Magazin Pan - Zeitschrift für Kunst und Kultur. 6/1990

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Erschienen
25.05.1990

Verlag
Burda

Erscheinungsort
München, Deutschland

Issue
6/1990

Seite 96 im Original

Eine zweite Dolchstoßlegende oder das Selbstmitleid der DDR-Kulturbonzen

1. Direkte Wege zu Gott und Kunst sind Sackgassen

Die Bände I bis V der Schriften erschienen 1977 unter dem Titel 'Ästhetik als Vermittlung'. Wenn jetzt die Bände VI, VII, VIII und IX unter dem Titel 'Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit' veröffentlicht werden, so scheint dieser Titel den ersten nur mit anderen Worten zu umschreiben. Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit ist ja eine Ästhetik als Vermittlung. Letztere wollte eine grundlegende Bedingung unseres kulturellen Selbstverständnisses kennzeichnen:
Unsere Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Erlebnisformen sind immer schon vorgeprägt; eigene Erfahrungen und eine gewisse relative Unabhängigkeit von unserer natürlichen und gesellschaftlichen Prägung gewinnen wir nur durch die Einsicht, daß wir immer schon von Vorurteilen beherrscht werden, ja, daß wir der Vorurteile sogar bedürfen, um den unvorstellbar vielfältigen Anforderungen unserer Lebenssituation einigermaßen entsprechen zu können. Die kulturelle Evolution gewinnt ihre Entwicklungsdynamik gerade dadurch, daß die Mitglieder einer Kultur Wissen und Erfahrung, Erlebnisformen und Methoden der Erkenntnisgewinnung voneinander übernehmen, ohne gezwungen zu sein, alle diese Werte selber zu erarbeiten.

Wie die Geschichte lehrt, gehören zur Entwicklungsdynamik der Kultur aber auch jene verzweifelten Bemühungen, die Vermitteltheit unserer Erfahrung zu leugnen beziehungsweise die kulturellen Vermittlungsformen zu zerschlagen, um so wieder unmittelbaren Zugang zur Welt und zum Selbst zu gewinnen. Selbsterfahrung und Naturerlebnis, Gottesanschauung und der Geist der Gemeinschaft sollten nach solchen Auffassungen, an die eine Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit adressiert ist, immer wieder rein und unverstellt ermöglicht werden.
Schon am Anfang der neueren Entwicklung unserer Kultur steht Luthers Behauptung von der Unmittelbarkeit des Einzelnen in seiner Beziehung zu Gott. Die kirchlich/institutionellen, die priesterlich/rituellen Vermittlungsformen zwischen Gott und Mensch, wie sie die katholische Kirche entwickelt hatte, müßten aufgelöst werden, behauptete er. Bilder und Architekturen, besondere Gewänder und rituelle Objekte, spezifische Lebensformen und abgehobener Status der Priesterschaft verstellten als ganz äußerliches Brimborium nur den Weg der Seele zu Gott. Allein »das reine Wort« der Offenbarung habe Geltung. Luther konnte noch nicht verstehen, daß auch die Wortsprache eine Form der Vermittlung darstellt, ohne die Gedanken und Vorstellungen nicht aktiviert werden können. Auch die personale Vermittlung des Pfarrers und Theologen, des Bruders im Herrn und des Mitmenschen im Sozialverband mußten die Protestanten schließlich anerkennen. Dennoch wiederholten sich regelmäßig die Versuche, nach dem Beispiel der protestantischen Bilderstürmer und Unmittelbarkeitsfanatiker aus den Bedingungen natürlicher und kultureller Vermitteltheit unseres Denkens und Erlebens auszusteigen. Ob nun diese Versuche von großen sozialen Umwälzungen begleitet waren oder nicht, sie waren und sind zum Scheitern verurteilt, was keineswegs heißt, daß sie ohne Bedeutung blieben; ganz im Gegenteil.

Es scheint, daß sich das Selbstbewußtsein von Individuen und Gemeinschaften im wesentlichen gerade durch das Scheitern jener gewaltigen Anstrengung gestützt sieht, die Menschen aus den von | Natur und Geschichte vorgegebenen Bedingungen des Erlebens und Handelns radikal zu befreien, um hier auf Erden schon in der Selbstverantwortung des Menschen zu erzwingen, was nur als Erlösung in einer anderen Welt, als es die unsere ist, vernünftig begründet werden kann. Radikaler Glaube an die unbegrenzte Kraft des menschlichen Geistes sieht sich gerade durch den Heroismus des Scheiterns bestätigt. Die Würde des Menschen ist nach dieser Auffassung erst daraus zu entwickeln, daß er gegen alle Erfahrung und gegen alle Erkenntnis den Gottesstaat oder das Reich des Geistes zu erzwingen und damit sich selbst zu erlösen sucht.

Im Praxisfeld der Künste machen sich diese Tendenzen gerade gegenwärtig wieder verstärkt bemerkbar. Kontrafaktisch wird behauptet, daß die Konfrontation mit Kunstwerken keiner Vermittlung über ästhetische Theorien, oder die Kunstgeschichte, oder die Institution Museum, oder die Person des Kenners und Beispielgebers bedürfe.

Da wird wieder vor Bildern meditiert und gebetet, was sich bei näherem Hinsehen aber als dumpfes Brüten oder ergebnisloses Starren bemerkbar macht. Die Künstler selber bilden sich reihenweise ein, wieder spontan und unmittelbar expressiv, anstatt konzeptuell und formal vermittelt zu arbeiten. Sie werden zu Gurus blinder Kunstgläubigkeit, die allerdings weniger Unheil anrichtet als die grassierende Wissenschaftsgläubigkeit.

Die Ästhetik solcher kontrafaktischer Erzwingung der Kunstanschauung und des Kunsterlebnisses kann man nicht einfach ironisch abqualifizieren oder gar zynisch übergehen. Wenn zum Beispiel von den Arbeiten des bedeutenden Gegenwartskünstlers Anselm Kiefer mit dessen ausdrücklicher Zustimmung behauptet wird, »daß die Blei- und Feuerwolken (in seinem letzten Werkzyklus) das widersprüchliche Wesen Jachwes grundsätzlicher fassen, als es sich im Auszug aus Ägypten dem Moses (!) auftut«, und daß »die Suggestionskraft des amorphen Himmelsgebildes entschieden über die im Buch Mose von Gott gewählten Erscheinungsformen hinausgehe«, dann läßt sich weder ironisch dieser Mose zum bloßen Moses (Lehrling in der Schiffahrt) hinunterstufen, noch kann man diesen Künstler zynisch auffordern, sich nun endlich als Führer der Kinder Israels zu beweisen.

»Wir wollen Gott und damit basta!« ist das Programm solcher Künstler; gegen solche Erzwingung der Gott- und Geistunmittelbarkeit hat sich die Ästhetik als Vermittlung zu bewähren.

Es scheint unverzichtbar zu sein, daß sich eine solche Ästhetik auf anthropologische Begründungen stützt, was in dieser Einleitung im einzelnen nicht gezeigt werden kann. Die Studien zur Neurophysiologie und Verhaltensforschung in ästhetischer Hinsicht gehören zur Arbeit des Autors als Hochschullehrer, die in diese Bände nicht aufgenommen wurden. Hier soll nur das Begriffsraster vorgegeben werden, in dem sich seine Ästhetik abzeichnet.

2. Anthropologische Konstanten

Anthropologische Grundkonstanten im menschlichen Verhalten, auf die in dieser Ästhetik Bezug genommen wird, sind die im limbischen System regulierten Antriebe zur Wiederholung lustvoller und zur Vermeidung Unlust erregender Handlungen (limbisches Regulativ), sind Xenophobie (Angst vor dem Neuen, Fremden und Unbekannten in unserer Lebensumgebung) und die Neophilie (das Neugierverhalten). Beide stehen in einem ambivalenten Wechselverhältnis. Die vierte hier in Anspruch genommene Konstante wird als Distinktionismus gefaßt, als Notwendigkeit also, sämtliche Erscheinungen der Lebensumgebung nach bestimmten von Natur oder Erfahrung vorgegebenen Kriterien (zum Beispiel eßbar - giftig) zu unterscheiden. Die fünfte Konstante, die nur von einigen Verhaltensforschern anerkannt wird, ist in der Taxophilie des Menschen zu sehen, was besagt, daß die Einzelkriterien der Distinktion, also der Zuordnung von Bedeutungen zu Erscheinungen, schon von Natur aus klassifiziert, also in geschlossene Ordnungsgefüge eingebracht werden.

Einer der führenden Verhaltensforscher, Desmond Morris, will aus diesem naturgegebenen Antrieb zum Aufbau von Ordnungsgefügen sogar ausschließlich die ästhetische Dimension des menschlichen Verhaltens herleiten. Aber diese Begründung der Ästhetik aus der Taxophilie kann nicht hinreichen. Es gilt vielmehr, mindestens zwei wesentliche von einer Reihe anderer Bedingungen vorauszusetzen .

Der naturevolutionär entstandene Weltbildapparat des Menschen ist, wie die Neurophysiologie zeigt, durch die Differenz von Denken und Sprechen, von Vorstellungs- und Begriffsbildung und vieler anderer Leistungen der Aktionszentren der Großhirnrinde bestimmt. Seit der Entdeckung dieser Tatsache durch R. W. Sperry zu Beginn der 60er Jahre (Erkenntnistheoretiker wie Kant und Sprachphilosophen wie W. Humboldt haben diesen Sachverhalt schon immer aus systematisch begründeten Überlegungen geschlossen) sind wesentliche Erkenntnisse des Prozesses der Zusammenarbeit der neokortikalen Leistungszentren erarbeitet worden, also auch die des Zusammenhangs von Denken und Sprechen, der Symbolbildung und der Ausdifferenzierung von Bewußtsein.
Die weitere Voraussetzung von Begründung der hier vertretenen Ästhetik ist mit der Bestimmung des Selbst- und Außenbezugs des Menschen als Empathie und Mimesis gegeben. Mit Empathie ist die Übertragung von Wirkkräften der Außenwelt auf den Menschen gemeint. Wir sehen auf einem Dachfirst unangeschnallt einen Menschen balancieren und erleiden Schwindelgefühl, obwohl wir als Beobachter auf festem Boden stehen. Oder: Uns wird als selber Unverletzten schlecht, wenn wir einem Verletzten konfrontiert werden. Die Wirkkräfte der Außenwelt werden also im Organismus analog abgebildet; die entsprechenden Leistungszentren des gesamten zentralen Nervensystems interpretieren primär die Konstellationen äußerer Wirkkräfte als Konstellation im eigenen Organismus. Mimesis bezeichnet Formen der Analogiebildung von Konstellationen der Wirkkräfte der Außenwelt im Organismus.

Im Hinblick auf die hier nach thematischen Bereichen geordneten Schriften werden die Konstanten Xenophobie und Neophilie des menschlichen Verhaltens für eine Theorie der Avantgarde aktiviert, wobei nun noch neben diesen anthropologischen die historisch-sozialen Bedingtheiten des menschlichen Verhaltens hinzukommen. Der Distinktionismus und die Taxophilie des menschlichen Verhaltens werden für die Begründung des Schöpfens von Bedeutungen durch Unterscheiden in Anspruch genommen (Band VII).

Die wesentlichen Bestimmungen der Leistungsfähigkeit des menschlichen Weltbildapparates, nämlich die Ausdifferenzierung von spezifischen Leistungen der Aktionszentren der Großhirnrinde, stützen die vom Autor vertretene Auffassung einer Ästhetik aus der Differenz von Denken und Sprechen, von Anschauung und Begriff, von Zeichen und Bezeichnetem.

Eben daraus begründet der Autor auch seine Kritik an den oben erwähnten Versuchen, die Unmittelbarkeit oder die Identität von Denken und Sprechen durch den Kraftakt zu erzwingen, Gedanken, Vorstellungen und Anschauungen ohne entsprechende sprachliche Vergegenständlichungen auf sich selber rückbeziehen zu können, also zu reinem Denken, zu reiner Vorstellung und reiner Anschauung werden zu lassen.

