricht in eklatanter Weise dem selbstbewußt zur Schau gestellten Ziel.
Eine solche Kritik läßt sich am «Antikenprojekt» der Schaubühne ansetzen. Da die Mitglieder der Schaubühne besonders befähigte Theatermacher sind und sich Arbeitsbedingungen geschaffen haben, die im weitesten Sinn als beispielhaft angesehen werden, haben die Aktivitäten der Schaubühne Signalcharakter für die Kunstpraxis. Es wird uns allen mit dem «Antikenprojekt» nichts Freundliches signalisiert.
Praktiken der nackten Ausbeutung
Denn das «Antikenprojekt» zeigt: wir plündern bedenkenlos die Arbeiten anderer aus; wir verfahren in totaler Willkür mit dem, was wir aus der Entstehungsgeschichte unserer Gesellschaft und ihres Selbstverständnisses, aus den Erscheinungsformen der Natur und der Geschichte der Menschen als etwas Objektives herausarbeiten müßten, um dem Chaos des Bedingungslosen zu entkommen. Wenn unser Vorgehen gerechtfertigt sein soll, weil es den Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft entspreche, und wir diese Praktiken zu kritisieren vorgeben, indem wir sie «nachvollziehen», so leugnet diese Rechtfertigung bewußt die tatsächlichen Leistungen der bürgerlichen Kultur; Leistungen, wie sie die bürgerliche Kultur beispielsweise mit der Begründung der Geschichtswissenschaft erbracht hat.
Chaos des Bedingungslosen, also Willkür der Schaubühne wird sichtbar, wenn wir den im Programmheft dokumentierten Umgang mit der Archäologie, der klassischen Philologie, der Theater- und Kulturgeschichte einer Stichprobe unterziehen. Das Schaubühnenteam kennzeichnet seinen Umgang mit wissenschaftlichem Material als «Suche nach Anregung». So wird Burkerts «Homo necans» einer weitergehenden Benutzung als des bloßen Abgrasens nach Anregungen nicht für würdig gehalten, weil «Burkert seine Argumentation immer wieder mit Hilfe fragwürdiger Analogien aus der Verhaltens- und Aggressionsforschung absichert». Solche Analogiebildung aber wird von dem Schaubühnenkollektiv geradezu als AufgabensteIlung ihrer eigenen Arbeit bezeichnet. «Der Zuschauer muß gezwungen werden, ein Wesen zu betrachten: die ins Klinische gedrückte Selbstbehauptung eines Schizophrenen, der ein bestimmtes Bewußtsein seiner eigenen Krankheit entwickelt ( ... ). Die Chance, ein Klinikbett zu zeigen, das sich gleichzeitig als kosmischer Raum definiert. Die Reise wird sprachlich gestaltet, das Gestammel wird zur Fahrt. Die Klinik, in der Dionysos sich befindet, ist so beschaffen, daß sie nicht mehr aushaltbar ist. Entweder die Klinik muß sich verändern oder Dionysos muß sich verändern.» Wenn das keine fragwürdigen Analogien sind, dann gibt es wohl keine sinnvolle Vorgabe für Verständigung über den Wort- und Begriffsgebrauch.
