Buch Architekten Schweger & Partner

Bauten und Projekte, 1990-1998

Architekten Schweger + Partner: Bauten und Projekte 1990-1998, Bild: Berlin: Gebr. Mann, 1998.
Architekten Schweger + Partner: Bauten und Projekte 1990-1998, Bild: Berlin: Gebr. Mann, 1998.

Februar 2000

Erschienen
1999

Autor
Brock, Bazon | Hackelsberger, Christoph | Kähler, Gert

Herausgeber
Flagge, Ingeborg

Verlag
Gebrüder Mann Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
3-7861-1804-3

Umfang
246 S.; zahlr. Ill., graph. Darst.; 33 cm

Einband
Gebundene Ausgabe

Seite 213 im Original

Felder und Räume

Der Erweiterungsbau des Niedersächsischen Sparkassen- und Giroverbandes mit seiner Sparkassenakademie

Was eine lebendige und wirkungsvolle Architektur auszeichnet, ist ihre ästhetische Qualität. Diese Qualität besteht als ein spannungsreiches und vieldeutiges Verhältnis zwischen der Architektur als Vorstellung und der Architektur als realer Raumerfahrung. Die Architektur als Vorstellung haben Schweger + Partner als konstruktivistische Komposition in einem zweidimensionalen Bild entwickelt. Diese Komposition wurde dann in einen Grundriß des zu realisierenden Baues übersetzt. Eine produktive, ja schöpferische Übersetzung ist aber niemals eine formale 1:1-Übertragung. Um die Qualität des Baues tatsächlich erfahren zu können, sollte der Nutzer und Bewohner an jedem Ort im Bau das Bild der komponierten Formidee als eigene Vorstellung abrufen können, um so die ästhetische Spannung zwischen abstraktem Bild und konkretem Raum zu erleben. Der Grundriß orientiert den Betrachter auf den realen Bau; die konstruktivistische Bildkomposition orientiert den Betrachter auf die Vorstellung eines dynamischen Gefüges geometrischer Grundformen, also auf Formideen.

Einer grandiosen Manifestation solcher ästhetischen Qualität der Architektur von Schweger + Partner begegnet der Betrachter und Nutzer des Baus in der Gestaltung der 96 m langen inneren Fassade durch Ulrich Erben. Einerseits kennzeichnet Erben diese den gesamten Komplex durchziehende Wand als eine abstrakte Komposition von Farbfeldern, andererseits konkretisiert er sie zu Vorstellungen oder Erinnerungen, die der Bedeutung nach Pfeilerhalle und Triumphbogen, Bühnenvorhang und szenische Kulisse, Regenbogen und »geputzte Flur« (Osterspaziergang: »Aber die Sonne duldet kein Weißes, überall regt sich Bildung und Streben, alles will sie mit Farbe beleben.«) sein können. Erben fordert vom Betrachter und Nutzer, vor der farbigen Fassade solche Assoziationen zu leisten. Das fällt vielen Menschen schwer, weil die Wandgestaltung keinerlei Anhaltspunkte etwa als Illustration von Erinnerungen offeriert.

Eine biblische Weisheit mahnt an, der Mensch lebe nicht vom Brot allein. Seit alters beherzigen gute Baumeister diese Ermahnung. Sie wissen, daß der Mensch nicht in Ziegelsteinen und Beton wohnt, in Marmor und Glas, in Holz und Lehm, sondern in Gedanken und Vorstellungen, in Erinnerungen und Weltbildern. Die Aufgabe der Baumeister und Architekten besteht darin, die Behausung der Menschen mit eben jenen geistigen Leistungen zu verbinden, die das Hausen zum Wohnen werden lassen. Die Architektur verwandelt den Bau als Klimahülle, Versorgungsdepot, Schutzzone und Arbeitsareal in Lebensraum und Lebenswelt. Deswegen ist jede leistungsfähige Architektur ein modellhafter, sozialer Kosmos, der es den Bewohnern erlaubt, ihrer Welt zu begegnen. Das ermöglicht Architektur, indem sie den Bau als gestaltete und erkennbare Ordnung erscheinen läßt. Ordnen heißt, in Zusammenhang stellen, etwa in den Zusammenhang stilistischer Gestaltung, in den Zusammenhang sozialer und funktionaler Abläufe, in den Zusammenhang ideengeschichtlicher, also theologischer, philosophischer und politischer Konzepte des Lebens.

Von diesen Konzepten spricht alle Architektur – aber auf sehr unterschiedliche Weise. Am eindeutigsten ist diese Sprache, wenn der Bau als Verbildlichung der Konzepte gestaltet wird, wenn also beispielsweise in der Antike das Grabmonument eines Bäckers als Backofen veranschaulicht wird, oder um 1800 ein Kuhstall die Gestalt eines monumentalen Hornviechs erhält, oder im 20. Jahrhundert sich die Restaurants einer Fast Food-Kette als gigantische Hamburger am Straßenrand präsentieren. Aber diese platte Umsetzung einer Funktion oder Position in das Bild ihrer selbst hat den Nachteil, gerade durch die Eindeutigkeit ihrer Sprache schnell an Interesse zu verlieren. Bei den epochemachenden Bauaufgaben der Jahrhunderte, den Sakralbauten, den Herrschaftsbauten und den Wirtschaftsbauten, also den Tempeln und Kathedralen, den Palästen und Parlamenten, den Kaufhäusern, Bahnhöfen und Fabriken, kam es darauf an, eine spannungsreiche Balance zwischen stilistisch-formalen, technisch-funktionalen und ideengeschichtlichen Motiven zu halten.

Wie gelang das? Die Architekten erhöhten die Abstraktionsleistung in allen drei Konzeptbereichen: Formal-stilistisch wurden Bauformen auf die geometrische Variation von Kreis und Quadrat, von Kubus, Kegel und Zylinder, von Punkt und Linie in den strikten Koordinaten von Vertikalität und Horizontalität ausgerichtet. Das trifft für die griechisch-römische Antike, die Renaissance und den Frühbarock, den Klassizismus und die klassische Moderne zu. Wo man nicht von geometrischen Grundformen, sondern von natürlichen ausging, abstrahierte man den Formenkanon der Pflanzen, die Konturen von Lebewesen und die Dynamik von Bewegungsabläufen – das galt für die Gotik, das Rokoko und den Jugendstil.

Die technisch-funktionale Abstraktion zeigte sich in der Entwicklung universaler Baustoffe (wie Zement) und neuer Bauverfahren (wie Stahlbeton), die in allen Bautypen gleichermaßen verwendbar waren.

Die immer weitergehende Abstraktion theologisch-philosophischer und politischer Konzepte äußerte sich darin, daß etwa Verkehrsbauten sakrale Anmutung erhielten (der Bahnhof als »Kathedrale des Verkehrs«), Fabriken wurden zu Herrschaftsbauten und Kaufhäuser zu Palästen.
Seit Schinkels Zeiten (und Schinkel war gewiß ein überragender Architekt des frühen Industriezeitalters) sehen Postämter wie Gymnasien, Gymnasien wie Finanzämter, Finanzämter wie Fabriken, Fabriken wie Rathäuser und Rathäuser wie Kirchen aus. Gerade das hat man allen Schinkel-Nachfolgern zum Vorwurf gemacht, weil man das Entscheidende vergaß: die Ähnlichkeit der Bauten resultiert aus dem Anspruch auf architektonische Qualität, und die ist, wenn sie gelingt, überall gleich im Gefüge der Proportionen, in der Sorgfalt der Ausführung und in der Klarheit der Formideen. Man hat diese Angleichung als Verlust spezifischer Abweichungen, als Verzicht auf regionale Traditionen und als demokratische Gleichmacherei beklagt – aus verständlichen, aber nicht stichhaltigen Gründen. Was uns als Sammelsurium des Einerlei in den Nachkriegsstädten ans Gemüt geht, ist eben der Mangel an architektonischer Qualität und nicht der Mangel an Vielfalt. Die Typen moderner Arbeitsformen nähern sich einander immer mehr; die sozialen Rollen desgleichen. Da wäre es doch zynisch, Fabrikarbeit und Verwaltung, Arbeiter und Angestellte auf Architekturen festzulegen, denen man schon von außen und erst recht von innen ansieht, daß sie mutwillig einen Unterschied markieren wollen, dem auf der realen Basis kaum noch etwas entspricht. Sollte man etwa darauf verzichten, Fabrikations- und Distributionsstätten nach den gleichen architektonischen Qualitätsmaßstäben zu gestalten, bloß um den Unterschied zwischen Blaumännern und Weißkragenträgern zu markieren? Dergleichen bloß vortäuschende Architektur ist in den Disney Worlds vielleicht angebracht, aber jeder spürt die Zumutung, die darin liegt, in solchen Maskenarchitekturen tatsächlich leben und arbeiten zu müssen.

Im übrigen: Die konkreten Rahmenbedingungen für jede Architekturaufgabe in gewachsenen Städten sorgen ohnehin dafür, daß die gleichen Qualitätsformen nicht zu gleichmacherischer Einheitsarchitektur führen. Viele Grundstückszuschnitte, Infrastrukturen, Bauauflagen, klimatische Verhältnisse und Bauökonomien verführen im Gegenteil dazu, oberflächliche Fassadenpointen mit hohem Abstraktionswert den Mangel an tatsächlicher Qualität kaschieren zu lassen. Da wird Architektur zum Oberflächendesign, zum postmodernen Anpreisungsprospekt, und innendrin fällt einem vor lauter gestalterischer Langeweile die Decke auf den Kopf.

Der Bau von Schweger + Partner will nicht den Status des Bauherrn oder Funktionstypus der Nutzer repräsentieren und pointenschnalzende Fassadenmaske im Straßenbild sein. Er behauptet nicht, unterscheidbare Firmenphilosophie oder politisch-weltanschauliche Positionen architektonisch zu formulieren oder sichtbar werden zu lassen, wodurch sich der Sitz des Sparkassen- und Giroverbandes von den Bauten der einzelnen Sparkassen abheben sollte. Die Leistung der Architekten wird man erst beurteilen können, wenn man die Aufgabe versteht, der sie sich stellen mußten. Es galt, auf einem heiklen Areal am Schiffgraben in Hannover einen Neobarockbau, einen Nachkriegsanbau und ein Parkplatzgelände des Finanzministeriums als Grundriß eines einheitlichen Baukomplexes zu definieren. Aus den historischen Stilsprachen und Funktionstypen der vorhandenen Baukörper abstrahierten sie die longitudinal ausgerichteten Rechtecke, die T-förmig aufeinanderstehen und deren Richtungsdynamik auf den äußersten Eckpunkt des zu bebauenden Grundstückes zielt. Sie wird veranschaulicht als eine Gerade. Der Verlauf des Schiffgrabens erzwang vom Eckpunkt in Richtung auf den Neobarockbau eine Bogensegmentkrümmung der Fluchtlinie. Damit war das Motiv des Kreises eingeführt; den vollendeten Kreis komponierten die Architekten zurückgesetzt in die Lücke zwischen Neobarockbau und Kreissegmentflügel. Der Kanon der Grundformen wird fortgeführt von einem viergeteilten Quadrat, das in die Einheit des Formenensembles durch die dominante Richtungsachse einbezogen wird. Komplettiert wird der Kanon durch eine zweite Gerade, die die Richtungsachse und den Kreis im rechten Winkel durchschneidet. Betrachtet man die Komposition als konstruktivistisches Bild, markieren die sich überschneidenden Geraden die beiden Diagonalen. Betrachtet man hingegen den Grundriß von der Eingangsfassade des Baus, dann definieren die sich überschneidenden Geraden Horizontalität und Vertikalität als zentrale Achsen der Orientierung.

Diese in sich ausgewogene, aber doch spannungsreiche Komposition, die es an Qualität mit den besten Arbeiten Lissitzkys, Moholy-Nagys und anderer Konstruktivisten aufnehmen kann, erlauben eine bauliche Entfaltung der Architektursemantik: der Kreis wurde zur Rotunde respektive zum Pantheon, die Richtungsachse zur inneren Fassade, das viergeteilte Quadrat zum aufgebrochenen Kubus eines Abschlusses ohne Endgültigkeit. Die Bedeutungsassoziationen der Baukörper und die konstruktivistische Bildlichkeit der Grundrißgeometrie müssen und können vom Betrachter von jedem Standpunkt im Bau aufeinander bezogen werden. Damit werden konstruktivistische Formideen und ideengeschichtliche Bedeutung der Bauformen gleichermaßen zur Erschließung des Baus eingesetzt. Die Architektur wird bildlich und das Architekturbild begrifflich. Die Verbindung zwischen Bildlichkeit und Begrifflichkeit schafft das Kreuz der sich überschneidenden Geraden, wenn wir es als Rotationssymbol für die Bewegung aus dem Bild in den Bau und vom Bau ins Bild verstehen. Jeder Nutzer des Baus wird also von der Architektur aufgefordert, das konstruktivistische Bild als eigene Vorstellung zu vergegenwärtigen. Mit der Bewegung im Baukomplex verwirklicht der Benutzer das Bild der Architektur und wird selbst zu einem architektonisch denkenden Entdecker und Erschließer des Raumes. Er wohnt also tatsächlich in seiner Gedankenarchitektur und nicht mehr nur im Gehäuse der Baumaterialien.

Künstlerisches Denken am Bau

Es ist nichts besonderes, daß in der Baugestaltung Wände farbig gefaßt werden, mit Ausnahme einer kurzen Epoche unseres Jahrhunderts, in der die Wände möglichst weiß blieben. Aber auch die weiße Wand ist Projektionsfläche und Wahrnehmungshorizont, nämlich für die auf diese Wände gedachten oder tatsächlich gehängten, autonomen Kunstwerke, zumeist Malereien. Der Raum ist gerade für die Moderne unabdingbar für den Auftritt der Malereien, Reliefs oder Skulpturen. Viele moderne Künstler konzipierten ihre Arbeiten bereits mit Blick auf den Raum als Bühne für ihre Werke. Je mehr aber die Architektur des Raumes sich zur Geltung brachte, desto schwieriger war die Präsentation von autonomen Kunstwerken in solcher ausdrücklichen Architektur. Sehr häufig gerieten Architekturanspruch und Präsentationsanspruch der Kunstwerke in Konflikt. Beispiel dafür sind die Museumsbauten von Hollein. Die Kunst im Bau erzwang die architektonische Neutralisierung der Räume; die Architektur wurde verdrängt.

Alle programmatischen Bemühungen, Kunst und Architektur zu versöhnen – sei es, daß man Architekturen wie Skulpturen entwarf oder aber die Kunst als Dekor der Architektur applizierte (Kunst am Bau) –, blieben unbefriedigend für Architekten, Künstler und Baunutzer. Deswegen versuchten Maler wie Blinky Palermo, Imi Knoebel und Gerhard Merz ihre Bildkonzepte direkt auf die Wand zu bringen und nicht vor die Wand zu hängen. Sie mußten dabei gegen die konventionelle Auffassung arbeiten, daß auf die Wand aufgebrachte Farbe bloßer Anstrich sei. Ein altes Problem, mit dem sich in unserem Jahrhundert vornehmlich die Werkstatt für Wandmalerei des Bauhauses beschäftigte. Um dem Eindruck zu entgehen, man dekoriere nur nachträglich Wände, betonte die Werkstatt unter Ittens Leitung die Farbpsychologie und die Farbtheologie. Die Farbgebung wurde zur Stimulation von Seelenstimmung und Seelenöffnung. Der reale Raum wurde zum Spiritualraum. Unter Kandinskys Werkstattleitung wurde von Bauhäuslern versucht, die Farbe in der gegebenen Architekturform der Wand aufgehen zu lassen, »um diese Form in ihrer Wirkung zu steigern und sich neue Formen bilden zu lassen«, denn »die Farbe hat auch die Tendenz, sich Formen entgegenzusetzen und sie umzugestalten«. Mit diesem Programm »Form der Farbe« haben viele Künstler des Jahrhunderts gearbeitet, allerdings in Malereien und nicht in der Architektur, es sei denn, sie hätten, wie Mies van der Rohe, die Form der Farbe durch entsprechend gewählte Baumaterialien (z.B. Milchglas) zur Geltung gebracht. Unter Hinnerk Scheper unternahmen es die Wandgestalter des Bauhauses zum einen, mit den berühmten Bauhaustapeten die Bildlichkeit der Farbe auf der Wand zu betonen und zum anderen, die Form der Farbe als Topografie der Wand zu bezeichnen. Ihre farbigen Wände sollten die einzelnen Räume wie Landschaften unterscheidbar bzw. die Architektur wie eine Landschaft lesbar werden lassen.

Immerhin erweiterte Scheper mit dieser topografischen Landkartenfarbigkeit die Farbcharaktere, derer man sich bis dahin in Deutschland nicht zu bedienen gewagt hatte: gebrochene Farben, unreine Farben und flache Farben.

Bei diesen Ansätzen ist es geblieben, auch wenn postmoderne Architekten wie Venturi, Moore, Johnson, Gehry und Eisenman versuchten, in ihren Architekturen Farbe nicht malerisch, sondern funktionell strukturierend zu verwenden. In Ulrich Erbens Gestaltung der dynamischen Achse des Schiffgrabens als innerer Fassade scheinen die zitierten Ansätze gleichermaßen zur Geltung zu kommen, allerdings mit der wesentlichen Erweiterung der historischen Perspektive und einer erheblichen Steigerung ihrer ideengeschichtlichen Bedeutungen. Ohne Übertreibung läßt sich behaupten, daß Erben mit seinen Vorstellungen in formaler Hinsicht z.B. den II. Pompejanischen Stil, die vertikalen Inkrustationsfelder von weißem und grünem Marmor der florentinischen Bauten Baptisterium, Santa Maria Novella oder die Seitenschiffassaden des Doms in Erinnerung ruft. Für die architektonischen Gestaltungstopoi legt er uns Gedanken an die Bühnenportale und Triumphbögen, an Kolonnaden und Galerien, an Festarchitektur und Pfeilerhallen nahe. Vor allem auf der Ebene der Bedeutungen erweitert Erben die Auffälligkeit seiner Wandgestaltung. Sie fördert in erster Linie durch die unregelmäßige Abfolge der Farbfelder eine Dynamisierung der 96 m langen Raumeinheit. Wie tödlich starr wirken sonst auf uns derart lange Raumstrecken als Flure oder andere Verkehrsflächen, in welcher Farbgebung auch immer. Der Wechsel der Farbfelder zwischen Abschattierungen ähnlicher oder kontrastierender Farben beschleunigt das Auge und die Bewegung des Betrachters nicht gleichförmig, sondern als Wechsel der Tempi. Nicht nur horizontale Bewegungen von Augen und Körper strukturieren die Folgen der Farbfelder, sondern auch die Vertikale über die gesamte Höhe des Baus. Der Wechsel der Deckenhöhen verstärkt diese vertikale Erschließung, denn die geschoßübergreifende Einheit der Farbzonen bestimmt auch die Vorstellung des Betrachters, wenn ihm der Blick ins zweite Geschoß und in die Dachkonstruktionen versperrt ist.

Es gilt zu beachten, daß Erben immer nur die plane Fläche der Wand bearbeitet, nicht hingegen die Laibungen der Wandöffnungen und auch nicht die Rückseiten der Wände. Die Metallplatten der Laibungen und der Rückseiten sind schwarz-braune Eloxierungen mit sichtbaren Verlaufspuren – ein anverwandeltes Überbleibsel der ursprünglichen Vorstellungen der Architekten, die gesamte Wand als eisernen Vorhang, respektive eisernen Paravent mit verrosteter Oberfläche zu gestalten. Es ist durchaus reizvoll, sich vorzustellen, wie eine solche skulpturale Anmutung à la Serra gewirkt hätte. Allein diese Vorstellung rechtfertigt die Entscheidung des Bauherrn und der Architekten für eine malerische statt für eine skulpturale Lösung der Gestaltungsaufgabe. Zwar wäre der Eindruck der Monumentalität der Achse erhöht worden, aber auch der Eindruck einer phrasenhaften Leere und Eintönigkeit. Erbens Vorschlag ermöglicht nicht nur Beschleunigung und Retardierung, geschoßübergreifende Öffnung und partielle Raumschließung, sondern auch den Wechsel der farbpsychologischen Stimmungen, den Wechsel zwischen malerischer und funktional-strukturierender Farbigkeit.

Wie ist Erben vorgegangen? Er hat zunächst für den Entwurf des Werkes den architektonischen Aufriß der Wand mit ihren zahlreichen Arkaden- und Türöffnungen und Geschoßabgrenzungen zu einer einheitlichen Bildfläche geschlossen, die die Form eines von ihm im bisherigen Werk bevorzugten, horizontal ausgerichteten Rechtecks hat. Er hat die Wand also als einheitliche Bildfläche aufgefaßt und diese Fläche so durchgearbeitet wie ein Werk der autonomen Malerei. Diese Malerei sollte jedoch nicht nur auf die tatsächlich vorhandenen Wandflächen projiziert gedacht werden, sondern auch über deren Öffnungen. Darauf verweisen die Unterbrechungen der vertikal verlaufenden Farbbahnen durch Tür- und Arkadenstürze. Die Malerei als autonomes Erbensches Bildwerk existiert also nur im Entwurf oder für den Betrachter der ausgeführten Wand als Vorstellung. Wie die gesamte Architektur die ständige Vermittlung der konstruktivistischen Komposition abstrakter Formideen mit der realen Raumerfahrung erfordert, so muß man Erbens Malerei immer erneut gedanklich zusammenfassen, d.h. als Betrachter die Vorstellung eines in sich geschlossenen Tafelbildes mit den tatsächlich sichtbaren Farbfeldern vermitteln.

Sichtbar sind mit Acrylfarben handbemalte und mit Klarlack versiegelte Aluminiumpaneele von durchschnittlich 62 cm Breite. Die Alusandwichplatten sind so hauchdünn und raffiniert auf den Wänden befestigt, daß sie manchmal wie eine schwebende Lichtprojektion wirken und ein anderes Mal wie die Seite eines Buches, wobei die Fugen zwischen den Paneelen die Falze der Buchseiten bilden. Die einzelnen Farbbahnen laufen stets über zwei Paneele; so wird verhindert, daß die einzelnen Paneele mit ihren Begrenzungen auch die Form der Farbbahnen bestimmen.

Hätte Erben die einzelnen Paneele genauso breit gewählt wie die jetzt sichtbar gedoppelten Farbstreifen, so hätte leicht der Eindruck einer monumentalisierenden Ordnung entstehen können. Damit wäre aber die transparente Leichtigkeit, ja die Immaterialität der Farbformen verloren gegangen.

Alle aufgetragenen Acrylfarben sind ungemischt – nur die Blaupalette besteht aus unterschiedlichen Weißbeimischungen. Die Blautöne dominiere über Chrom- und Zitronengelb, gebrannter Siena, Chamoix, Orange, Ochsenblutrot, Violett, Karmin, Anthrazit und Aubergine. Grün kommt mit vollem Bedacht überhaupt nicht vor, da die Außenfassade diese Farbwertigkeit vereinnahmt und darüberhinaus für unser natürliches Sehen ohnehin in den horizontal gerichteten Blick gerät als Wahrnehmung des Blattwerks von Büschen und Bäumen. Offensichtlich wollte Erben nicht das Naturgrün in die Architektur miteinbeziehen, weil die Farbfelder dann sehr leicht die Anmutung einer Begrünungseuphorie erhalten hätten. Was man in der Architektur hingegen am seltensten sieht, ist das Blau des Himmels. Dieses Blau in seinen Abstufungen holt Erben in die Lichtvision der Wand ein. Die vertikale Anordnung der Paneele führt den Blick des Betrachters sehr viel stärker von unten nach oben, also aus der geschlossenen Architektur in den offenen Raum, den Himmel. Himmel ist uns aber natürlicherweise die allgemeinste Vision der lichten Welt. In ihn projiziert man von Kindesbeinen an Vorstellungen als Träume und Gedanken als Ideen. Vor diesem dominanten Blau der Erbenschen Wand wird das Gehen des Betrachters leicht; man beginnt zu schweben und die harten Grenzen des Baus scheinen durchlässig zu werden wie Wolken. Der Gang entlang der Wand wird zu einer Wanderung durch das Licht der Jahreszeiten und der Landschaften, wobei dem Betrachter, obwohl der Blick nur auf einer Ebene bleibt, der Eindruck nahegelegt wird, er sehe jetzt himmelwärts und nun erdwärts, habe hier einen Blick auf den grau verhangenen Horizont, dort auf ein Sonnenblumenfeld in unmittelbarer Nähe.

Zu vielen Farbwertigkeiten fehlt dem Betrachter Vorstellung oder Erinnerung, um sie sich zu erschließen – eine Herausforderung, seine Farbwahrnehmungen subtiler werden zu lassen. Bewußt hat Erben sehr unterschiedliche Farbcharaktere gewählt: solche, die uns als Eigenschaften der außerbildlichen Welt geläufig zu sein scheinen und andere Farben, denen wir als Eigenschaften von Dingen, Pflanzen, Tieren oder der Atmosphäre noch nie begegnet sind.

Der Wechsel von assoziationshemmenden bzw. erinnerungslosen Farben mit jenen, die schnell und direkt Bildvorstellungen aufsteigen lassen, ist wichtig, denn so bemerkt der Betrachter, daß die verweigerten Bilder so wie die sich problemlos nahelegenden Bilder gleichermaßen seine eigenen Wahrnehmungsleistungen sind und nicht etwa die gestalterischen Vorgaben des Malers Erben. Erben bietet »nur«, er provoziert »nur« eine Folge von Wahrnehmungsanlässen, und wir können nicht umhin, die Farbwahrnehmungen in der Raumstruktur mit Gedanken, Erinnerungen oder Vorstellungen zu verknüpfen.

Je unspezifischer der Wahrnehmungsappell (man sieht ja nichts als eine Folge von Farbfeldern), desto zwingender empfindet der Betrachter den Impuls, eine bildlich konkrete oder begrifflich klare Verarbeitung des Wahrnehmungsappells zu leisten. Dazu mag ihn die Erinnerung an einen Besuch in Pompeji oder Florenz, das Durchschreiten eines Triumphbogens in Rom oder der Gang durch das Seitenschiff einer frühchristlichen Pfeilerbasilika anregen. Er wird sich vor der Bühnenkulisse einen theatralischen Auftritt in einer heiteren Harlekinade verschaffen oder sich als Teilnehmer eines sommerlichen Festes in einer girlandengeschmückten Straße imaginieren – wie auch immer. Die Erbensche Wandgestaltung als Malerei und Dekor, als Rauminszenierung und Lichtspiel, als architekturstrukturierende Form der Farbe wie als Bild farbiger Erinnerungen wird den Betrachter, dessen darf man sicher sein, ebenso aktivieren und motivieren wie die Architektur selber. Aus der Begehung des konkreten Raumes wird eine sinnes- und verstandbelebende Architektur durch den ständigen Wechsel zwischen dem abstrakten Bild der Formideen des Baus und der momentanen Wahrnehmung des Raumes. Aus dem Gang entlang der Erbenschen Wand wird eine Begegnung mit der eigenen Fähigkeit des Betrachters, imaginativ zu denken und sinnlich zu spekulieren.

Der Mensch lebt tatsächlich nicht vom Brot allein, sondern in der Architektur seiner Gedanken und der Malerei seiner eigenen Erinnerungen.

(aus: »Das Haus, das neue Gebäude des niedersächsischen Sparkassen- und Giroverbandes mit seiner Sparkassenakademie Hannover«, Niedersächsischer Sparkassen- und Giroverband 1994)

siehe auch: