Buch Die Anderen unter uns

Von Menschen und Pseudomenschen. Eine Science-Fiction-Anthologie

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Aus dem Englischen von Wulf Bergner. Nachwort von Bazon Brock.

Erschienen
1964

Herausgeber
Nolan, William F.

Verlag
Melzer

Erscheinungsort
Darmstadt, Deutschland

ISBN
B0000BT3W9

Umfang
438 S. ; 8

Einband
Lw. : 19.80

Möglichkeitsbeschreibungen - die Welt der Androiden

In dem S.-F.-Sammelband "Die Anderen unter uns" werden sehr spezielle Themata aus dem Bereich der S.-F. abgehandelt. Allen Geschichten gemeinsam ist das Problem der Menschmaschinen: der Androiden.

Historisch gesehen entstammen sie ihrer Erscheinung nach dem Rechenautomaten, der Marionette und dem Problem der Automatisierung von Produktionsabläufen.

Ganz sicher sind sie ihrer Begründung nach verbunden mit dem Problem der abgeschafften Sklavenarbeit. Die Griechen hatten sich Rechtfertigung dafür erarbeitet, daß es sich bei den Sklaven um Menschen einer anderen Kategorie und Lebenshöhe handele, die als Arbeitsautomaten die Grundbedingung für die Existenz der griechischen Gesellschaft waren. Der Begriff der schöpferischen Arbeit und des Denkens und somit des menschenwürdigen Lebens war für die Griechen an die Tatsache gebunden, daß die Menschmaschinen als Sklaven die zur Reproduktion der Menschen notwendige Arbeit verrichteten.

Diese Begründung wird heute wieder aufgenommen als Möglichkeit der Befreiung der Menschen aus der Arbeitsteilung und ihren historischen Konsequenzen. In der Tatsache, daß die Roboter Menschengestalt erhalten, liegt die Erinnerung an den Ursprung ihrer Existenz. Die Mechanik der gesteuerten Arbeitsverrichtungen der menschlichen Sklaven (gesteuert durch Befehl) überträgt sich in die Konstruktionsprinzipien der Roboter als mechanische Sklaven. Schon sehr früh hat es z.B. mechanische Roboter gegeben, die musizierten oder tanzten oder auch Schach spielen konnten.

Auch wenn heute nicht mehr die Mechanik die Konstruktionsprinzipien der Roboter ausmacht, wird der Bau von Robotern dennoch unter dem Gesichtspunkt der künstlichen Hervorbringung von Sklaven betrieben. Das ist jedenfalls ein Zweig der Entstehungsgeschichte der Androiden.

Der zweite ist der Weg über den Austausch von Organen in lebenden Menschen, eine Mechanisierung der Menschen von innen. Für die schließliche Realisierung der Vorstellung von den Androiden scheint dieser zweite Weg wichtiger und aller Wahrscheinlichkeit nach auch derjenige zu sein, den man beschreiten wird.

Der Grad ist noch nicht festgelegt, bis zu welchem die Organe eines lebenden Menschen gegen künstliche ausgetauscht werden können. So weit es sich abschätzen läßt, gibt es dafür überhaupt keine Grenze. Nieren-Herz-Lungen-Einheiten als tragbare Organe sind bereits in der Konstruktion. Die Systeme der Blutzirkulation in festen Bahnen sind bereits weitgehend durch künstliche ersetzbar. Der Abstand zwischen den Vorstellungen der S.-F.-Autoren und den Realisationsmöglichkeiten dieser Vorstellungen ist nur noch sehr gering.

Alle Autoren des genannten Bandes gehen davon aus, daß das Problem nicht mehr die Verwirklichung künstlich (mechanisch) konstruierter Menschmaschinen ist, sondern die Existenz und Ko-Existenz lebender Menschmaschinen, der Androiden.

An erster Stelle in dieser Problematik steht die Frage nach der Identität der Androiden. Es gibt unter ihnen zwei Entwicklungsstufen. Erstens diejenigen, die nur selbststeuernde Systeme sind, ohne die Möglichkeit der Veränderung; und zweitens diejenigen die selbststeuernde und selbstreproduzierende Systeme sind mit der Möglichkeit, Mutationen zu durchlaufen, also Veränderungen ihres Bauplans selber durchzuführen.

Für die ersteren ist die Frage der Identität noch verhältnismäßig einfach zu lösen: sie wird ihnen nach der Art ihrer Programmierung ein für allemal zugeteilt. Und sie haben sich an diese Identität zu halten als Arbeitsandroid, Unterhaltungsandroid usw. Die Identität liegt noch im Begriff der Menschmaschine und wird aus ihm abgeleitet.

Für die andere Gruppe der mutierenden Androiden ist das nicht mehr möglich. Und hier beginnt sich die Problematik abzuzeichnen, aus der in Relation zu uns die Autoren ihre Geschichten entwickeln. Denn die Identität der Androiden höherer Klasse kann nicht mehr gegen die der Menschen abgeteilt werden. Die Menschen verlieren die Möglichkeit, die Androiden zu kontrollieren, wenn sie sie nicht mehr als bloße Konstruktionen unter spezieller Aufgabenstellung verstehen.

Hatte man bisher die technischen Veränderungen als künstliche Mutierung der Menschen selber verstehen können (etwa das Auto als Mutation der Beine), so werden die Androiden höherer Stufe zu Formen der mutierten Menschen als Gattung. Die höhere Form der Entwicklung der Menschen ist dann der Android.

Daß die Menschheit in der entwicklungsgeschichtlichen Reihe ihrer Entstehung immer noch mutiert, ist wohl unbezweifelbar. Und daß darunter nicht nur die Veränderung des genetischen Materials selber zu verstehen ist, ist auch unbezweifelbar. Denn die extragenetische Vererbung als Kulturgeschichte der Menschen hat längst die Bedeutung der genetischen in den Schatten gestellt.

Für die S.-F.-Autoren ergeben sich daraus neue Konfliktsituationen, die nicht einmal so sehr von den uns bisher bekannten abweichen.

Als eine Konfliktsituation könnte man den zu erwartenden neuen Klassenkampf zwischen den unterprivilegierten Androiden und den Menschen bezeichnen. Die Androiden höherer Stufe vermögen selber abzuschätzen, welche Konsequenzen innerhalb der Gesellschaft zu erwarten sind, wenn sie zum Beispiel ihre Arbeit einstellen würden. Da diese Konsequenzen das Überleben der Menschen infrage stellen würden, leiten sie daraus ihren Anspruch ab, selber mit den Menschen gleichgestellt zu werden. Viele Geschichten zeigen solche Auseinandersetzungen.

Es ist klar, daß uns schon sehr bald solche Probleme in etwas weniger drastischer Weise beschäftigen werden. Wenn die Organverpflanzungen und die Möglichkeiten der künstlichen Ersetzung ganzer Organeinheiten in gewisser Breite gegeben sind, werden wir darüber zu entscheiden haben, ob zum Beispiel ein Mann mit einem künstlichen Herz-Lunge-Nieren-System Bundeskanzler werden kann. Oder ob es möglich ist, Entscheidungsgewalt an jemanden zu delegieren, der seine und anderer Leute chemische und elektrische Steuerungs- und und Speichervorgänge künstlich beeinflußt, angefangen vom Rauschgift bis zur chemischen Veränderung der Langzeitspeicherfunktionen bestimmter Zellen. Noch problematischer wird der in den Geschichten angedeutete Entwicklungsverlauf, wenn die Menschen erkennen müssen, daß sie als Gattung nur noch in Gestalt der Androiden überleben werden. Wenn also die höhere Anpassungsfähigkeit der Androiden, ihre überlegene Intelligenz, ihre billigere Reproduktion, ihre größere Unabhängigkeit von der Versorgung usw. sie als den Menschen deutlich überlegene Wesen ausweist. Dann ist der Zeitpunkt nicht fern, an welchem die Führung und Ausübung der Macht auf die Androiden übergehen wird.

Es ist fast rührend zu sehen, wie die Autoren unserer Geschichten immer wieder versuchen, diesen Moment abzuschwächen. Wie sie versuchen, den Konsequenzen ihrer Erkenntnisse aus dem Wege zu gehen, wie sie die Tätigkeit der Androiden in die Form einer Geheimbündelei kleiden, die das Gelingen ihrer Pläne wahrscheinlich nicht ermöglichen wird. Oder aber wie sie den Androiden höherer Stufe gar notwendig die Vorstellung zusprechen, sich gegenüber den unterlegenen Menschen einer gewissen menschlichen Ohnmacht nicht enthalten zu können und immer den Mangel an Schwäche, an menschlichen irrationalen Reaktionen und Handlungsweisen verspüren der sie dazu verführt, ihre über die Menschen hinausgehenden Fähigkeiten nicht zu entfalten. Sie lassen sich zu Ungerechtigkeiten, zu Haß und Brutalität verleiten, nur um den Menschen ähnlicher zu werden, denen sie doch weit überlegen sind.

Aller Wahrscheinlichkeit nach aber haben diese Autoren sich zu solchen Abschwächungen nur hinreißen lassen, weil sie erstens daraus in der Vorgegebenheit der Erzählform Momente der Erzählungsgestaltung ableiten (Spannung, Dramatik) und zweitens so dem Verbot entgehen, das als gesellschaftliche Kontrollfunktion verschiedentlich institutionalisiert ist und das die Auflhebung des bestehenden Gleichgewichts verhindern soll. Auch innerhalb nicht statischer, sondern gleitender Gleichgewichte sind solche Kontrollen notwendig, sonst würde es möglich, daß die Antizipationen der letzten Konsequenz als Druckmittel benutzt werden könnten, denn immer noch lassen sich die Menschen am leichtesten durch Furcht zur Unterwerfung zwingen. Es muß aber doch verstanden werden, daß die gechilderten Konsequenzen eben nicht die uns unmittelbar drohenden sind; unsere Fähigkeiten, mit solchen Konsequenzen fertig zu werden, werden sich auch geändert haben bis zur Erreichung des Zustands, in dem diese furchteinflößenden Konsequenzen wirklich werden. Aber eben nicht mehr als furchtbare.
Was alle Geschichten in einem weiteren Zusammenhang gemeinsam haben, ist der Hinweis darauf, daß die Menschen sich davor fürchten, den durch sie selber entwickelten Vorstellungen von einem erfüllten Leben nahe zu kommen, sie verwirklicht zu sehen. Aber auch das ist eine Täuschung - denn es geht ja nicht um die fahrplanmäßige Realisation der Endzustandsvorstellungen. Es läßt sich über den Augenblick der Verwirklichung nichts aussagen, weil die dafür notwendigen Basiswerte dann nicht mehr vorhanden oder anwendbar sind.

Der wesentlichste Gesichtspunkt der Thematik der Androiden aber ist, daß die Menschen die Gewichtigkeit aller ihrer Probleme in Bezug auf die Androiden immer nur in Bezug auf die Tatsache verstehen, daß sie selbst sterben müssen. Daß ihr individuelles Leben begrenzt ist. Die Androiden aber zeigen eine Möglichkeit, diesen Faktor auszuschalten. Sie sind nicht mehr auf die Vermittlung der individuellen Existenz in das Fortbestehen der Gattung angewiesen. Sie brauchen nicht zu sterben. Und wenn wir die Androiden als eine höhere Mutationsform des jetzigen Menschen verstehen, so sind die Möglichkeiten außerordentlich günstig, alle diese Probleme in einer gewissen Gleichgültigkeit verschwinden zu lassen, weil es auf sie dann nicht mehr ankommt, da sie nicht mehr zu sterben brauchen.

Es besteht kein Zweifel daran, daß die Abschaffung des Todes möglich ist. Die Zeit, die es noch dauern wird, bis wir dazu in der Lage sind, ist ausschließlich abhängig von der Intensität, mit der wir gesellschaftliche Arbeit in die Lösung dieses Problems investieren. Da es sich aber bei der Abschaffung des Todes um das Grundproblem für die Lösung aller anderen handelt, sollte es doch denkbar sein, daß sich die vielen nationalen Gesetzgeber überzeugen lassen, Mittel bereitzustellen, die dafür notwendig sind. Nach neuesten Schätzungen ist dazu ein Kapital von 800 Milliarden Dollar nötig. Darin sind nach heutigen Maßstäben alle Zeit- und Personalkosten enthalten. Aber innerhalb der Entwicklung, innerhalb der gleitenden Gleichgewichte besagt das natürlich wenig. Wenn man heute eine solche Zahl sieht, scheint sie einem sehr groß und demzufolge das Problem nicht lösbar. Das ist eine Täuschung, der wir uns leider immer noch hingeben. Vielleicht ist es den S.-F. bei größerer Verbreitung möglich, die Vorstellungserweiterungen der Menschen allgemein soweit zu treiben, daß sich diese Täuschung allmählich verflüchtigt.

Daß wir darauf angewiesen sind, uns von unseren Täuschungen durch die angeblichen Lügengeschichten, Phantastereien und Märchen der S.-F. befreien zu lassen, ist beschämend. Für intelligente Menschen der früheren Zeiten mag es und ist es genauso beschämend gewesen, sich von den Täuschungen über den jeweils gegenwärtigen Zustand ihrer Gesellschaften durch die Märchen befreien zu lassen. Märchenlesen wurde zur größten Aufklärgebärde.

Es ist zwar richtig, daß wir heute solche Aufklärung nur noch durch die S.-F. erhalten können. Befriedigend aber ist es nicht, weil wir zuviel Zeit verlieren. Und noch haben wir diese Zeit nicht in unbeschränktem Maße.

Es bleibt zu überlegen, ob man nicht andere Veröffentlichungsformen finden sollte als die der S.-F., um allen Mitgliedern der Gesellschaft der Menschen dieses Problem als das sie unmittelbar betreffende darzustellen und daraus die notwendigen Tathandlungen zu gewinnen, um endlich frei zu werden von der Unabwendbarkeit des Todes.