Ein weiterer, bedenklicher Punkt: die einzelnen Elemente des Bühnenbildes zum «Antikenprojekt» lassen sich vollständig aus jeder Materialsammlung zu den Prozessen der bildenden Kunst aus den vergangenen acht Jahren zitieren; diese Bilder zusammengestellt zu haben, bedeutet nicht die geringste Erweiterung, da die ohne Namensnennung verwendeten Künstler selbst die Raumkonstellationen in der Dimension, wie sie die Schaubühne benutzt, bereits berücksichtigt haben. Auch der Einsatz des Lichts und der monochromen Farbigkeit statischer Raumelemente ist ausdrücklich Thema einer ganzen Reihe bildender Künstler in den vergangenen Jahren gewesen bzw. ist es weiterhin. Was die Verbindung bildend-künstlerischer Mittel mit der theatralischen Szene anbelangt, so ist ebenfalls keine Erweiterung durch Regisseure und Bühnenbildner der Schaubühne erreicht worden. Direkt nachweisbar ist, daß Regisseure und Bühnenbildner sich bei ihren Übernahmen auf Abbildungen der Arbeiten anderer Künstler verlassen haben, denn sonst hätten sie über die aus Abbildungen genommenen Bildvorstellungen hinaus auch die Handlungsverläufe übernommen, die die Bilderfinder an das Material knüpften. Allerdings ist die Brutalität der Schaubühne im Umgang mit den Arbeiten anderer hinreichend, wohl auch noch den gerechtfertigten Selbständigkeitsanspruch von Werken zu zerstören - eine Brutalität, die bei dem vorgegebenen Selbstverständnis der Schaubühne unverständlich ist. Im allgemeinen Kulturbetrieb nennt man vergleichbare Praktiken richtigerweise nackte Ausbeutung.
Wie soll der Zuschauer Identifikation leisten?
Das Programmheft zitiert Freud: «In der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso ’abreagiert‘ werden kann ( ... ). Wenn solche Reaktion durch Tat, Worte, in leichtesten Fällen durch Weinen nicht erfolgt, so behält die Erinnerung an den Vorfall zunächst die affektive Betonung.» Meinen die Schauspieler, daß eine derartige Leistung der Sprache nur erbracht wird, wenn Sprache ein angemessenes Surrogat für die Tat ist? Oder genügt irgendeine sprachliche Artikulation?
Das Programmheft sagt, es gebe einen Punkt, «wo Realität nur durch Theatralität wieder zur Realität führen kann». Ist gemeint, daß eine Vorstellung von der Realität in eine andere überführt wird oder ist gemeint, daß «die Realität» durch Theaterspielen verändert werden kann? Kommt es nur darauf an, mit «Theatralität» irgendeine andere Vorstellung von der Realität zu gewinnen? Dann wäre «Theatralität» nur verselbständigte Reaktionsweise, die sich blind von jeder gerade vorliegenden Vorstellung der Realität zu einer anderen treiben läßt? Die in der Aufgabenstellung verwendeten Worte «äußerste Bewußtheit», «begreifbar machen», «verstehbar machen», «zeigen», «aufdecken», «Rechenschaft ablegen» scheinen einer solchen Auffassung von der Theatralität als spontaner und affektiver Reaktion, die ihre Berechtigung hätte, zu widersprechen. Den Widerspruch aufzudröseln, heißt, den Theatermachern der Schaubühne entgegenzuhalten, was Pentheus dem Dionysos: «Für das leere Spiel mit Worten sollst du Buße leisten.»
Allerdings sagen die Schaubühnenformulierer, daß für ihre Arbeit die Frage erst geklärt werden müßte, «ob sich die Schauspieler so verhalten, ’wie sie es können‘, ob wir darstellungsmäßig eine erhellende, erklärende Vermittlung anstreben oder eine schockartige Wirkung, ein direktes Erlebnis, in das die Zuschauer hineingezwungen werden, einen Zustand, in dem nicht mehr alles selbstverständlich ist».
Diese Frage sollte offensichtlich zugunsten eines «direkten Erlebnisses, in das die Zuschauer gezwungen werden», beantwortet werden. Die Inszenierung hat das gar nicht leisten können, weil die Schauspieler selber formulieren, daß «für ein realistisches Nachvollziehen zum Beispiel eines Opferganges Identifikation mit dieser Handlung vorausgesetzt werden muß». Zugleich aber wurde in den «Übungen für Schauspieler» gezeigt, daß die Voraussetzungen für eine solche Identifikation offensichtlich nur durch bewußte, also «erhellende, erklärende Vermittlung» erreicht werden können. Sonst wären «Übungen» nicht möglich. Wie soll der Zuschauer Identifikation leisten, wenn er nicht mitübt? Also wird ihm die Identifikation der Schauspieler vorgeführt. Um sie als Identifikation erkennen zu können, muß sie dem Zuschauer «erhellend, erklärend vermittelt werden». Das heißt, es muß vermittelt werden, womit sich die Schauspieler «identifizieren».
