Zeitung Manuscript (ursprünglich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Erschienen
1969

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Struktur und Funktion des Feuilleton an einer überregionalen Tageszeitung

Es wird vorausgesetzt, daß der Auffassung von 'Offentlichkeit' als Medium der gesellschaftlichen Kommunikation und Selbstdarstellung nicht widersprochen wird. Kommunikation meint das Gewinnen und Gebrauchen von Information als eine der Grundgrößen des Lebens (neben Materie und Energie). Selbstdarstellung meint, daß die Ziele, Normen, Geschichte der Gesellschaft allgemein erfaßbar sind; daß solche Werte zur Verfügung gestellt werden können.
Öffentlichkeit ist eine der weittragendsten Bestimmungsleistungen der bürgerlichen Gesellschaft. Vielfach ist das von bedeutenden Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten für die historische und gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft nachgewiesen worden. Deren Bedeutung liegt selbst dort zutage, wo vermeintlich formal-logische oder operationelle Prozesse ablaufen, nämlich in der Wissenschaft und Technik. Nicht nur die Konfrontationsformen Dialog oder Diskurs oder Streitgespräch oder Vorlesung, Parlament oder Predigt sind von 'Öffentlichkeit' abhängig bzw. bauen sie auf, auch der experimentelle Beweis, die statistische Wirklichkeitsspiegelung, ja sogar die mathematische Problemerörterung sind auf Öffentlichkeit verwiesen, Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts ist mit Recht sogar vorgetragen worden, daß Öffentlichkeit geradezu die inhaltliche Seite jener Tätigkeiten sei.
Nicht nur KANT und seine Nachfolger, sondern auch DIDEROT und seine Schule, Denker also sowohl als Journalisten, haben durch Reflexion und Tätigkeit vernünftig belegt, daß beispielsweise Kultur wesentlich nichts anderes ist als die allgemeine Aneignung und Nutzung von künstlerischen, wissenschaftlichen, technischen Hervorbringungen einzelner Menschen bzw. kleiner Gruppen von Menschen. Dieser Vorgang ist in allen Einzelheiten untersucht worden. Das wesentlichste Untersuchungsresultat ist bekannt geworden unter dem Stichwort Vermittlung. Das besagt, die irgendwie erzeugten Inhalte als Kunst oder Wissenschaft sind für sich bedeutungslos, wenn sie nicht in Zusammenhang mit anderen, vorher bestehenden gebracht werden. Und umgekehrt heißt das, keine Kunst oder Wissenschaft kann unvermittelt verstanden und gebraucht werden. Die Vermittlung kann aber unterschiedlich stark sein und in unterschiedlichen Formen vor sich gehen.
Dieser Tatbestand wird von niemandem mehr bestritten. Allerdings werden unterschiedliche Begründungen für ihn angegeben, die sich auf Konsequenzen der Arbeitsteiligkeit bis zur institutionellen Verselbständigung der Vermittlung erstrecken. In jedem Falle aber ist die Vermittlung nicht von der vermittelten Sache oder von dem Vermittlungszweck zu trennen, woraus sich ein erster und entscheidender Ansatz für die Bestimmung journalistischer Arbeit ableitet.
Vermittlung selber ist Informationshervorbringung. Nicht länger kann ein journalistisches Selbstverständnis aufrechterhalten bleiben, demzufolge die Vermittlung "so objektiv wie möglich" vor sich zu gehen habe. Das Medium der Öffentlichkeit, die Zeitung, kann sich selbst nicht nur als Transportmittel von Nachrichten ansetzen.
Wird Feuilleton hier verstanden als zeitlich fortlaufende, aber inhaltlich zusammenhängende Veröffentlichung dessen, was die kulturellen Bestimmungsgrößen einer Geseilschaft ausmacht und nicht einzelner künstlerischer oder musikalischer oder literarischer oder naturwissenschaftlicher oder architektonischer Partikularitäten, dann lassen sich mit einiger Eindeutigkeit diejenigen Leistungen angeben, die von einem Feuilleton generell zu erbringen sind.

1
Ereignisstrukturierung ist die vorgängige und nachträgliche Anzeige von Ereignissen, wobei deutlich sein sollte, für wen ein Ereignis unter welchen Voraussetzungen bedeutsam sein sollte. Da die Vielzahl von Veranstaltungen innerhalb des Aktionsradius eines durchschnittlich aktiven Bürgers zu groß geworden ist, vermag die bloße Mitteilung über das Stattfinden eines Ereignisses nicht hinreichend zu sein. Selektionsangebote müssen unterbreitet werden.

2
Erlebnisstrukturierung ist die vorgängige oder nachträgliche Anleitung zur Verarbeitung eines Ereignisses, sei es als kommerzielle Aneignung (z.B. von Kunstwerken), sei es als Verstehen (im Sinne einer Interpretation), sei es als Favorisieren (im Sinne einer politischen Parteinahme), sei es als Urteilen (im Sinne einer wissenschaftlichen Analyse).

3
Thematische Aufschließung dessen, was für Leser tagtäglich der Fall ist. Das heißt, unabhängig von gegebenen Anlässen einzelne Segmente der Alltäglichkeit unter einem einzigen, eingeschränkten Gesichtspunkt darzustellen. Daraus ergibt sich sehr bald eine Art enzyklopädisches Zusammentragen von Einzelnem, das sonst nicht mitteilbar wäre.