Buch März-Texte 1

März-Texte 1, Bild: 1969.
März-Texte 1, Bild: 1969.

"Neben Auszügen aus den geplanten Titeln (werden) unveröffentlichte Texte aufgenommen, Marginalien, Beiträge, die speziell für diese Bände geschrieben werden, vor allem aber auch Texte von deutschen und ausländischen Autoren, die unabhängig davon, ob diese Autoren später erscheinen werden, in die Bände aufgenommen werden" (Klappentext). Der Almanach wurde 1984 nachgedruckt und zusammen mit "März Texte 2" als "Mammut" neu herausgegeben. - Erstdrucke von R.D. Brinkmann, Mary Beach, Brock, Burroughs, Chotjewitz, Nitsch, Rygulla u.a. (Seinsoth 49), Erber-Bader II.

Inhalt

5 Statement
7 Bazon Brock • Gerüstgrundriß für Übersichtsleser
15 Charles Plymell • Pilze oder Playboy ist hier
20 Drei junge Lyriker aus England
24 Resolution zur Frage des Schulkampfes
30 Mary Beach • Die elektrische Banane
42 Günter Seuren •Schräge Vögel
48 Joel Deutsch • Brief
50 Ron Padgett • Ein Gedicht
51 Todd Gitlin • Agression oder Widerstand – der Beginn des Bürgerkriegs in Griechenland 1946
57 Peter O. Chotjewitz • Zwei Sterne im Pulver
66 J. G. Ballard • Liebe + Napalm =Export USA
70 Ralf-Rainer Rygulla &Rolf Dieter Brinkmann • Der joviale Russe (nach Apollinaire • La jolie rousse)
71 G. Apollinaire • La Jolie Rousse
75 Ulf Miehe • Mit allen Wassern
77 William Mahoney • Reisen im Süden: Eine kalte Nacht in Alabama
82 Irving Rosenthal • Trocchi's Bude
96 LeRoi Jones • Schwarze Musik
100 Edgar Snow • »Sie singen zuviel«
106 Rolf Dieter Brinkmann • Vanille
145 William S. Burroughs • Die Zukunft des Romans
148 Rolf Eckardt John • Das Weiche im Weichen
153 Uwe Schmidt • Stadt und Land
159 Im Namen der Republik
169 Hermann Nitsch • Drama als Existenzfest
176 Nitsch-Interview mit Jonas Mekas
183 Fielding Dawson • Blutstern
189 Don't Read it: Do it
190 Michèle Lalonde • Speak White
193 Jan Cremer • Made in USA
203 Pierre Vallières • Die weißen Neger Amerikas
209 Günter Seuren • Kernzone
220 E. Sinzig • Taubnesseln
224 Nicht angetörnt • über Potskommune, Linkeck und ihre Zeitungen
234 Edgar Snow • Rote Horizonte
248 Helmut Pieper • In der Verlängerung
253 Lenore Kandel • Liebeslied für Schneewittchen
254 Svend Age Madsen • Lüste und Leichen
260 Wulf Teichmann • Homage to Mingus
261 Thorvald Proll • Gedicht
262 Ted Berrigan • Drei Gedichte
270 Peter O. Chotjewitz • Gespräch mit Lesmor Bruit
277 Augustin Souchy • Bürgerkrieg und Revolution in Spanien
283 Interview mit einem Verleger • à la Paris Review Interview
297 Peter J. Schmidt • Partymädchen gefoltert
301 Anmerkungen
315 1. März Bibliographie

Erschienen
1968

Verlag
März Verlag

Erscheinungsort
Darmstadt, Deutschland

Umfang
320 Seiten

Einband
Softcover

Seite 7 im Original

Gerüstgrundriß für Übersichtsleser

(1)

Zur lang erwarteten Antwort Bazon Brocks auf die Frage »Was wird«

Ziel jeder gesellschaftlichen Praxis ist die Veränderung der bestehenden Bedingungen der Existenz aller im gesellschaftlichen Zusammenschluß.

Veränderung heißt Fortschreiten der Befreiung der Menschen aus Natur- und Gesellschaftszwängen. Dabei geht es um die Aufhebung nicht notwendiger aber durch Herrschaftsinteressen immer noch durchgesetzter Zwänge, also um die Aufhebung von Repression.