Die Fähigkeit zum «realistischen Nachvollziehen» muß durch bewußte Übung erworben werden - was aber nachvollzogen wird, läßt sich ohne ebenso bewußte Rekonstruktion nicht sagen. Solche Rekonstruktionen liefern für die griechische Antike wie für unsere unmittelbare Vergangenheit die Wissenschaften: theatralisch könnte nur die Rekonstruktion nachvollzogen werden.
Was kann vernünftigerweise der von der Schaubühne konstatierte Unterschied zwischen «distanziertem Nachstellen» (also Rekonstruktion) und «realistischem Nachvollziehen» bedeuten? Heißt «realistisches Nachvollziehen», daß die Schauspieler den Vollzug als real erleben? Dann werden aber vor allem nicht die von Euripides behandelten Rituale nachvollzogen - dann wären die Handlungen der Schauspieler selber als Ritual aufzufassen. Euripides würde dann nur willkürlich für die Konstitution eines Rituals ausgeschlachtet, da die Theatertruppe selbst nicht zu einer solchen Begründung eines Rituals fähig ist (Rituale lassen sich weder von Schauspielern noch von Hippies oder Parteisekretären nach Belieben konstituieren). Heißt aber «realistisches Nachvollziehen»: es wird etwas unbestimmt Vorgegebenes im Nachvollzug sichtbar, so wäre eben das eine Rekonstruktion; allerdings eine bedeutungslose, solange nicht durch das Nachvollziehen jene unbestimmten vagen Voraussetzungen als bestimmte erkannt werden.
Meinen die Schauspieler vielleicht «Einfühlung?» Es ist erwiesen, daß man sich immer nur in sich selber «einfühlt», wenn man sich in andere einzufühlen versucht. Die Einfühlung eines Analytikers in seinen Patienten oder die Einfühlung eines Philologen in die Literatur der griechischen Klassik haben fatale Konsequenzen, wenn die Einfühlung nicht in eine Rekonstruktion des Anderen, Fremden überführt wird - wenn das Andere und Fremde dem Einfühlenden nicht als Objekt gegenübertreten kann. Ein derartiges «Wissenschaftlichwerden» ist gerade der Kunstpraxis heute abzuverlangen, wenn anders nicht die Künstler vollständig ihrer Handlungsobjekte entraten sollen. «Objektverlust» lautet die Diagnose. Konstitution des Objektcharakters wird durch Rekonstruktion erreicht: gerade Theater kann solche Rekonstruktion optimaler darstellen als die einzelnen Wissenschaften, die für die Darstellung ihrer eigenen Rekonstruktionen (Erkenntnisse) nur über magere Mittel verfügen. In der Übernahme der Darstellungsverpflichtung könnte Theater die Wissenschaften, die in erster Linie Erkenntnisverpflichtungen haben, als Formen sozialen Handelns komplettieren und weiterentwickeln.
In solcher Darstellung des Erkannten schließen sich «schockartige Wirkung» und «erhellende Vermittlung» nicht aus - wie die Schaubühnenmitglieder meinen. Entsprechen schockartige Wirkung und erhellende Vermittlung einander, dann wird Evidenz erzeugt.
Um die Rekonstruktion kommt man nicht herum
Obwohl die Schaubühne die Möglichkeit zur Rekonstruktion der euripideischen Antike leugnet, stellt sie andererseits dem Chor, der aus nachvollziehenden Schauspielern besteht, die Aufgabe, das Handeln der Protagonisten mit «Kausalitäten des Handlungsgeschehens, Korrespondenzen zur Geschichte, zur Mythologie, zur Genealogie etc.» zu begleiten und damit den Fortgang des Spiels zu ermöglichen. Gehen solche Kommentare des Chors aus dem Text des Euripides hervor, dann sind sie nicht Leistungen nachvollziehender Schauspieler, sondern Darstellungsaufgaben. Wenn die Theaterleute diese Kommentare zur Kausalität des Handlungsgeschehens, der Korrespondenzen zur Geschichte, Mythologie und Genealogie nachvollziehen wollen, dann müssen sie jene Kausalitäten etc. zunächst anhand des tradierten Materials rekonstruieren bzw. auf die Rekonstruktion der Wissenschaften zurückgreifen. Um diese Rekonstruktion kommt man nicht herum. Euripides wendet in den «Bakchen» dieses Verfahren selber an, sowohl inhaltlich als auch formal. Inhaltlich als Rekonstruktion der genuin griechischen Vorstellung von der Beziehung. zwischen Menschen und Göttern, also der Ordnung der Welt, die es zu erreichen galt; formal als Rekonstruktion des Dionysoskults, also der kulturellen und sozialen Praxis aus der Entstehungsgeschichte seiner Gegenwart, die es zu verstehen galt. Zu den Zeiten des Euripides praktizierten die attischen Griechen den Dionysoskult nicht mehr in der ursprünglichen Form. Der Kult hatte sich längst in ein Weihespiel verwandelt, zu dem man Delegationen entsandte. Einem Athener war um 406 der ursprüngliche Dionysoskult genauso fremd wie uns heute. Seine Rekonstruktion auf dem Theater war damals genauso schwierig wie heute.
Es gibt eine lange Tradition des gewollten Mißverständnisses, Dionysos als griechischen Vorläufer des Gottmenschen Jesus anzusehen: man beabsichtigte mit einer solchen Konstruktion, die unübersehbar bedeutsamen kulturellen Leistungen der Griechen noch nachträglich unter den Anspruch des Christentums zu verfügen. Vergil wurde sogar in diesem mittelalterlichen Versuch der Aneignung der griechischen und römischen Kultur durch die Christen zu einem direkten Verkünder der Ankunft des Christos. Die Schaubühne schließt sich mit ihrer formulierten, wenn auch nicht realisierten Konzeption dieser Tradition des Mißverständnisses über die griechischen Göttervorstellungen an. Da sie aber, wie bekundet, über Euripides hinausgehen will, wird das Mißverständnis doppelt. Sie sieht in Dionysos die Menschwerdung des Gottes. Da das offenbar heute kein behandlungswürdiges Thema mehr ist, wird mit Dionysos die «psychologische Kurve eines Menschen bezeichnet, als Metapher für die Selbstfindung, die Identifikationsschwierigkeiten eines Individuums, das sich nur entfalten und selbst finden kann in der Auseinandersetzung mit anderen».
Unsere Probleme sind nicht ewigmenschliche
Die Dionysos-Tragödie als Drama der Gottestötung, als Karfreitag der Griechen sozusagen, aufzufassen, ist nicht sinnvoll, seit man unter Aneignung nicht mehr, wie das christliche Mittelalter, Vereinnahmung verstehen kann, sondern die Rekonstruktion des Gewesenen als des nicht mehr Gegenwärtigen, aber dennoch für die Entstehung des Gegenwärtigen Bedeutsamen. Die mittelalterliche Praxis wird heute beispielsweise in der DDR bei der Aneignung des kulturellen Erbes insofern fortgesetzt, als nur jene Bestandteile der bürgerlichen Kultur gefeiert und der Übernahme für würdig befunden werden, die gegenwärtige Auffassungen in einer historisch anderen Gestalt darzustellen scheinen.
Gerade historischen Materialisten verbietet sich ein solches Verständnis von Aneignung. Für die Griechen hieß das Messen und Bewerten des anderen mit der bloß eigenen zeitgemäßen Elle Hybris.
Die Schaubühnen-Aufführung legte auf Hybris als Fang- und Reizwort größten Nachdruck, sah aber verständlicherweise davon ab, den eigenen Umgang mit dem historischen Material unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. Sie hätte es sich dann nämlich verbieten müssen, in dem Stück des Euripides nur ein Beispiel für gegenwärtige Auffassungen von den «Identifikationsschwierigkeiten» eines Individuums zu sehen. Wer historisches Material nur darauf befragt, inwiefern es unsere gegenwärtigen Fragestellungen abhandelt, müßte doch eigentlich von selbst darauf kommen, daß das gar nicht möglich ist, da sich die historisch-materialistisch herausarbeitbaren Bedingungen für die Entwicklung einer Fragestellung und ihrer möglichen Beantwortungen beständig verändern. Es ist eben Hybris zu meinen, daß die historischen Zeugnisse unserer Kultur ausschließlich dann noch ein Recht auf Rezeption hätten, wenn sie uns etwas zu unseren gegenwärtigen Problemstellungen so sagen, als seien sie heute verfaßt worden.
Euripides' Kampf gegen Pseudoreligionen
Von solcher Hybris wird man verschont, wenn man anhand der Rekonstruktion des historisch Gewesenen erfährt, daß unsere gegenwärtigen Probleme durchaus nicht ewigmenschliche sind. Erst dann ahnen wir etwas von dem, was möglich war und für Menschen möglich wäre, die nicht im Gefängnis ihrer eigenen Vorstellungen und Auffassungen eingesperrt blieben. In dieser Absicht hat Euripides seinen Mitbürgern den Dionysoskult rekonstruiert. Denn diese Mitbürger erlaubten sich bacchantische Praktiken im Bereich des politischen Handelns, die sie mit Hinweis auf althergebrachte Kulte zu rechtfertigen versuchten. Diesen Tatbestand macht Thukydides deutlich, wenn er den kollektiven Blutrausch attischer Soldaten in Korkyra 427 und in Melos 416 ausführlich schildert, obwohl diese Ereignisse politisch gesehen kaum bedeutsam waren. Thukydides schreibt mit Verweis auf jene Ereignisse: «Fanatische Begeisterung war das Kennzeichen eines echten Mannes; einen politischen Gegner mit völliger Willkür zu behandeln, galt als durchaus akzeptabel. Wer nur extreme Ansichten äußerte, dem durfte man vertrauen, und wer dagegen etwas einwandte, machte sich verdächtig. Selbst familiäre Bindungen waren schwächer als die Parteizugehörigkeit, da die Parteimitglieder bereit waren, aus beliebigen Gründen die extremsten Handlungen zu begehen. Diese Parteien bildeten sich nicht, um neue Ordnungen in Geltung zu setzen und mit ihnen das Leben besser nutzen zu können, sondern sie entstanden nur, um die jeweils gerade bestehende Ordnung zu stürzen, um dadurch selbst an die Macht zu gelangen. Die Mitglieder solcher Parteiungen hatten nicht deshalb Vertrauen zueinander, weil sie gleiche Vorstellungen vom gesellschaftlichen Leben hatten, sondern weil sie gemeinsam Verbrechen begingen.»
Mit der Rekonstruktion der ursprünglichen Kulte wollte Euripides zeigen, daß der kollektive Machtrausch sich nicht mit Berufung auf sie legitimieren konnte. Aus den Werken und dem Leben des Euripides ist eindeutig nachweisbar, daß er sich solchen Legitimationsversuchen durch die Wiederaufnahme der Kulte der Frühzeit widersetzte. Er war insofern Atheist, als diese Kulte mit den genuinen griechischen Auffassungen von der Religion nichts zu tun hatten. Die «Bakchen» sind kein Widerruf eines Atheisten, sondern die Fortsetzung seines Kampfes gegen die Pseudoreligionen, die von politischen Karrieristen nach Belieben ausgenutzt wurden.
Schon die Eleaten haben die Vorstellungsinhalte der in den Kulten auftretenden Figuren, zum Beispiel den Satyr, analysiert als das, was wir heute als vordarwinsche Abstammungslehre bezeichnen würden. In diesen halb menschlichen, halb tierischen Figuren wurden sich die Menschen ihres eigenen Ursprungs aus der Naturevolution bewußt, ohne die Gesetze dieser Evolution im darwinschen Sinne erkennen zu können. Die Entstehung des Menschen im naturevolutionären Prozeß konnte von Griechen deswegen so früh erfahren werden, weil sie einen Schöpfergott nicht kannten. Die Griechen hatte keine Religion, wenn wir darunter etwa das verstehen, was jüdische oder christliche oder mohammedanische Traditionen bezeichnen. Sie kannten keine heiligen Texte von der Art der Bibel oder des Koran, es gab keine institutionelle Verwaltung von Religion in der Form einer Kirche.
Auf diese genuin griechischen Vorstellungen hebt Euripides auch in den «Bakchen» ab, wenn er die Pseudoreligion der neuen Dionysosverehrer vorführt. Was für einen athenischen Zeitgenossen des Euripides Religion hieß, ist der Hintergrund, vor dem die «Bakchen» gesehen werden müssen. Das Stück entfaltet den Hintergrund nicht selber, da er für das athenische Publikum noch unmittelbar wirklich war.
Der Kern dieser Auffassung von der Religion als einer Beziehung zwischen Menschen und Göttern kann sehr knapp dargestellt werden: die griechischen Götter sind die zu höchster Entfaltung des Lebendigen aufgestiegenen Menschen, wenn es je Menschen möglich wäre, sich so vollkommen zu entfalten. Eins ist das Geschlecht der Götter und Menschen, sagt Pindar, aber uns trennt in allem anders geartete Kraft. Höchste Entfaltung dessen, was Menschen zu sein wünschten, würde bedeuten, daß sie von Alter und Tod verschont blieben. Die griechischen olympischen Götter sind die aus ihren Bedingungen von Zeit und Wirkungskraft befreiten Menschen auf ihrer höchsten denkbaren Entwicklungsstufe. Im übrigen bleiben aber auch die Götter den Gesetzen der Natur (ananke) und den Gesetzen des sozialen Lebens (agon) unterworfen. Ehestreitigkeiten, Machtrivalitäten etc. konnten deshalb ganz selbstverständlich von den Griechen auch als göttlicher Lebensalltag verstanden werden. Religion als Bezug auf die Götter hieß also für den Griechen, sich beständig seiner höchsten Entfaltung verpflichtet zu fühlen. Die Heroen waren Leitbilder dieser Anstrengung höchster Entfaltung, weil sie es geschafft hatten, sich göttlichen Gestalten anzunähern. Die in hellenistischer Zeit belegten Vergöttlichungen von politischen Führern wurden lange als Verfallserscheinungen der klassischen Auffassung von der Religion angesehen, sind aber nur deren selbstverständliche Äußerung.
Wenn ich sagte, daß Euripides auf diese inhaltliche Dimension von Religion mit den «Bakchen» abhebt, so ist das im Sinn einer Verpflichtung zur Verwirklichung der Gottähnlichkeit des Menschen zu verstehen. Obwohl den Athenern die eben skizzierte Auffassung noch ganz gegenwärtig war, bedurften sie bei der zunehmenden Willkür im politischen Handeln umso stärkeren Ansporns. Etwas nie oder kaum zu Erreichendes dennoch immer versuchen zu sollen, ist eine Handlungsanleitung, der sich mehr und mehr Griechen nicht gewachsen fühlten, und es ist nur allzu verständlich, daß sie ihr Versagen vor dieser Verpflichtung und ihr begründungslos gewordenes Handeln mit dem Hinweis auf andere Gottvorstellungen, beispielsweise den Dionysoskult, zu rechtfertigen versuchten. Dagegen haben sich Euripides wie andere Aufklärer gewandt.
Die griechische Antike als eine Zukunft einholen
Wenn die Schaubühne in den Aufgabenstellungen für das «Antikenprojekt» fragt, was denn an den «Bakchen» für heutige Problemstellungen noch interessant sei, um dann die Geschichte eines Gottmenschen als Verlauf der Heilung eines Schizophrenen zu inszenieren, dann verfällt sie der Kritik an ihrem falschen Aneignungsbegriff. Man hätte versuchen müssen, anhand der «Bakchen» ein Modell jener griechischen Auffassung von der Beziehung zwischen Göttern und Menschen sichtbar zu machen. Es hat eine Zeit in Europa gegeben, in der solche Versuche gelungen sind, allerdings weniger innerhalb der Theaterpraxis als vielmehr im Bereich der Literatur und Wissenschaft. Die Spannweite der damaligen Rekonstruktionsversuche wird durch die Namen Hölderlin und Robespierre angedeutet.
Man hat sich oft gefragt, wie es zu erklären sei, daß um 1800 so plötzlich eine große Zahl von Genies auftreten konnte. Die landläufige Erklärung verweist auf die Befreiung der Menschen vom Druck gesellschaftlicher Ideologien durch die Französische Revolution. Ich würde sagen, daß in dieser Erklärung auf eine bisher nicht beachtete Weise Richtigkeit steckt. Die Freisetzung der Arbeitsenergien um 1800 verdankt sich der Rekonstruktion griechischer Religion. Das heißt vor allem die Befreiung von der Vorstellung eines Schöpfergottes. Die sehr ähnlichen Ausbildungswege und Erziehungsformen, die jene Genies durchliefen, haben durch die Betonung des Studiums der klassischen Philologie eine solche Rekonstruktion der griechischen Göttervorstellungen befördert. In der Französischen Revolution wurde zwar unmittelbar nicht von den griechischen, sondern von den römischen Lebensformen ausgegangen, dennoch war für einen Robespierre oder Saint Just das Leerräumen des christlichen Himmels eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Befreiung des gefesselten Bürgers. Was Saint Just und Robespierre als Göttin der Vernunft, als höchstes Wesen inthronisieren wollten, entspricht weitgehend griechischen Vorstellungen. Die Griechen haben Abstrakta wie Vernunft, Liebe, Stärke, Schönheit nur gebunden an menschlichen Ausdruck und menschliches Verhalten verstehen können. Deswegen drückten sie diese Abstrakta in menschlichen Gestalten aus. Daß sie ihren Göttern menschliche Gestalt gaben, ist deshalb keine primitive Anthropomorphisierung, sondern die Erkenntnis, daß alle Aussagen über solche Abstrakta nur in Verbindung mit dem Menschen Bedeutung haben. Harder hat darauf hingewiesen, daß auch für uns heute noch eine solche Ausdrucksweise verständlich ist: wenn wir vom Tod sprechen, so haben wir zumeist die Vorstellung des Sensenmannes, des Vetter Hein. Solche Vorstellungen für die Abstrakta Liebe und Schönheit oder Gemeinschaft möglich zu machen, wäre eine Aufgabe der Rekonstruktion griechischer Göttervorstellungen. Natürlich können wir die griechischen Vorstellungen nicht übernehmen. Das geschichtlich Gewesene erhält seine Bedeutung daraus, daß es nie wieder gegenwärtig sein kann. Aber das Beispiel der Griechen könnte als eines der Muster erkannt werden und als ein mutmachender Hinweis auf die Möglichkeit, das Spiel mit leeren Worten zu beenden. Die Willkür unseres Umganges mit den Abstrakta zerstört jede Kommunikation. Sie wird erst gelingen, wenn wir die mögliche Bedeutung solcher Abstrakta mit dem Ausdruck menschlichen Verhaltens in direkte Beziehung bringen können. Insofern heißt die Aufgabe: die griechische Antike als eine Zukunft einzuholen.