3. Avantgarde und Arrièregardismus

Alle Avantgardetheorien gehen - was der Begriff Avantgarde ja besagen soll - davon aus, daß mit den Avantgarden neue, bisher nicht bekannte künstlerische Äußerungen in die Welt gesetzt werden; in gewisser Weise wird sogar behauptet, daß diese neuen Kunstäußerungen eine Vorwegnahme von Entwicklungen darstellten, die, zeitlich versetzt, also irgendwann später, den Gesamtbereich der Künste erfaßten. Zwei Fragen bleiben dabei offen, beziehungsweise zwei Fragen werden nur unbefriedigend beantwortet.

Zum einen: Woher wissen die Avantgardisten, welches die zukünftigen Entwicklungen sein werden? Daß diese Künstler eine extrem ausgeprägte Sensibilität besäßen, mag man ja noch hinnehmen, obwohl diese Sensibilität auch Künstlern zu eigen ist, die sich nicht als Avantgardisten der Kunstentwicklung auszeichnen. Es ist jedoch unbestreitbar, daß vieles, was in seiner Zeit zur Avantgarde gerechnet wurde, auf längere Sicht keine wesentliche Bedeutung gewonnen hat. Mit der Fähigkeit der Avantgardisten, allgemeinen Entwicklungen immer einige Schritte voraus zu sein, verhält es sich ähnlich wie mit der Fähigkeit, Horoskope aufzustellen: Die zahlreichen Voraussagen und falschen Annahmen werden vergessen zugunsten der wenigen allein durch die Zufallswahrscheinlichkeit begründbaren Treffer.

Die zweite bisher generell unbefriedigend beantwortete Frage heißt: Ist es nicht unsinnig, von Avantgarden überhaupt zu reden, wenn erst die Zukunft erweisen soll, welche künstlerischen Experimente oder künstlerischen Setzungshandlungen tatsächlich für sich in Anspruch nehmen können, Avantgarden zu sein, beziehungsweise gewesen zu sein, und welche anderen Experimente und Setzungshandlungen diesen Anspruch auf Avantgardismus folgenlos, also unbegründetermaßen erhoben?

Dem Autor will es deswegen als sinnvoll erscheinen, am Begriff des >NeuenGedanken< auf sehr unterschiedliche Weise ausdrücken kann, richtiger gesagt, daß man auf sehr unterschiedliche Weise mit sprachlichen Vergegenständlichungsformen in Wort und Bild und Stein, in Geste, Mimik und Haltung sich ihm anzunähern versucht, ohne ihn indessen je ganz angemessen entäußern zu können. Andererseits weiß auch jeder aus eigener Erfahrung, daß durch vielfältige experimentelle sprachliche Äußerungen erst Gedanken, Vorstellungen, Wahrnehmungen und Gefühle entstehen können, die man zuvor gar nicht hatte, beziehungsweise von denen man nicht wußte, daß man sie überhaupt haben konnte. Denken und sprachliche Vergegenständlichung sind nie deckungsgleich, aber eben auch nie voneinander unabhängig (von formalisierten Sprachen einiger Wissenschaften abgesehen). Jede sprachliche Vergegenständlichung konfrontiert den Sprechenden mit der überraschenden Neuheit seiner ihm vermeintlich vertrauten und bekannten Gedanken, Vorstellungen, Gefühle und Wahrnehmungen, und der Versuch, vermeintlich ganz gut gewußte Gedanken >auszudrückenfalsche< Ankoppelungen von Zeichen und Bezeichnetem, von Symbolen und Symbolisiertem produzieren. Das können unsere Kommunikationspartner auch. Um so wichtiger wird es für uns, in den kommunikativen Akten herauszufinden, in welchem Verhältnis bei diesen Partnern Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Wahrnehmungen als Inhalte einerseits und die vielfältigen sprachlichen Zeichen als formale Komponenten der Kommunikation andererseits stehen, wobei wir noch zu berücksichtigen haben, daß die jeweiligen Situationen, in denen wir kommunizieren, besondere Bedingungen der Entschlüsselung von Mitteilungen uns aufnötigen.
Auch den anderen Phänomenen der Außenwelt, die nicht menschliche Kommunikationspartner sind, begegnen wir instinktsicher und aus Erfahrung mit der Frage, wie die Erscheinung dieser Phänomene mit ihrem Wesen verkoppelt ist. Beeren gleicher äußerer Erscheinung können in einem Falle giftig, im anderen aber bekömmlich sein. Auch in der >Natur< wird gelogen, zumindest unter dem Gesichtspunkt der Selektionsmechanismen unserer Wahrnehmung und der Funktionsabläufe ihrer Verarbeitung. Wir müssen deshalb herausfinden, welche Koppelung von Erscheinung zum Wesen eines Phänomens, zum Beispiel als dessen chemische Struktur, dieses Phänomen bestimmt, um es beurteilen zu können. Dabei ist immer wieder zu berücksichtigen, daß wir von Natur und Kultur Täuschungen unterliegen, zum Beispiel optischen Täuschungen oder sozialen Vorurteilen; diese Täuschungen und Vorurteile sind aber zur Erhöhung unserer Überlebenschancen unabdingbar.
Für den Ansatz der Ästhetik des Autors ist wesentlich, daß er das Prinzip der Differenz, dem unser naturevolutionär entstandener Weltbildapparat seine Leistungsfähigkeit verdankt, als ästhetische Dimension der Konfrontation des Menschen mit sich selbst, mit anderen Menschen und der übrigen Außenwelt auffaßt. Im wesentlichen entsteht diese ästhetische Dimension also aus der Differenzierung von Denken und Sprechen.

Die ethische Dimension entfaltet sich in der Kommunikation mit anderen Menschen in der Frage; nach welchen Regeln und Sanktionen diese Menschen die An- und Abkoppelung von Zeichen und Bezeichnetem, Form und Inhalt, Denken und Tun aufbauen beziehungsweise auflösen.

Die epistemologische Dimension der Konfrontation der Menschen mit sich selbst, mit anderen Menschen und der übrigen Außenwelt wird in der Frage deutlich, welche Zuordnungen von Wesen und Erscheinung überhaupt natürlich und kulturell entwickelt worden sind, in welcher Weise man mit ihnen >rechnen< muß und kann.

Wer hinter dieser Trias von ästhetischer, ethischer und epistemologischer Dimension die ihm vertraute Einheit des Guten, Wahren und Schönen im platonischen Sinne erkennen möchte, wird sich fragen, wie denn aus der hier akzeptierten Begründung des Ästhetischen als Differenz von Sprechen und Denken so etwas wie das Schöne als angestammte Orientierungsgröße ästhetischer Operationen ins Spiel kommen könnte. Das Schöne wäre in diesem Ansatz zu bestimmen als eine durch je wechselnde Konventionen regulierte Zuordnung von Inhalt und Form, von Gedanken und sprachlichen Vergegenständlichungen. Das gilt für das Kunstschöne. Für das Naturschöne, dessen Gegebenheit ja häufig bestritten wird, gilt ähnliches, nur werden dabei die Regeln der als Schön ausgezeichneten Zuordnungen von Wesen und Erscheinung uns durch unseren Weltbildapparat aufgenötigt. Das besagen jedenfalls die Annahme einer Taxophilie des Menschen und die nachweisbaren Dominanzen bestimmter Ordnungsgefüge (oben/unten, rechts/links, Symmetriebildung und ähnliches).

Der Autor faßt die Zuordnungen in An- und Abkoppelungen von Gedanken und sprachlichen Vergegenständlichungen als Bedeutungen. Für den Distinktionismus gilt also, daß Bedeutungen für Menschen nur durch Unterscheiden entstehen können. Alle Konfrontationen mit uns selbst, mit anderen Menschen und der übrigen Außenwelt werden nur bedeutsam durch den Prozeß der Distinktion. Die einzelnen menschlichen Arbeitsfelder unterscheiden sich dadurch, daß sie nach je anderen Kriterien die Distinktion leisten. So ist die Teilnahme und die analysierende Wertung desselben kommunikativen Aktes je anders, wenn man nach je verschiedenen Kriterien unterscheidet und diese Distinktionen in je andere Ordnungsgefüge einbringt. Ein und dasselbe Stück Wiese wird von einem Botaniker und einem Liebhaber von Blumenstilleben je unterschiedlich beschrieben und erlebt, obwohl beide von dem natürlichen menschlichen Distinktionismus und der Taxophilie in ihrem Erleben und Handeln geprägt sind.

Gerade im Kunstbereich erfährt man immer wieder, daß selbst wohlmeinend Interessierte nicht bereit sind, die Kriterien, nach denen zum Beispiel monochrome Maler Farbphänomene unterscheiden und damit Bedeutungen aufbauen, zu akzeptieren. Es könnte ja aber auch kein Botaniker den Liebhaber von Blumenstilleben zwingen, nach den Kriterien des Botanikers die Pflanzen und Gräser zu unterscheiden und ihnen damit Bedeutung zukommen zu lassen. Nur wenn man Botaniker ist, haben dessen Kriterien der Distinktion und seine Ordnungsgefüge einen akzeptablen Sinn; das gilt auch für den Kunstbereich, jenseits dessen es keine Autorität gibt, die über Sinn oder Unsinn von Unterscheidungskriterien und Ordnungsgefügen verbindlich für alle Mitglieder einer Kultur Festlegungen zu treffen vermöchte. Es bleibt jedermann überlassen, für sich nur die ihm sinnvoll erscheinenden Unterscheidungskriterien und damit Bedeutungen sowie die entsprechenden Ordnungsgefüge (zum Beispiel als Auffassung von dem, was die Kunst zu leisten hätte), gelten zu lassen. Er wird damit allerdings sich gerade um die Bedeutungsstiftungen bringen, zu denen er selber nicht fähig ist und die ihn deshalb besonders interessieren sollten.

Auf drei Schlußfolgerungen aus dem Konzept des Distinktionismus sollte besonders hingewiesen werden; sie sind für den Aufbau einer Ästhetik aus der Differenz, wie sie in dieser Edition durch Einzelbeiträge des Autors repräsentiert wird, zentral.

5. Ruinöse Werkcharaktere

Herkömmlich gilt es als besonderes Qualitätskriterium künstlerischer Hervorbringungen, wenn in ihnen Form und Inhalt, Gedanken und sprachliche Vergegenständlichungen einander weitgehend entsprechen. Vollkommenheit wird Werken attestiert, die eine besondere Art von Sinnfälligkeit oder Evidenz erreichen durch optimale Entsprechung von Inhalt und Form. Man geht gleichsam von einer Optimierungsstrategie künstlerischen Arbeitens aus, derzufolge es gelte, die vollkommenste Übereinstimmung von Inhalt und Form, von Gedanke und sprachlicher Vergegenständlichung zu erreichen. Für derartige Vollkommenheit ihrer Werke müssen Künstler allerdings in Kauf nehmen, daß der Einstieg des Betrachters in das Werk (in seiner vollkommenen Geschlossenheit) erschwert wird; ja, solche Werke verlieren weitgehend ihre Attraktivität für den Rezipienten, weil seine Arbeit bestenfalls in einem tautologischen Nachvollzug der Arbeit des Künstlers bestehen kann.

Die Geschichte der modernen Kunst scheint zu beweisen, daß von den in diesem Sinne nicht vollkommenen Werken größere Wirkung ausgeht. Alle immer wieder vorgetragenen Einwände gegen solche Werke, sie hätten die klassische Forderung nach weitestgehender Übereinstimmung von Inhalt und Form nicht erreicht, sind ergebnislos geblieben. Es scheint so zu sein, daß man mit den nach den klassischen Kriterien »schlechten« Werken mehr anzufangen und aus ihnen mehr zu lernen vermag. Es hat sich aber auch gezeigt, daß man aus den schlecht gemachten, unvollkommenen nicht lernen sollte, wie man sie denn besser und vollkommener machen könne. Die Begründung für die Wirksamkeit des im klassischen Sinne unvollkommenen Werkes liegt offensichtlich darin, daß diese Werke durch ihr betontes Beharren auf der ohnehin niemals vollständig aufhebbaren Differenz von Inhalt und Form, von Gedanke und sprachlicher Vergegenständlichung der natürlichen Funktionsweise unseres Weltbildapparates und seiner Leistungsfähigkeit entgegenkommen und deshalb durch ihre auffällige und abweichende Form intensiver zur Entfaltung der an sie koppelbaren Inhalte führen. Je vielfältiger die in solchen Werken unübersehbare Differenzierung von gedanklichen Konzepten und sprachlicher Form ist, desto intensiver gelingt ihnen die Thematisierung der ästhetischen Dimension.

Der Autor beschreibt solche Werkcharaktere als >RuinenRuine< hier eine besondere Form des Unvollendeten, Bruchstückhaften gemeint. Es ist die intendierte Ruine, die gewollte Abweichung von Inhalt und Form. Im 18. Jahrhundert hat man solche Werkcharaktere aus ganz neuem Material in die Englischen Parks gebaut und dabei eben nicht in erster Linie bloß Ruinen als Überbleibsel eines ehemalig Vollkommenen, Ganzen einer antiken Kunst und Architektur räumlich und zeitlich versetzen wollen. Man hatte inzwischen verstanden, daß diese gewollten Ruinencharaktere die gedankliche Spekulation und ideeierende Vorstellung in höherem Maße stimulieren, als es jede restaurierende Wiederherstellung der ursprünglichen Vollkommenheit jener Werke, die nur noch in Fragmenten überliefert waren, hätte erreichen können.

Etwa in diesem Sinne verfährt der Künstler der Moderne, um die potentielle Wirksamkeit seiner Werke zu erhöhen. Die durch das Unvollkommene, Fragmentarische und Kaputte stimulierte Arbeit des Denkens und der Vorstellung, ein Ganzes noch denken und vorstellen zu können, geht weit über das hinaus, was tatsächlichen Versuchen, ein solches Ganzes und Vollkommenes auch formal hervorzubringen, noch möglich ist, es sei denn um den Preis langweiliger Plattitüden oder tautologischer Formalismen nach dem Muster »eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«; »ein Ganzes ist ein Vollkommenes, ein Vollkommenes ist ein Ganzes«.

Die verbreitete Auffassung von den Kriterien eines vollkommenen Werkes, an ihm keines seiner Elemente wegnehmen oder andere hinzufügen zu können, erweist sich im konkreten Einzelfall regelmäßig als eine Fiktion; die Künstler wissen am besten, daß sie durchaus auch ganz anders hätten verfahren können, welche Willkürlichkeiten und Zufälle in das einzelne Werk zwangsläufig immer eingehen; sie wissen vor allem, daß sie von vielen Aspekten ihrer Werke selber nichts wissen; deswegen fahren sie fort, andere Werke zu schaffen, anstatt sich damit zu begnügen, das eine, nun einmal in Angriff genommene Werk bis zur höchsten Vollkommenheit voranzutreiben.

Der Autor geht also davon aus, daß diejenigen Werke der Moderne, die die ästhetischen Dimensionen als Vermittlung von Inhalt und Form, von Denken und Sprechen am wirksamsten entfalten, jene sind, die von vornherein als Ruinen in dem eben angedeuteten Sinne konzipiert werden.

6. Die Logik der Dummheit

Wohin die für >klassisch< gehaltene Programmatik einer möglichst großen Identität von Gedanke und sprachlicher Vergegenständlichung führt, belegt die Normalwissenschaft leider genauso alltäglich wie die Psychopathologie des gesunden Menschenverstandes. Wenn etwa Wissenschaftler glauben, daß ihren gedanklichen Konzepten sprachliche Vergegenständlichungen als angewandte Technik einhundertprozentig zu entsprechen vermögen, dann führt das zu ungerechtfertigtem Vertrauen in die Tragfähigkeit solcher Konstruktionen, das wir bald schon bitter zu bereuen haben werden.

Wenn der pathologisch gesunde Menschenverstand meint, daß man politische Programmatiken und Konzepte einer wünschenswerten Gesellschaft durch einhundertprozentige Verwirklichung in die Lebensrealität umzusetzen habe, dann führt das zu Katastrophen, für die gerade die jüngste deutsche Geschichte horrende Beispiele bietet.
Alltäglich bieten die Zeitungen beredte Beispiele für die Logik der Dummheit auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens. Wüßte man mit Bestimmtheit, daß alle bewußt lügen, wenn sie ihre Aufrüstung zur >Nachrüstung< werden lassen, die Nachrüstung des Gegners aber als Aufrüstung geißeln, dann brauchte man dergleichen nur als propagandistische Manipulation zu enthüllen; das versuchte ja im wesentlichen bisher die Aufklärung zu erreichen. Daß aber die vielbeklagte Verdummung durch Propaganda überhaupt derartig erfolgreich sein kann, liegt nicht an der Macht der Lüge, die als solche ja ohne weiteres zu akzeptieren wäre. Die Aufklärung hatte es bisher nur mit der Dummheit positivistischer Logiken zu tun, die sich daraus ergab, daß solche partiellen Logiken sich stets auf ihre Axiome zurückziehen und sich nur insofern aufrechterhalten können, als sie jeden Anspruch von außen unter Hinweis auf ihre Axiome abwehren. Daß diese Logiken sich als bloße tautologische Entfaltung ihrer Axiome verstehen lassen, macht ihre Dummheit aus.

Der Autor meint jedoch, daß es nicht ausreichen kann, die Dummheit der Partiallogiken zu enthüllen, es gilt vielmehr, die eigenständige Logik der Dummheit zu erkennen. Dazu haben einerseits George Orwell mit seiner Darstellung von >Neusprech< und >Neudenk< und andererseits Watzlawick mit der Theorie des >doublebind< hervorragende Beiträge geliefert. Desgleichen versuchte etwa Carnap, den Gedankenfallen und dem Sprachformalismus zu entgehen, indem er strikte Abkoppelungen herkömmlicher Zuordnungen von Anschauung und Begriff empfahl. Aber diese Kraftanstrengungen (wie auch die eines Wittgenstein), dem > Denkkrampf< und der >Vorstellungsmagie< zu entgehen, haben kaum Eingang in die allgemeine Erörterung des Problems gefunden. Begriffsgläubigkeit und Beziehungswahn grassieren nach wie vor.

7. Strategie der negativen Affirmation

Das probate Mittel, welches der Autor in dieser Situation glaubt empfehlen zu können, bezeichnet er als Strategie der negativen Affirmation. Dabei hat er fatalerweise gegen die eingebürgerte Auffassung zu kämpfen, unter Affirmation nichts als simple Bejahung zu verstehen. Affirmation ist aber Negation der Negation. Der Begriff der negativen Affirmation soll besagen, daß es bei der ausdrücklichen Bejahung eines Aussagenanspruchs nicht darum gehen soll, ihn auch zu akzeptieren - gar als Feststellung der Wahrheit; sondern es geht darum, durch vorbehaltlose Bejahung die Konsequenzen des Aussagenanspruchs in aller Radikalität herauszustellen und diesen Aussagenanspruch aus sich selbst heraus aufzulösen. Mit Ideologien, den aus tautologischen Partiallogiken abgeleiteten Behauptungen über das Verhältnis von Denken und Tun, wird man kaum fertig, wenn man ihre selbstverschuldete Problemblindheit aufdeckt. Hingegen bestehen bessere Aussichten, die Ideologien in ihrem Geltungsanspruch zu beschränken, wenn man sie zur gleichsam einhundertundfünfzigprozentigen Erfüllung ihres Geltungsanspruchs anstachelt, womit sie sich, wie wir aus der Geschichte lernen können, am schnellsten selber auflösen. Derartige selbstzerstörerische >Übertreibungen< liegen im Wesen von Ideologien als >logisch stringent< behaupteten Wahrheitsansprüchen. Zu diesen Übertreibungen will die negative Affirmation totalitäre Wahrheitsansprüche verführen. Francis Bacon meint in diesem Sinne >natura non nisi parendo vincetur