Buch Pop & Kommunikation, Jahrbuch 1999/2000

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Das Buch bietet auf über 300 farbigen Seiten aktuelle Fragen und umfassende Antworten zum Thema Popkultur und Musikindustrie in Deutschland:

Chancen und Risiken der Musikindustrie im Zeichen der Krise
Staatsminister Dr. Michael Naumann im Dialog mit der Musikindustrie
Wiederentdeckung des Swing und eine Begegnung mit Coco Schumann
Trends auf dem Prüfstand: HipHop und Dancefloor, Heavy Metal und Rock'n'Roll
Medienanthropologe Bazon Brock über Pop und Maximalstreßkooperation
Verrückte Zeiten: Musiker gründen Labels, Independents gehen an die Börse
… und ein neues Förderprojekt: "Schule braucht Musik"

Zahlreiche Image-Profile bieten außerdem ausführliche Hintergrundinformationen: Wer und Was steckt hinter der Adresse? Was bietet das große Firmenspektrum des Musikmarktes? Welche Companies und Individualisten brechen mit ihren Konzepten und Ideen an der Peripherie eines immer größer werdenden Marktes auf?

Erschienen
01.01.2000

Herausgeber
Gorny, Dieter | Stark, Jürgen

Verlag
Econ

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3430149959

Umfang
304 Seiten

Einband
Gebundene Ausgabe

Musik ist das unmittelbarste Medium zur Erzeugung von Maximalstreßkooperation

Lokaltermin im Konferenzraum des Fernsehsenders VIVA. Am 9. April 1999 trafen sich die Jahrbuchherausgeber Dieter Gorny und Jürgen Stark sowie Art Director Jan Koemmet zur Gesprächsrunde mit dem Medienanthropologen Bazon Brock. Den Leser dieses zweiten Jahrbuchs erwartet daher nun eine Rundreise durch Themen im Zeichen der Postmoderne. Ein ungewöhnlicher, aber angemessener Einstieg in die magischen Jahreszahlen 1999/2000.

Willkommen im Club (Part II) …!

Jürgen Stark:
Pop war immer eine. vorwärts gewandte, stark individualistische kulturelle Ausdrucksform. Doch jetzt, im Zeitalter der Marsflüge, bemannter Raumstationen, MP3 und Internet hat die Zukunft längst begonnen, Science-fiction ist Realität. Wird Popkultur daher zukünftig beliebiger werden, mehr zum jugendbewegten Alltagsreflex mutieren, künstlerisch wertvoll oder auch nicht?

Bazon Brock:
Pop ist die Avantgarde der Kommunikation in einer Welt, die man nicht zu verstehen braucht. Das heißt, sie hat deswegen einen so ungeheuren Drive in den letzten 30 Jahren gehabt, weil sie instinktiv begriff, was die Neurophysiologen, die Anthropologen, die Philosophen erst langsam nacharbeiten, nämlich daß Menschen sich primär in einer Welt bewegen müssen, die sie nicht verstehen können.

Jan Koemmet:
Unverständnis oder bewußtes Nichtverstehen-Wollen?

Bazon Brock:
Das heißt, daß wir nicht erst die Welt erklären und verstehen müssen, um zu handeln, denn das wäre tödlich. Wenn wir einen Raum nur betreten könnten, nachdem wir verstanden haben, was Elektrizität ist, dann ständen wir in 2000 Jahren immer noch vor der Tür. Je mehr jeder von der Elektrizität verstünde, desto länger würde die Diskussion dauern, was Elektrizität sei. Die Natur hat das System der "Kommunikation" erfunden und darin liegt auch der große Gegensatz zwischen massenkommunikativer Popwelt und der High-Culture von Philosophie und Wissenschaften begründet. Die Avantgarde der Kommunikation war stets diejenige Lebensäußerung, in der man von vornherein nicht auf das Verstehen der Welt fixiert war, sondern sagte: "Wir müssen kommunizieren, weil wir uns nicht verstehen können", während die High-Culture-Wissenschaften immer versuchten, Plan und Zeiten zu analysieren: Was ist das Sein? Gibt es das Nichts? Warum gibt es überhaupt etwas? Wie ist diese Welt aus kleinsten Atomen aufgebaut?

Jürgen Stark:
Nun gehört die Erfolgsstory der modernen Wissenschaften aber untrennbar zum Zeitalter der Aufklärung hinzu.

Bazon Brock:
Und dann stellt sich heraus, daß das Atom doch nicht das kleinste Element ist, sondern sich wiederum unterteilt, während die Soziologen behaupten, die letzte humane Einheit sei das Individuum. Und dann stellt sich auch in deren Feld heraus, daß das Individuum durchaus teilbar ist, daß es ein Dividuum und nicht nur ein Individuum gibt, daß der Mensch eine Zusammensetzung aus vielen patchwork identities ist. Wenn die Menschheit Wissenschaftlern und Philosophen immer gefolgt wäre, hätte sie nicht einmal die erste halbe Sekunde irdischen Lebens überstanden.

Jürgen Stark:
"Trial-and-error" lautet ein anderer Erklärungsversuch für unsere Fortbewegung durch Raum und Zeit. Die Popkultur übersetzt dieses eher naiv mit "Learning by doing", denn der Weg zur Musik folgt keinen geraden Linien, schon gar nicht im Sinne einer Ausbildung.

Bazon Brock:
Deshalb ist jede Popkommunikation den Denkgebäuden der Wissenschaftler haushoch überlegen. Denken Sie an die Börse. Da sagt man, alles dort sei ein sozialpsychologisches Problem, das nun alle Analysten verstanden hätten. Wenn sie wirklich verstanden hätten, wie Sozialpsychologie funktioniert, müßten sie pausenlos Treffer an der Börse landen. Das Gegenteil ist aber der Fall, alles dort ist mehr oder weniger ein Nullsummenspiel. Also, was bedeutet es, wohin gelangt man, wenn man angeblich verstanden hat, wie es läuft? Nirgendwohin!

Jan Koemmet:
"Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran", sangen Fehlfarben vor Jahren. Die Dinge entwickeln sich in immer schnellerer Abfolge, die Popkultur wirkt als Katalysator einer gesamten Gesellschaftsentwicklung. Und jeder kann mitmachen. Jeder kann Popstar und aktiver Teilnehmer eines historischen Prozesses sein.

Jürgen Stark:
Nimmt man den Dancefloor, dann könnte man sogar nach der These von Bazon Brock sagen:
Man muß immer weniger wissen, um immer mehr zu verstehen. Die Computerisierung ermöglicht den Zugriff des Individuums auf das größte Schallarchiv aller Zeiten, Noten- und Instrumentenkenntnisse sind dabei aber überflüssig geworden - Ergebnis: Ohne jede Ahnung von Musiktheorie heben die Atari-Kids ab und landen in den Charts.

Bazon Brock:
Die Popszene weiß außerdem, daß Scheitern eine Chance ist, nicht nur im Hinblick auf die vielen Helden und Anführer der Szenen, die sich selbst als Objekt in die Sphäre des Scheiterns brachten: durch Exzesse, Alkohol und harte Drogen.

Jürgen Stark:
Durch schlechte Verträge.

Bazon Brock:
Auch durch schlechte Verträge und sonstigen Leichtsinn. Der gewöhnlich-triviale Popbegriff wird in Mainstream-Massenmedien mit "Tralala" übersetzt, während es in der Popszene wirklich um die harten sozialen Felsen geht, um die harte Basis ursprünglicher Kommunikation. Wenn Pop auf VIVA läuft, sieht es so aus, als sei es eine Art von oberflächlicher Abbildung eines informellen Geschehens. Aber gerade darin ist es wirklich die Realität. Wir können an einem solchen Sender die kommunikative, meinetwegen auch sozialpsychologische Realität viel besser studieren als in jedem FAZ-Magazinbeitrag oder in den Politmagazinen von ZDF und ARD.

Jürgen Stark:
Warum?

Bazon Brock:
Weil die Künstler, die mit anderen kommunizieren, aber weder sich noch die Welt verstehen können und auch nicht müssen, einen Realitätsfokus haben: das potentielle Scheitern! Sie verfügen über Grenzerfahrungen im Sinne von: Die Realität ist nur da, wo das Ganze scheitern kann, also wirtschaftlich, familiär, persönlich, karrieremäßig, mit einer Band, wie auch immer. Die wirklich wichtigen Pop- und Rockbands sind diejenigen, die diese Erfahrung der Wirklichkeit als Chance des Scheiterns thematisieren. Schauen Sie sich mal die Texte der wichtigsten Hits der letzten 30 Jahre an. Wenn man die transkribiert und liest, dann verdichtet sich alles rund um dieses eine Thema.

Jan Koemmet:
Christoph Schlingensief hat mit seiner Kampagne "Scheitern als Chance" den Eingriff in die Bundestagswahl probiert. Auch das wurde als Popprojekt verstanden.

Bazon Brock:
Welch ein phantastisches Popereignis! 40.000 Mann springen in den Wolfgangsee, erhöhen den Wasserspiegel und Exkanzler Kohl kriegt nasse Füße. Das ist ein geniales Bild. Das sage ich nicht nur, weil Schlingensief einer meiner Studenten war oder weil wir mit dem schon als Schüler Filme in Mühlheim gemacht haben. Leute wie Schlingensief haben es kapiert und arbeiten mit den Erfahrungen der letzten 30 Jahre.

Jürgen Stark:
Jetzt vermischen wir Definitionen des Begriffes Pop mit praktischen Ratschlägen für den künstlerischen Hausgebrauch. Von welcher Popkultur sprechen wir?

Bazon Brock:
Popkultur ist in der Welt aktiv, ohne erst ein philosophisches, spekulatives oder sonstiges Primat auszubilden. Kommunikation ist möglich ohne Verstehen, also ohne ein Verstehen als faktisch-strategisches Kalkül. Das bedeutet, daß die Wissenschaft und auch die Politik auf Popkommunikation getrimmt werden. Das empfindet das Feuilleton natürlich als Niedergang, wir aber empfinden es als Korrektur an der Realität. Politik und Wirtschaft werden der Popkommunikation unterworfen, was nicht nur in den Neugründungen von spekulativen Jungfirmen sichtbar wird - das Börsengeschehen ist die Popszene schlechthin!

Jürgen Stark:
Das Feuilleton und sein Zwilling, die etablierte Hochkultur, fürchten die populäre Postmoderne gemeinsam.

Bazon Brock:
Die gesamte Kulturbranche mit ihren Staatstheatern und Opernhäusern versucht mühsam, den Anschluß noch zu finden, gibt dies aber nicht zu. Dabei wird es in Zukunft nur noch eine Möglichkeit der Orientierung geben, nämlich wirklich frei zu kommunizieren und nicht Vorgaben im Hinblick auf alte Erkenntnisse und ein vorgeformtes Verständnis der Welt zu reproduzieren.

Dieter Gorny:
So weit entfernt sich das jetzt in der Diskussion für einen typischen Jahrbuchkonsumenten anhören mag, weil man ja hier den zentralen Faktor "Musik" vermissen könnte, sosehr stimme ich dem zu. Pop ist nicht mehr unbedingte Avantgarde, aber der Definition von avantgardistischer Kommunikation schließe ich mich an. Deshalb sage ich immer: "Alles ist Pop, alles wird Pop." Auch der Hinweis auf die Börse ist interessant, denn wir erleben tatsächlich nicht mehr die klassisch-altbackene forschungs-, sicherheits- und faktengestützte Art von Kommunikation. Alles ist Pop und wird bzw. ist bereits hochgradig virtuell. 

Bazon Brock:
Da könnten wir es ja wieder vermeiden. Nennen wir es: wirklich real.

Dieter Gorny:
Okay, hochgradig real, weil auch mit Versatzstücken gearbeitet wird. Vieles von dem, was den Kern von Popkultur ausmacht, lebt aber in Welten, ob sie nun visuell oder auditiv sind, die zwar Realität - wie jede Kunst - reflektieren, aber doch auf eine sehr spezielle Art und Weise zum Konsum einladen. Es gibt keine Ergebniserwartung, die Welt muß nicht verstanden werden, geschweige denn, daß Verstehen eine Zugangsvoraussetzung für popkulturelle Kommunikation wäre.

Bazon Brock:
Musik können Sie nicht verstehen, Musik können Sie nur machen oder hören.

Dieter Gorny:
Wir haben gelernt, Musik sehr rational zu begreifen, also anti- musikalisch. Bei der Rezeption von Musik sind wir im Sinne einer theoretischen Findungsmission darauf gedrillt, Sinnstiftung neben, zwischen, oberhalb oder unterhalb der Töne als grundsätzlichen Qualitätsmaßstab zu setzen. Daher haben wir auch ungeheure Probleme, bei der Rezeption sogenannter tradierter Kunstmusik zu erkennen, daß sie ohne tiefes Verstehen funktioniert, was man der Popmusik, die genauso funktioniert, gerne zwecks Ablehnung vorhält. Gerade das Feuilleton meint, gute Gründe für eine Ablehnung zu haben, dabei fürchtet es sich nur vor der eigenen Irrationalität und vor dem Verlust der saturierten Kulturordnung.

Jürgen Stark:
Bei aller Sympathie für die Postmoderne: Was wäre Sinnstiftung ohne Botschaft? Ich sehe den Rückgriff auf Erkenntnisse, ob durch Schlingensief oder andere, in einem Zeitraum von 50 Jahren. Gerade die fünfziger Jahre waren ein wichtiges Ursprungsjahrzehnt für das, was wir heute Popkultur nennen. Rock ist heute eine Stilvariante dessen, was man Pop nennt, aber eigentlich als Urzustand noch Rock'n'Roll hieß. Ein Urzustand insofern, als es in seiner Roheit nicht zu übertreffen war. Dort hat man die ersten Gedanken gehabt, die ersten Experimente gemacht, neue individualkulturelle Ausdrucksformen ausgelebt.

Bazon Brock:
Auf der gleichen Basis, nämlich einer in Massen erlebten und erprobten Streßkooperation.

Jürgen Stark:
Es hat aber zu Botschaften geführt.

Bazon Brock:
Die Botschaft war, Kommunikation unter Einwirkung maximaler Streßkooperationen zu ermöglichen. Eine Rockband überträgt dieses viel stärker, als wenn da Leute steif in ihren Logen sitzen und vor ihnen brav auf Stühlen gefiedelt wird. Das physische Ausagieren der Rockmusiker und das Toben auf der Bühne war ein Bemühen für Maximalstreßkooperation. Und dazu gehört alles, von der instrumentellen Sound-Erzeugung bis zur Aktivierung der Resonanzkörper wie Fußboden, Stühle oder Gerätschaften, die man zufällig gerade auf der Bühne hatte.

Jürgen Stark:
Dazu gehörte in der Frühzeit auch die Ablösung von Konventionen neben dem Versuch, gegen das Establishment zu sein, sich anders zu orientieren und die Politik neu zu entdecken.

Dieter Garny:
Jetzt, weil es historisch ist, wird die altersbezogene Ausrichtung dieses Phänomens langsam entblättert. Am Ende stößt man dabei auf ein Kommunikationsphänomen, welches bestimmte Attribute der Jugendlichkeit transportiert, ohne dabei selbst zwingend jung sein zu müssen. Die Geschichte, die in den Fünfzigern begann, vernebelt manchmal die Grundsätzlichkeit des Phänomens, weil man das Wachstum miterlebt hat. Jetzt aber rückwirkend darauf zu schließen, daß es damals archaisch und klar war und jetzt verwässert wird, das ist verkehrtherum interpretiert.

Bazon Brock:
Das sehe ich auch so. Ein junger Mensch ist eher bereit, sich auf etwas einzulassen, was er nicht versteht und nicht überschauen kann. Risikobereitschaft und Kooperationen unter Maximalstreß sind natürlich für jemanden, der über seinen Körper noch gut verfügen kann, sehr viel leichter als für jemand, der bereits mit Holzbein, Hörrohr oder Brille dasitzt.

Jürgen Stark:
Durch den Zeitverlauf von fünf Jahrzehnten geschah eine Mythologisierung und Mystifizierung des Pop, seiner Helden und ihrer Epigonen geradezu zwangsläufig. Gerade Pionierleistungen schaffen den Raum für kultische Verehrung und Verklärung. Heute ist alles durchgesetzt, heute ist es die Schwierigkeit, sich abzusetzen, heute haben wir die Übungsräume voll.

Dieter Gorny:
Warum muß sich gesellschaftliche Kommunikation Sinn und Ziele darin suchen, sich abzusetzen oder sich zu isolieren? Ich glaube, man kommt mit dieser archaischen Betrachtung von Rock und Pop nicht weiter. Es gibt keinen originären Unterschied zwischen „Lucy in the Sky with Diamonds" von den Beatles und dieser tonika-subdominant-orientierten Bluesmusik der Rolling Stones. Es ist das gleiche Phänomen, lediglich durch des Künstlers jeweilige soziodemographische Erfahrung anders interpretiert und kommuniziert. Das heißt also, wie dieses Phänomen seine Faszination entfaltet und Massen erreicht, ist sekundär für das Phänomen selber. Wir dürfen die Musik nicht vergessen, aber es geht um viel mehr als Musik, was mich an den Satz von Diedrich Diederichsen über den Irrglauben, Popmusik habe etwas mit Musik zu tun, erinnert. Wenn ich Pop nur als musikalisches Phänomen sehe, dann isoliere ich Pop.

Jürgen Stark:
Aber Streßkommunikation lebt vom Kick und braucht Reibungsfläche. Und das wird in der archaischen Situation, in der Neuland entdeckt wird, stärker erlebt. Wir können es in unserer Sci-fi-Moderne doch gut beobachten. Als der erste Mensch den Mond betrat, waren die Straßen auf der ganzen Welt leer, alles drängte sich vor Fernsehern und Radioapparaten - die Menschheit betrat das Universum und verließ erstmals den bisherigen terrestrischen Siedlungsraum. Das wollte unbedingt jeder miterleben. Heute wird ganz lapidar in Fachzeitschriften die Errichtung von Hotels auf dem Mond erörtert, haben die Japaner schon Bau- und Finanzierungspläne, werden neue Prototypen von Raumfahrzeugen für einen interstellaren Massentourismus erprobt - und keiner staunt noch atemlos. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Rolling Stones ihr erstes "Viva La Luna Concert" im Rahmen einer Pressekonferenz in einem amerikanischen Space Shuttle bekanntgeben. Das dürfte wiederum Dr. Motte kontern und zur ultimativen "Moon Parade" in Raumanzügen auf dem Mond aufrufen Science-fiction ist heute trivialer denn je, Wirklichkeit und Fantasy verschwimmen zu einer neuen Einheit, da wird es doch immer schwieriger für den ultimativen Kick.

Dieter Gorny:
Vielleicht sollte man den Zeitrahmen erweitern, denn die Fixierung auf 50 Jahre verführt zu einer Bilanz der Superlative, was wiederum die Frage nach dem schrillsten Kick aufwirft, dabei aber das Phänomen der Streßkooperation nicht entscheidend würdigt.

Bazon Brock:
Im 19. Jahrhundert gab es nur für ein bestimmtes Publikum die Erfahrung der maximalen Streßkooperation auf den wenigen exklusiven Bühnen, nämlich der Wagnerbühne, dem Staatstheater und bei der Nationalfeier zur Enthüllung eines Denkmals oder zur Feier des Triumphtages von Sedan. Das war alles.

Jan Koemmet:
Klar, dann reden wir mal nicht über 50 Jahre, sondern über Shakespeare-Pop, über Hölderlin-Pop - dann reden wir mal über Popkultur als Prozeß der Menschheitsentwicklung.

Bazon Brock:
Pop charakterisiert eine grundsätzliche Vorgabe für die Kommunikation aller Menschen. Man kommuniziert in einer Welt, die man nicht zu verstehen braucht, im übrigen gar nicht verstehen kann, wo alle anderen mit langen Handschuhen und ausgestreckten Pfoten sagen: "Vorsicht, Vorsicht, das müssen wir erst mal verstehen, was geht da vor sich?" Daneben stürzen sich junge Leute ohne Umwegüberlegungen ins Geschehen. Musik ist dabei seit Urzeiten das Leitmedium zur Erzeugung von Maximalstreßkooperation. Deshalb gibt es Hymnen, große Schlachtengesänge, Arbeiter1ieder, aiso die Strukturierung rhythmischer Bewegungen, um damit große Baumstämme zu bewegen, um im Gleichschritt in den Krieg zu marschieren, um schwere Brocken klein zu machen oder um einen Damm zu errichten. Es geht also auch um die Rhythmisierung von Arbeitsprozessen durch Gesang, was voraussetzt, daß Musik immer schon als das unmittelbarste Medium zur Erzeugung von Maximalstreßkooperation erkannt wurde.

Dieter Gorny:
Eine historische Zäsur muß schon in die Betrachtungen einbezogen werden. Dieses Phänomen, von dem wir sprechen, bekommt seine Dynamik durch das Phänomen Technologie. Erst das globale Dorf, das Aufheben von Grenzen über das Mittel Kommunikation, läßt es wirklich grotesk und schwammig wirken, da heben sich Konturen auf und Beliebigkeit strömt herein.

Bazon Brock:
Nein, jetzt nehmen nur fast alle gleichzeitig Lebenden an der Maximalstreßkooperation teil, während das in früheren Zeiten nicht möglich war. Durch die Entfaltung der Produktions- und Reproduktionsmöglichkeiten ist jetzt jeder gefordert, am Tag mehrfach mit anderen in musikstimulierte Maximalstreßkooperation einzutreten, und sei es, daß er sich hinsetzt und weint oder sein Schicksal beklagt.

Jürgen Stark:
Da sage ich mir jetzt, Achtung!, jetzt soll und muß man sich beteiligen, was nach Zwangskollektivierung klingt. Kann man sich dem Phänomen Pop denn überhaupt noch entziehen?

Bazon Brock:
Kann man nicht. In dieser Welt kannst du dich der Kommunikation nicht entziehen, weil du pausenlos in einer Welt stehst, die du immer weniger verstehst. Ein Mann vor 100 Jahren konnte sich einbilden, er verstünde, wie ein Wagen mit vier Rädern und einem Pferd davor auf einem Weg durch einen Wald funktioniert. Heute kann doch niemand mehr, nicht mal das größte Genie, auch nur einen Teilbereich seiner Alltagswelt noch erklären. Wie soll ich die Elektrizität und die Funktion des Lüfters in einem fensterlosen Konferenzraum bis hin zum Beschichten von Chips erklären, geschweige denn ein ganzes verkabeltes und vernetztes siebenstöckiges Bürogebäude?!

Jürgen Stark:
Wenn man nun mitmachen muß und ohnehin dabei ist, müßte man dann nicht von der Grundschule an Unterrichtseinheiten haben, welche die Navigation erleichtern?

Bazon Brock:
Das ist die alte Frage, kann man das optimieren oder nicht? Und Erziehen hieße dann in einer bestimmten Hinsicht optimieren. Wie macht man das? Die Antwort heißt: Das kann man nicht durch Lenkung optimieren. Es kann kein Zentralpädagoge, kein Oberfeldherr, kein Geschmacksdiktator und kein Chef der semantischen Polizei dagegen etwas ausrichten. Die Optimierung besteht darin, daß jeder sich in möglichst viele kommunikative Beziehungen einbringt, sich vernetzt und damit in Maximalstreßkooperationen eintreten und damit das Leben optimieren kann.

Dieter Gorny:
Das kann die Schule zwar nicht mehr ignorieren, aber dadurch erleben wir diesen Bruch, denn in der Schule kann eben nicht navigiert werden, denn was dort als "das ist so" musikalischerseits transportiert wird, war so, ist aber nicht mehr so.

Jürgen Stark:
Bei Navigation denke ich eigentlich mehr an die konkrete Ausgangssituation. Pop steht auf zwei Säulen: Medien und Musik. Bei den Medien spricht man schon länger vom Informationsoverkill und bei den Plattenfirmen von der Veröffentlichungsflut. Beides läßt den Schluß zu, daß man Navigation braucht, um durch alles hindurch zu kommen. Die Musikindustrie diskutiert dieses schon länger, nämlich: wie kommt der potentielle Kunde überhaupt noch in seiner Altersgruppe an das für ihn relevante Produkt?

Bazon Brock:
Unser Organismus hat ein natürliches Regulativ, das sogenannte Limbische Regulativ. Das liegt im Zwischenhirn und sagt: „Diesen Keks jetzt zu essen, macht Lust“, also stimuliert es die weitere Vereinnahmung von Keksen. Und dann sagt es nach dem dreiunddreißigsten Keks: „Jetzt nicht mehr“, und wenn ich dann noch einen Keks esse, kotze ich. Das Limbische Regulativ organisiert den Übergang zwischen stimulierender Lust auf eine Reizquelle und der Abkehr von dieser. Wenn es das nicht gäbe, würde ich bis ans Ende meiner Tage Kekse essen oder vögeln oder was immer. Es ist im Experiment mit Ratten bewiesen: Wer sich nicht mehr von der Reizquelle lösen kann, ist spätestens nach vier Tagen tot. Deshalb schalten wir bei Reizüberflutung auf einem gewissen Level einfach ab. Das ist das Problem in der Informationsgesellschaft.

Dieter Gorny:
Hier war hinsichtlich der Musikindustrie wohl auch die bewußte Verweigerung derjenigen angesprochen, die irgendwas kaufen, hören, tun und machen sollen und nicht deren Kommunikationsfähigkeit.

Bazon Brock:
Das ist das Ekelregulativ. Aber jetzt kann jede Kultur durch entsprechende Angebote die Reizschwelle, vor der Sie kotzen, erhöhen. Sie können darauf trainiert werden, 77 Kisten solcher Kekse zu essen, bevor Ihnen schlecht wird, solche Wettbewerbe gibt es ja. Leute essen 50 Würstchen und landen im Guiness Buch der Rekorde. Das heißt, sie haben trainiert, das Limbische Regulativ weitgehend außer Kraft zu setzen, es setzt dann erst ganz kurz vor dem Zusammenbruch des Organismus noch ein. Vor 100 Jahren konnten sie einem Mann ein kaum idenfizierbares Foto einer nackten Frau unterm Mantel hinhalten und schon hat der reagiert. Heute können sie dem 50 Fotos hinhalten, dann sagt der immer noch: "Hast du nicht was Aufregenderes?" Und das ist das eigentliche Problem. Kann man jetzt die Ekelschwelle so weit absenken, daß es zu ungesunden Reaktionen kommt?

Jürgen Stark:
Bei meiner Frage nach verbesserter Navigation meinte ich die Informationen, die mich nicht erreichen, weil sie auf Halden aufgehäuft und verschüttet herumliegen.

Dieter Gorny:
Ist es denn tatsächlich noch so, daß das Individuum, das kommunizieren oder empfangen will, diese Signale de facto nicht empfangen kann? Habe ich nicht, wenn ich will, jegliche Möglichkeit, mir musikalische Informationen zu beschaffen?

Bazon Brock:
Die Exklusivität ist Teil der Wirkung dieser Musik, mit der wenige Leute sie darauf ausrichten. Diese Wirkung ginge bei bestimmter Musik verloren, wenn Millionen Menschen teilnehmen würden.

Jan Koemmet:
Das ist das Phänomen von Popkultur, daß sie im subkulturellen Bereich startet, und dann, wenn neue Ausdruckformen breiteren Anklang finden, ihre Exklusivität verliert und massenkompatibel wird.

Bazon Brock:
Obwohl in Zeiten, als es diese massenmedialen Möglichkeiten, die Wirtschaft und die industrielle Vermarktung nicht gab, wie etwa in der Antike, in Athen unter Platon und Sokrates, die Diskussion die gleiche war. Sokrates hat gesagt: "Bloß keine Musik im Staat, denn das ist politisch gefährlich, da kooperieren die Leute sofort", nämlich unter Maximalstreßeinwirkung, und dann sind sie nicht mehr zu kontrollieren, also wurde Musik zensiert. Oder das alte bildungsbürgerliche Ideal, welches sich über Jahrhunderte bei uns ausprägte und meinte dafür sorgen zu müssen, daß die "hohen Ziele unserer bürgerlichen Erziehung nicht etwa in einem Masseneffekt der Zugänglichkeit für jedermann verschleudert werden". Die Wirkung der Hochkultur entfaltete sich aber erst dann, wenn sie sich auf der alltäglichen subkulturellen Ebene durchsetzte. Die Popkommunikation ist deswegen als Strategie zur Aneignung der Hochkultur zu betrachten, weil sie im richtigen Sinne auf der Alltagsebene erfahrbar, nutzbar, genießbar war. Danach erst kam Pop-Art mit Roy Lichtenstein oder Andy Warhol, die sich diese Strategie aneigneten. "Wir müssen vom Volk lernen", sagten die, also übertragen wir jetzt das neue Kommunikationsniveau des Pop wieder zurück auf die Staffelei und stellen es als Gemälde aus. Das heißt, es wurde reflexiv. Die Alterskultur wurde qua Gegenstand der künstlerischen Arbeit wieder zur Hochkultur. Die Frage ist, was es bedeutet.

Jürgen Stark:
Sokrates hat auch die Jugend kritisiert, denn sie sei faul und achte die Älteren nicht.

Bazon Brock:
Derartiges ist auch schon auf den jahrtausendealten Totentafeln von Ninive zu lesen, dort hieß es: "Früher waren die Eltern noch geachtet, heute machen die Kinder, was sie wollen". Früher war ein Meister das Vorbild, heute sieht jeder zu, daß er möglichst ohne Vorbilder auskommt. Dieses Verhalten liegt in der Natur des Menschen. Das sind Argumente, die gar nichts besagen, weil sie immer gelten.

Dieter Gorny:
Und somit auch nicht zur Popdefinition taugen. "Das ist nur etwas für die Jugend" oder "Das war der Aufbruch der Jugend" ist eine naive Zusammenfassung. Neu war der Entstehungsprozeß der Popkommunikation und der industrielle Aspekt.

Bazon Brock:
Historisch neu war auch die Zahl der Menschen, die gleichzeitig in einer Gesellschaft lebten und von diesen Problematiken Kenntnis nehmen konnten oder ihnen überhaupt ausgesetzt wurden. Heute ist jedermann Teil dieses vernetzten Geschehens. Pop ist universell geworden und deswegen so stark, weil Pop keine kulturelle Erfindung war, sondern eine anthropologisch gestützte Ausformung des menschlichen kommunikativen Bezugs.

Dieter Gorny:
Fazit: Es mußte so kommen.

Jan Koemmet:
Technologie ermöglicht heute einen erstaunlichen Transfer. Wenn ich mir heute im Internet Seiten von Jugendlichen ansehe, die sie selber gemacht haben und sie mit Seiten von professionellen Firmen vergleiche, kann ich auf den ersten Blick nicht mehr erkennen, welche jetzt besser sind.

Bazon Brock:
Popeffekte sind dominant geworden, weil durch Entwicklung der Produktions- und Dispositionstechnologie jeder an jedem Ort 24 Stunden seines Alltagslebens von diesen Grundkonstanten herausgefordert wird. Man kann nicht Nicht-Pop machen, auch Antipop ist Pop, und damit muß man leben.

Jürgen Stark:
Ist dann das Happening die letzte Chance, um sich dem Zugriff des alles verwurstenden Mainstreams zu verweigern?

Bazon Brock:
Nein, es ist die Chance, sich den Wahnkonstruktionen von Weltannahmen zu entziehen. Wie wollen wir denn aus einer logischen, stringenten, philosophischen und politischen Ableitung des Weltgeschehens auch sonst je wieder aussteigen?

Jürgen Stark:
Kann Pop so etwas wie eine Art Kommunikationssozialismus sein?

Bazon Brock:
Das kann man durchaus sagen, man hat diese These auch schon oft in verschiedenen Zusammenhängen erörtert. Nur scheitert das an der Definition des Begriffes „Sozialismus“. Wenn es etwas Grundlegendes, alle gleichermaßen unabwendbar Betreffendes meint, dann kann man es so nennen. Wenn man es aber wieder nur als Modellbild von der Welt, auf das wir zustreben, betrachtet, dann ist es natürlich falsch.

Jan Koemmet:
Pop ist weit entfernt von irgendwelchen Heilsversprechen.

Bazon Brock:
Das ist das, was die Leute aber nicht kapieren. Pluralität, Beliebigkeit und schwache Bindungen sind Symptome der Stärke, nämlich Ausdruck der Realitätstüchtigkeit.

Jürgen Stark:
Dann anders gefragt: Reagieren wir noch angemessen?

Bazon Brock:
Natürlich reagieren wir angemessen auf der Basis dessen, was menschenmöglich ist.

Jürgen Stark:
Aber welche Reaktionspotentiale sind möglicherweise noch ungenutzt?

Bazon Brock:
Es gibt nur das Potential des Scheiterns, was neben vielen anderen Janis Joplin, Jimi Hendrix und Kurt Cobain vorgeführt haben. Ein Unternehmer ist nur dann intelligent, wenn er mit dem Scheitern seines Unternehmens rechnet und auf diese Möglichkeit vorbereitet ist. Jemand, der sagt, ich mache jetzt was und das geht glatt durch und ich habe Erfolg, der ist ein Vollidiot. Wer scheitert, der zeigt, wozu er wirklich fähig ist.

Jan Koemmet:
Der Normalbürger traut sich große Risiken nicht zu, für den ist Scheitern mit Untergang gleichgesetzt. 

Bazon Brock:
Deswegen ist diese Improvisationskultur in der Popszene als Modell so wichtig. Natürlich haben alle irgend etwas trainiert. Alle haben ein Repertoire drauf, auch der Bürger. Der weiß auch, wie man guten Tag sagt, Hände schüttelt, sich umdreht, eine Hose anzieht. Entscheidend ist die Gabe, im Hinblick auf das Nichtaufgehen eines Kalküls, sich als noch lebensfähig zu erweisen, zu improvisieren und zu überbrücken. Da bewähren sich einfachste Strukturen: Ich kenne einen, der kennt einen und der hat etwas für mich. Kannst du mir das nicht besorgen, ich besorge dir das. Ich habe eine Tante, die sitzt auf dem Lande und hat Kaninchen, und ich gebe ihr dafür Wollknäuel und die strickt dann, und wir schlachten das Kaninchen, und das Fleisch verkaufen wir. Das ist normale Realität des Lebens.

Jürgen Stark:
Ein Plädoyer gegen Bequemlichkeit und den Dienst nach Vorschrift. Sollen alle nach dem Scheitern streben? Was soll man dann aber noch lernen?

Bazon Brock:
Wir hatten doch bereits vor 20 Jahren Diskussionen darüber, ob nicht das künstlerische Scheitern sowieso die einzige Form der Vollendung wäre. Ausgebildet ist einer, der fähig ist, einen erhaltenen Auftrag sachgerecht auszuführen. Gebildet ist hingegen jemand, der seine Arbeit selber schaffen kann. Gerade in der Pop- und Subkulturszene haben sich sehr viele Menschen bewährt, weil sie sich ihre eigene Arbeit selbst geschaffen haben. Das setzt sich jetzt in Erkenntnisprozessen fort, wenn etwa Kongresse den Wandel der Kultur und Arbeitswelt thematisieren und Popmuster auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Existenzgründungsszenarien übertragen. Die Popkultur liefert das mustergültige Beispiel dafür, wie man sich in die Lage versetzt, sich seine Arbeit selbst vorzugeben, also Künstler zu sein. Diese Erhöhung der Selbständigkeit bringt Leben und Arbeit als "Kunst-Stück" zusammen.

Jürgen Stark:
Das würde einen Quantensprung in der Menschheitsentwicklung bedeuten, einhergehend mit der Auflösung fester Arbeitsverhältnisse und tradierter Sozialbeziehungen. Der endlich wirkliche Souverän würde sich verselbständigen und aufgehen in einer Masse individuell agierender Subjekte.

Bazon Brock:
Natürlich, denn je selbständiger ein Mensch ist, desto kooperationsfähiger agiert er. Hochentwickelte und starke Persönlichkeiten sind am kooperationsfähigsten, schwache Personen hingegen sind nicht kooperationsfähig, weil die sich in Angstszenarien wie in einem Irrgarten verlaufen und sich mit Befürchtungen einigeln: Der will mich über den Tisch ziehen, der will mich einseifen, der beutet mich aus - starke und erprobte Personen haben dieses Problem nicht. Die haben alle ein hochentwickeltes Selbstbewußtsein durch Streßkooperationen entwickelt, welches schon dafür sorgt, daß sie sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Das heißt, je extremer die Ansprüche an die entfaltete Individualität und Persönlichkeit sind, desto kooperationsfähiger wird die so geforderte Person. Das Modell einer Popgruppe ist auch ein hervorragendes Modell der sozialen Kooperation, welches sich bisher aber nur in der Musik bewährt hat. Nicht mal in der bildenden Kunst gibt es so etwas. Warum analysieren wir nicht die Kooperationsformen einer Band, um die Auswertung der Ergebnisse der gesamten Arbeitswelt als Modell vorzulegen? Ein erstklassiger Gitarrist, ein erstklassiger Saxophonist, ein erstklassiger Bassist und ein erstklassiger Schlagzeuger spielen als Band zusammen und erschaffen sich ein eigenes Imperium. Lauter Nieten können dieses natürlich nicht ausfüllen, da kommt keine Musik dabei heraus.

Jürgen Stark:
Das hat aber einen interessanten sozialen Aspekt, denn eine Band mit drei hervorragenden Musikern kann durchaus so stark sein, daß sie einen mittelmäßigen oder sogar schlechten Schlagzeuger mit durchschleppen kann. Die Karriere der Beatles konnte Ringo Starr jedenfalls nicht verhindern, und John Bonhams eigenwilliges Gepolter am Schlagzeug wirkte bei Led Zeppelin sogar wie ein Stilmittel.

Bazon Brock:
Dieses Bindungsverhalten in einer Band kann sich eben als stabiles Provisorium erweisen. Solange Bonn sich selbst als Provisorium verstand, lief in Bonn alles ziemlich gut. Jetzt gehen sie nach Berlin und sind endlich zementiert im neualten Zentrum. Und schon erleben wir Zusammenbrüche, Chaos und schwere Irritationen, von klaren Perspektiven sind wir meilenweit entfernt.

Dieter Gorny:
Das kann ich nur unterstreichen. Solange wir bei VIVA noch aus Containern gesendet haben, ging alles ganz einfach und gut. Wenn es sich manifestiert, geht die Improvisationskultur flöten - und die wünscht man sich dann oft zurück.

Jürgen Stark:
Deutschland hat den geringsten Bevölkerungsanteil von beruflich Selbständigen in ganz Europa. Mit Improvisation, Risikobereitschalt und Flexibilität hat unser strukturkonservatives Land schon aus historischen Gründen seine Probleme. Kann Pop da wirklich als Katalysator wirken? Oder, um es leicht variiert mit den Worten unseres Exbundespräsidenten Roman Herzog zu fragen: Muß ein Rock durchs ganze Land gehen?

Bazon Brock:
Wenn wir die Dynamik der Popkultur erörtern und visionär darstellen, heißt das eben noch lange nicht, daß diese Erkenntnisse schon Allgemeingut geworden sind. Die Gesellschaft zehrt natürlich von Zementierungen, die wie Blockaden wirken.

Jürgen Stark:
Ein Beispiel?

Bazon Brock:
Beispiel Beamtenrecht. Die Rechtsbasis ist eigentlich als höchste Form garantierter Selbständigkeit gemeint, denn nach dem eigentlichen Beamtenrecht ist der Beamte deswegen privilegiert, damit er auf jeder Stufe seiner Kompetenz nur sich selbst und seiner Einschätzung treu bleibt und nicht von anderen abhängig wird. Das heißt, er ist staatlich versorgt, damit er nur seinem eigenen Urteil gemäß seiner Kompetenzstufe folgt. Was hat man aber daraus für eine Pervertierung gemacht: Beamte sind loyalitätspflichtig und subinternen Hierarchien unterworfen. Das heißt, Deutschland hat so lange einen derartigen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg vollziehen können, wie die Beamten kleine Könige waren und sagen konnten: "Was wollen Sie eigentlich von mir, Herr Oberabteilungsleiter, hier entscheide ich, niemand sonst." Sekretär, Obersekretär und Verwaltungsleiter waren vollständig autonom, sie erhielten die staatliche Zusage: "Dich kann keiner, du darfst aber auch nicht bestechlich sein, denn du bist versorgt!" Was ist daraus geworden? Ein schwerfälliger Apparat, von lauter hierarchisch unterworfenen gebückten Leuten, die jede Verantwortung auf den nächsten weiterreichen. Keiner trifft eine Entscheidung, jeder entlastet sich.

Jürgen Stark:
Auch im neuen Bundestag sind mehr Beamte denn je, quer durch alle Parteien, die Popkultur ist dagegen auch im neuen Bundestag und auch in der neuen Bundesregierung so gut wie gar nicht vertreten.

Dieter Gorny:
Nein, so gesehen ist es auch ein isolierter Mechanismus, der mit dem, was wir beschreiben, nicht in die Realität der die Popkultur ignorierenden Zeitgenossen eingedrungen ist.

Bazon Brock:
Wenn wir eine Bundesregierung hätten, die sich als Band verstehen würde und diese Fähigkeiten besäße, die Realität auszuhalten, anstatt die Experten ständig zu befragen, dann würde es zu einem dynamischen Prozeß kommen. Diese selbstgeschaffene Abhängigkeit von sogenannten Experten und ewig tagenden Ausschüssen bewirkt aber, daß Politik wie gelähmt wirkt. Sie meint, sie würde agieren, dabei steht sie regungslos da und läßt einen riesigen Apparat reagieren.

Jürgen Stark:
Wir haben also nur eine "Bundesreagierung" bekommen. In den Zusammenhang gehört noch der Hinweis, daß die besten Bands meistens nur als Einheit der Extreme funktionierten. Nehmen wir The Police. Das waren drei sehr extrem unterschiedliche Typen. Als sie den internen Streit nicht mehr aushielten, gingen sie auseinander. Nichts gegen Sting, aber wie würden heute Police klingen? Es ist doch schade, wenn eine derartige Einheit zerfällt, die musikalisch wesentlich spannender war als das, was hinterher von den Solisten kam. Das ist auch ein Merkmal des Pop, daß diverse extreme Formationen, die sich intern ständig fetzten, in der Zeit des Zusammenhalts geniale künstlerische Phasen durchliefen. Was sind die Alben der Beatles gegen die Soloalben der Vier?

Bazon Brock:
Scheitern als Chance! Mit dem Blick auf den alles beendenden letzten Knall liefern Musiker unter höchster Maximalstreßkooperation auch genialische Höchstleistungen. Natürlich brauchen wir überall die Einheit der Gegensätze und den Mut, nicht vor jeder Konfrontation davonzulaufen. Harmoniesucht ist genauso verlogen wie das Lied "Schön ist es auf der Welt zu sein", welches aus den Zuhörern Vollidioten macht. Diese Schönfärberei des Lebens mit den Idealen Familie, Versorgung und allgemeiner Sicherheit ist eine Illusion, die den Leuten das Reaktionsvermögen nimmt.

Jürgen Stark:
Wie kann das Fazit nach so vielen Worten lauten?

Bazon Brock:
Kürzlich haben wir eine Großveranstaltung in Wien gemacht, wo es zu den üblichen kulturpessimistischen Äußerungen kam. Katastrophische Redner beschworen die Gefahr eines Dritten Weltkrieges und Weltuntergangs. Da habe ich mich hingestellt und gesagt: Wir Menschen müssen aus Optimismus Pessimismus machen, da große Untergangsprophetie offenbar dazu da ist, um unseren Optimismus zu befördern. Als wir zu Urzeiten als magere kleine Menschenhorden unter wilden Tieren auf die Jagd gingen, mußten wir auch mit dem Schlimmsten rechnen und dennoch losziehen, denn sonst hätte es abends kein Fleisch zu essen gegeben. Man muß als Mensch ständig damit leben, daß alles kaputtgehen kann. Das heißt, unsere Phantasien des Scheiterns sind real, aber auch notwendig, um Optimismus zu erleben.

Prof. Dr. hc. Bazon Brock

Geboren am 2. Juni 1936 in Stolp/Pommern. Nach der Flucht aus Pommern folgte eine zweijährige Internierung in Dänemark. An den Besuch des Kaiser-Karl-Gymnasiums in Itzehoe schließt sich 1957 das Abitur an. Es folgt ein Studium der Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und der Politikwissenschaften in Hamburg, Frankfurt und Zürich - wesentlicher Einfluß durch Theodor Adorno. Während des Studiums Dramaturgieausbildung am Landestheater Darmstadt, danach von 1960 bis 1961 Erster Dramaturg am Stadttheater Luzern. Ab 1969 erste Happenings mit Hundertwasser, Alan Kaprow, Joseph Beuys, Wolf Vostell und Nam June Paik. Von 1965 bis 1978 lehrbeauftragter Professor für nicht-normative Ästhetik an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, von 1978 bis 1981 Professor für Gestaltungslehre an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und seit 1981 Professor für Ästhetik/Gestaltungstheorie an der Bergischen Universität in Wuppertal. Zu den zahlreichen weiteren Aktivitäten gehören diverse Veröffentlichungen zur Arbeitsbiographie, Hörspiele, Video-Dokumentationen, TV-Produktionen und Ausstellungen. 1992 Verleihung der Würde eines Doktors der Technischen Wissenschaften ehrenhalber von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Von seinen Assistenten, Promovenden und Habilitanden der Jahre 1980 bis 1995 sind inzwischen neun als Uniprofessoren tätig: weitere wirken als Museumsdirektoren, Agenturchefs oder Ausstellungsmacher. Seit 1998 ist Bazon Brock Vorsitzender des Künstlervereins "Malkasten" in Düsseldorf.

Jan Koemmet

Geboren am 18. August 1961. Ehemaliger Gitarrist der deutschen Hardrock-Formation "Accept" und langjähriges Orchestermitglied des "Starlight-Express"-Musicals In Bochum. Zunächst Ausbildung als Schildermaler; danach Studium der Visuellen Kommunikation, Kunstgeschichte und des Kommunikationsdesign. Heute arbeitet Jan Koemmet als Buchgestalter, Typograph, Web- und Grafik-Designer in seiner eigenen Agentur für Kommunikationsdesign in Wuppertal. Hier werden vor allem Auftraggeber aus dem Verlagswesen (u. a. Econ & List, Scherz, DuMont) betreut, kommerzielle Web-Seiten für das Internet konzipiert und gestaltet wie auch Plakate und Kampagnen für Industrie und Handel sowie soziale und kulturelle Institutionen entwickelt. Jan Koemmet erhielt nationale und internationale Design-Auszeichnungen und promoviert zum Thema "Jugend- und Popkultur in den neuen Medien".