Ausgangslage dafür ist der Stand der Auseinandersetzung zwischen der Gesellschaft der Menschen und der Natur. Für unsere Gesellschaft kann als richtig angenommen werden, daß die Entfaltung gesellschaftlicher Arbeit bei weitem die Naturgegebenheiten übertrifft. Das heißt, die Formen der gesellschaftlichen Zusammenschlüsse können sich nicht mehr berufen auf Naturgegebenheiten und Naturnotwendigkeiten.

Wenn das Wesen gesellschaftlicher Arbeit als Aufhebung von Naturdetermination beschrieben werden kann und wenn diese Aufhebung soweit fortgeschritten ist wie in den westlichen Industriegesellschaften, dann hängt die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen nur noch von den Zielvorstellungen ab, die diese Menschen von ihrem guten Leben haben.

Wenn sich die Entscheidungen über die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht mehr aus Naturnotwendigkeiten ableiten lassen, heißt das, daß sie durchgehend nur noch aus politischer Beschlußfassung im Hinblick auf die vorgestellten Ziele begründet werden können.

Deshalb ist der Weg zur Veränderung der gegebenen Lebensbedingungen heute die Politisierung aller Lebensprozesse.

Über die Mittel der Verwirklichung solcher Einsichten besteht bisher keine Übereinstimmung. Die klassische Vorstellung geht davon aus, daß sich die Interessenten auf der Basis ihrer gemeinsamen gesellschaftlichen Lebensbedingungen (Klassenlage) solidarisieren und so im aktiven Kampf ihre Ziele verwirklichen.

Nach den bisherigen Erfahrungen kann solche Solidarisierung nicht zustande kommen, weil die Herrschenden über die Bedingungen ihrer Herrschaft zu genau Bescheid wissen.

Es ist nicht zu erwarten, daß die Herrschenden gegen die ihnen von den Wissenschaften zur Verfügung gestellten Erkenntnisse handeln werden.

Das wäre der Fall, wenn sich diese Gesellschaft aufgrund der Uneinsichtigkeit von Herrschaftsinhabern total faschisieren würde. Es ist möglich, die allgemeine revolutionäre Praxis gesellschaftspolitisch aktiver Gruppen zu beschreiben als den Versuch, die Herrschenden zur Entfaltung des wahren Wesens von Herrschaft zu zwingen. Es ist möglich zu sagen, daß diese Gruppen eine Faschisierung unserer Gesellschaft betreiben, um den Herrschaftsanspruch total werden zu lassen. Käme es zu einer solchen totalen Faschisierung unserer Gesellschaft, dann bestünde tatsächlich eine Chance zur Überwindung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse durch Solidarisierung aller Betroffenen. Dann würde sich also die Veränderung der gegebenen Bedingungen im Rahmen der klassischen Vorstellung revolutionärer Praxis vollziehen können.

Da das Wissen der Herrschenden über die Bedingungen ihrer Herrschaft in den vergangenen 100 Jahren sehr groß geworden ist, steht nicht zu erwarten, daß sich die Herrschenden in die Positionen drängen lassen, aus denen sie mit den klassischen Mitteln revolutionärer Praxis vertrieben werden könnten.

Es ist deshalb notwendig, eine Strategie der Veränderung gegebener gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zu entwerfen, die von diesem Tatbestand ausgeht. Das Buch »Was wird« entfaltet solche Strategien als Strategie der affirmativen Praxis. Diese Strategie setzt an beim Willen der Herrschenden auf Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft; sie setzt an bei dem Hauptcharakteristikum leistungsfähiger Systeme, das darin besteht, daß sich diese Systeme notwendig selbst erhalten wollen und daß sie dieser Selbsterhaltung alles andere opfern.

Der Begründungszusammenhang von Herrschaftsideologie und ökonomischer Macht ist inzwischen nicht mehr so eindeutig wie in den Zeiten von Karl Marx. Das hängt mit der Zunahme der Komplexität der gesellschaftlichen Produktionsformen zusammen, die auch von einem noch so potenten einzelnen Produzenten nicht mehr autonom gesteuert werden können, was bedeutet, daß solche einzelne Herrschende die Kennzeichnung ihrer Herrschaft nicht mehr aus der tatsächlichen Verfügung über ökonomisches Potential ableiten. Die Gewichtigkeit der ideologischen Begründung des Wesens von Herrschaft hat für die einzelnen Herrschenden sichtbar zugenommen.

Deshalb muß es darauf ankommen, die unmittelbare politische Praxis der Herrschenden mit ihrem ideologischen Selbstverständnis zu konfrontieren, denn von diesem ideologischen Selbstverständnis wird die Begründung von Herrschaft in unserer Gesellschaft getragen. Das ideologische Selbstverständnis der Herrschenden bestimmen Kategorien wie Freiheit, Gleichheit, Gewaltentrennung, Fortschritt, Zukunft, Glück, gesundes Leben, Verantwortung für das Ganze, intellektuelle Überlegenheit, Bildung, Kunstverstand etc. Diese Kategorien entfalten sich im Grundgesetz, in der Sphäre gesellschaftlicher Kommunikation wie z. B. der Werbung.

Die Strategie affirmativer Praxis versucht, die Herrschenden beständig mit ihrem Selbstverständnis, sprich ihrer Herrschaftsideologie zu konfrontieren. Sie versucht nicht, die Herrschaftsideologie zu zerstören mit den Mitteln der konkreten Negation. Sie versucht, aus dem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Realität und Herrschaftsideologie, der ja offensichtlich ist, Veränderungen zu erzwingen, weil die Herrschenden von ihrer ideologischen Begründung total abhängig sind.

Die angestrebten Veränderungen bestehender Lebensbedingungen werden ermöglicht durch Zustimmung (Affirmation) zur herrschenden Ideologie, wobei in dieser Zustimmung für die Herrschenden der Zwang entwickelt wird, ihrem Selbstverständnis zu gehorchen.

Die Politisierung der Lebensprozesse kann dadurch geleistet werden, daß die einzelnen Bürger die Realisation der Vorstellungen verlangen, die die Herrschaftsideologie entwickelt hat. Anstatt sich wie die Kulturkritik gegen die in der Werbung vermittelten Vorstellungen von Schönheit, Gesundheit, Verfügungsfreiheit zu wehren, sollen die einzelnen Bürger veranlaßt werden, zu verlangen, daß sie diese Schönheit, Gesundheit und Verfügungsfreiheit tatsächlich erhalten.

Auf diesen Ansatz wird leichtfertig geantwortet, daß die Herrschenden ja weiter die Herrschenden blieben, auch wenn sie, um weiter Herrschende zu bleiben, weitgehende Zugeständnisse auf Erfüllung unserer Forderungen machen. So Argumentierende scheinen auf kindliche Formen konkretistischer Projektion zurückgefallen zu sein denn es dürfte ziemlich gleichgültig sein, wer in Person Herrschaftsgewalt innehat, wenn diese Gewalt keine mehr ist, und sie ist keine mehr, wenn die über sie Verfügenden gezwungen werden können, die Vorstellungen der Verfügten zu realisieren.

Beispiel zur Taktik:
In einem Gymnasium erläßt der äußerst autoritäre Direktor ein generelles Rauchverbot. Eine Gruppe von Schülern ist bemüht, das Rauchverbot abzuschaffen. Das wäre sehr einfach möglich, wenn eine Solidarisierung aller Schüler gegen das Verbot zustande käme. Die Gruppe von Schülern erfährt, daß solche Solidarisierung nicht hergestellt werden kann. Sie argumentiert und widerspricht konkret den Begründungen des Rauchverbots durch den Direktor. Der Direktor läßt sich von solchen Widersprüchen natürlich nicht beeindrucken, weil er (gestützt durch die ihn tragende Ideologie) für sich in Anspruch nimmt, selber zu bestimmen, ob in der Schule geraucht werden soll oder nicht. Der Zustand der Auseinandersetzung zwischen Direktor und der interessierten Schülergruppe bleibt für das Leben an der Schule recht unerheblich.

Wird unter Anwendung der entwickelten Strategie und der sich aus ihr ergebenden Taktik vorgegangen, dann ist das Problem schnellstens zu lösen: die interessierte Schülergruppe hat den ideologischen Begründungen des Direktors nicht zu widersprechen, sondern ihnen zuzustimmen. Diese Gruppe wird also täglich 200 Anzeigen wegen Verstoß gegen das Rauchverbot beim Direktor erstatten. Aufgrund der ihn tragenden Ideologie kann der Direktor Autoritätsverlust nicht riskieren, deshalb muß er die Angezeigten mit den Bestrafungen belegen, die er bei Verstoß gegen das Verbot angedroht hat. Spricht er aber täglich solche Strafen aus, dann würde er sehr schnell eine Solidarisierung aller Schüler riskieren, die ihn zwingen würde, das Rauchverbot aufzuheben. Der Direktor würde jedenfalls seine Autorität verlieren, wenn er keine Strafen ausspräche, das Rauchverbot aber aufrecht erhalten würde. Um seine Autorität zu wahren, bleibt ihm Begründungen nichts anderes übrig, als das Rauchverbot aufzuheben und dafür Begründungen anzugeben, wie sie seine Ideologie ihm nahelegt, z. B. nur das Beste für die Anvertrauten gewollt zu haben, aber natürlich nicht gegen den Willen der ihm Anvertrauten. In diesem konkreten Fall ging es um Aufhebung des Rauchverbots, sie wurde erreicht. Der Direktor aber ist weiter der Direktor, und um weiter Direktor bleiben zu können, mußte er den Vorstellungen der Schüler genügen. In diesem konkreten Falle hieß »Direktorsein«, nach Gutdünken Rauchverbot erlassen zu können. Da gezeigt wurde, daß er das nicht konnte, wurde auch gezeigt, daß Direktorsein ohne die Möglichkeit solcher willkürlicher Setzungen nur wenig bedeutet. Zumal dann, wenn auf dem gleichen Wege taktischer Operation in allen anderen Bereichen des Schulwesens die willkürlichen Setzungen des Direktors aufgehoben werden können. Ist das erreicht, so dürfte es realitätskontrollierten Schülern egal sein, daß der Direktor der Direktor bleibt.

Die Strategie der affirmativen Praxis ist von den Marxschen Vorstellungen von Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise deutlich zu unterscheiden. Für Marx begründete sich die Hoffnung auf Veränderung aus dem Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und den Produktivmitteln. Marx sah, was richtig ist, daß nämlich aufgrund der kapitalistischen Produktionsbedingungen die Produktivmittel immer weiter entwickelt werden müssen. Er glaubte, was nicht richtig ist, daß sich die Differenz zwischen Entfaltung der Produktivmittel und Produktionsverhältnissen immer weiter vergrößern würde, worin mit Notwendigkeit das Potential der Veränderung anzutreffen sei. Für eine solche Hoffnung war es notwendig, gesellschaftlichen Überbau und die Basis so zu beschreiben, wie Marx das getan hat. Diese Bestimmung des Verhältnisses von Überbau und Basis ist inzwischen hinfällig geworden. Aus der Bestimmung müssen wir aber in unsere Analyse hinübernehmen die Notwendigkeit der Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivmittel für jede Form kapitalistischer Produktionsweisen. Das heißt, die Herrschenden können nicht den erreichten und noch zu erreichenden Stand der Auseinandersetzung mit der Natur rückgängig machen, um Veränderungen zu verhindern. Die Strategie der affirmativen Praxis kann also tatsächlich davon ausgehen, daß die Möglichkeit realer und materialer Veränderung der Lebensbedingungen nicht eingeschränkt werden kann, was wiederum bedeutet, daß es keine zukünftigen Gesellschaftszustände geben kann, die auf Anderes als auf politische Beschlußfassung zu ihrer Begründung angewiesen wären. Abgesehen davon, daß inhuman wäre, die Lebensbedingungen der Einzelnen auf einen historischen Stand zurückzunehmen, nur weil mau dann hoffen könnte, daß die Not der Einzelnen ihren Willen zur radikalen Veränderung der Gesellschaft ausbilden würde, ist es auch unmöglich, politische Praxis heute darauf zu begründen, sich den schon vorliegenden Leistungen gesellschaftlicher Cooperation durch Verweigerung entziehen zu wollen.

Tatsächlich aber hofft ein Großteil politisch bewußt agierender Gruppen, durch Verweigerung der Teilnahme Veränderungen erzwingen zu können. Die Strategie der affirmativen Praxis ist geeignet, unter den gegebenen historischen Bedingungen auch die Verweigerungsstrategie als Resultat klassischer konkreter Negation objektiv zu überwinden.

Nimm und lies, lern und praktiziere, was das Buch »Was wird – Zur Revolution des Ja« dir zu bieten hat.

(1) »Was wird – Zur Revolution des Ja«, siehe 1. März-Bibliographie [Bazon Brock, WAS WIRD – Zur Revolution des Ja. 340 Seiten, Kunststoffeinband, DM 16,–]. Ob das Buch je erscheinen wird, ist von BAZON BROCK nicht zu erfahren.

siehe auch: