Zeitung Frankfurter Rundschau

Erschienen
18.01.1969

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Bücher zum Anfassen. Alfred von Meysenbugs ComicStrips' (Glamor-Girl und Supermädchen)

Eine Tendenz bildet sich heraus. Sie wird getragen durch die Verselbständigung von gattungsspezifischen Merkmalen. Erstens: aus dem Gattungsbereich 'schöngeistige Literatur' verselbständigt sich der Objektcharakter des Buches. Zweitens: aus dem Gattungsbereich 'bildende Kunst' verselbständigt sich der Bildvordergrund.

Zum ersten Punkt.
Das Buch als Objekt zum Anfassen und Mitsichtragen, das Buch als Greifgegenstand und als Befrieder konkreten Aneignungsverlangens wird in erster Linie bestimmt durch seinen Materialcharakter: einzelne und doch zusammenhängende Blätter. Daß sie einzeln sind und doch zusammenhängen, legt die Handhabung des Buches als Objekt weitgehend fest. Seine Handhabung besteht im Blättern. Das Buch wird zum Blätterbuch, wobei die Blätterarbeit vollständig dem Objektcharakter des Buches gerecht wird. Die Frage, ob denn Verlage mit ihren ungeheuer großen Buchproduktionen fortfahren sollen (weil es gar nicht genügend Leser für alle diese Bücher geben kann), ist somit beantwortbar: heute produzierte Bücher der Gattung 'So L.' haben in erster Linie kurzfristige Befrieder von Aneignungsverlangen zu sein. Dafür kann es gar nicht genug Bücher geben.

Zum zweiten Punkt.
Verleger bekunden, daß die Blindbandmanie grassiere. Auf Messen werden mehr Blindbände als ausgedruckte Bücher gestohlen. Das ist ein Fingerzeig. Offensichtlich glauben die Aneigner solcher Bücher, sich auf den leeren Seiten selbst als Produzenten aktivieren zu können. Die Sehnsucht, sich selbst als Ursprung von irgend etwas zu sehen, was man sonst nur als Fremdes bewundert und konsumiert, wird natürlich nicht gestillt. Das angekritzelte und teilweise beklebte Buch wandert in die Gerümpelecke.
Was so als Bedürfnis erkennbar ist, geht doch in den objektiven Inhalt von Büchern ein. Das sind Bücher, deren Text-Bildzuordnungen weitläufig sind, so daß der Gebraucher Ergänzungen produzieren kann, die ihm beim Gebrauch des Buches das Gefühl der eigenen Beteiligung geben. Diese Ergänzungen sind am leichtesten dann möglich, wenn sie nur den Hintergrund zu angedeuteten, vereinzelten, verkürzten Informationssignalen auszumachen brauchen. Die Signale müssen deshalb kräftig, plakativ und 'nah' sein. Das Nahe und unmittelbar vor Augen Stehende gibt an, wie sehr man an der Sache dran sei und in sie einbezogen werde. Das Nahe ist der gute alte Bildvordergrund. Er bläht sich zur Bildfläche auf. Das Blatt wird zur Konfrontationsebene.
Die neue Tendenz des Gebrauchs von Büchern ist also: Verschmelzung von Objektcharakter des Buches mit der gesteigerten Konfrontationserwartung seines Konsumenten.
Im Heinrich Heine Verlag sind zwei Bücher erschienen, die diesen Bedingungen aufs höchste entsprechen. Glamour Girl und Super-Mädchen wurden gezeichnet und getextet von Karl Alfred von Meysenbug. Super-Mädchen ist ein Mehrfarbendruck im Format 29 x 32 cm. Glamour Girl hat Paperbackformat. Beide Bücher sind Comicstrips. Beide Bücher sind Blätterbücher, deren Seiten man vorzüglich von hinten nach vorn vom Daumen schnalzen kann. Der sich dabei erzeugende Informationsschleier ist dicht genug, um auch die Konfrontationsebene 'Seite' anzugehen. Die Aneignung durch Kaufentscheid kann sofort erfolgen, weil auf jeder Seite der angedeuteten Tendenz entsprochen wird. Jede Seite kann das Buch als Ganzes repräsentieren.
Meysenbug erreicht das durch starke Vereinheitlichung der 'Einstellungen', die er zeichnet. Es gibt kaum Totale und Halbtotale. Die Nahaufnahme dominiert, gefolgt von der Amerikanischen, der Großaufnahme und der Ganznahaufnahme. (Meysenbug zeichnet nach von ihm gemachten Fotografien.) So hat der Gebraucher das Gefühl, den Girls ins Gesicht zu atmen oder ein Messer in die Hand gedrückt zu bekommen oder Dialogpartner zu sein. Meysenbugs Vermögen besteht darin, auf jeder Seite ein besonderes Verhältnis zwischen Einzelbild und Bilderfolge des Comic herzustellen, was ehrgeizige Werbung ebenfalls zu erreichen versucht. Meysenbug ist auf die konkrete Kontinuität der Comicabfolge nicht angewiesen, weil sie durch das Blättern ersetzt wird. Super-Mädchen kann völlig die Kontinuität der erzählten Geschichte in die Kontinuität des Weiterblätterns überführen. Texte, die versuchen, den Zusammenhang im Sinne einer Zeit- und Handlungsfolge zu verdeutlichen, wirken aufgepappt
Die angewandte Methode der plakativen Bildvordergrundsbestimmung verführt manchmal den Gebraucher zur Mystifizierung der vereinzelten Körperpartien und Gegenstände, anstatt sie durch Vorstellung zu erweitern. Im Gegensatz zur Werbung dürfte es Meysenbug aufs Mystifizieren nicht angekommen sein. Ihm scheint es um jene Form von Instrumentalismus zu gehen, den Stummfilme praktizierten, wenn Türgriffe groß im Bild erschienen, um anzudeuten, daß jemand sogleich auf fürchterliche oder verschlagene Weise hereinkommen werde. Durch diesen Instrumentalismus wird auch die Vielzahl von Zeigegesten, Bedeutungsblicken und Demonstrationshaltungen verständlich, die dem Personal der Comics zugemutet werden.
Und das nicht nur im Bild, sondern auch verbal. Denn Meysenbug will die Usurpation des Comic vom Zeitvertreib zur Zeitbestimmung erreichen. Der kommentierende Text beschreibt die Verlaufsformen heutiger Sozialisationsversuche. Super-Mädchen ist Verkäuferin, die langsam begreift, daß sie dabei immer nur sich selber verkauft. Deshalb gibt sie der Wahrheit die Ehre und geht auf die Straße. Glamour Girl liegt und lebt auf der Straße, bis sie begreift, daß nur der politische Zusammenschluß mit anderen ein Organisationsprinzip ihres Lebens sein kann. Als Verkäuferin ist man Hure, aber als Hure hat man die Chance, sich seiner Lage bewußt zu werden.
Der kommentierende Text leistet die notwendige Literarisierung des Bildes, die erst Rückschlüsse des Autors auf sich selbst ermöglicht. Wenn der Autor sich in seinem Verhalten so eindeutig motivieren kann, hat auch der Gebraucher der Meysenbugbücher die Möglichkeit, sich neue Motivationen für 'Leseverhalten' zuzulegen.
Die Konfrontationserwartung wird doppelt erfüllt. Der Gebraucher kann sich selber an der Materialorganisation (z.B. durch Ergänzung) beteiligen, und der Gebraucher erhält neue Motivationen. Der Vordergrund wird zur Tiefe. Der Gebrauch und die Produktion von Büchern solcher Art sind ernstzunehmende soziale Verhaltensweisen.

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