Buch Die Anderen unter uns

Von Menschen und Pseudomenschen. Eine Science-Fiction-Anthologie

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Aus dem Englischen von Wulf Bergner. Nachwort von Bazon Brock.

Erschienen
1964

Herausgeber
Nolan, William F.

Verlag
Melzer

Erscheinungsort
Darmstadt, Deutschland

ISBN
B0000BT3W9

Umfang
438 S. ; 8

Einband
Lw. : 19.80

Science Fiction als Non-Fiction rezipiert

Hieran anknüpfend kann man versuchen, eine Betrachtungsweise der S.-F. zu entwerfen, die angemessener als die oben zitierten ist.

Ihre gattungsgeschichtliche Form als Novelle oder Essay im Blickfeld der Literaturwissenschaft ist der S.-F. ganz und gar äußerlich. Sie hängt von ihr nicht ab. Heute jedenfalls ist der überwiegende Teil der S.-F.-Autoren nicht Literat von Hause aus, sondern Wissenschaftler. Allerdings ließen sich Gründe dafür finden, daß sich diese Wissenschaftler in keiner anderen Form zu den von ihnen beschriebenen Problemen äußern können als in der literarischen. Und das heißt immer auch in Unverbindlichkeit und Nebensächlichkeit. Als literarische können Abhandlungen über Dinge gestattet sein, die sonst nur in Geheimdossiers der Regierungen und ihrer Funktionsträger anzutreffen sind. Und als literarischen kommen diesen Abhandlungen auch nicht Gewichtigkeit und Gefährlichkeit von Untersuchungen wie den Forschungsberichten zu, weil sie bloß der subjektiven Vorstellungskraft Einzelner entspringen. Für eine angemessene heutige Betrachtungsweise der S.-F. muß aber angenommen werden, daß es sich bei den Vorstellungen der S.-F.-Autoren nicht mehr um individuelle handelt. Man muß verstehen, daß sich die so produzierende Phantasie oder Vorstellungskraft längst kollektiviert haben.

Zwar gibt es auch noch so etwas wie Stile der einzelnen S.-F.-Autoren, wie die Unterscheidung und Bevorzugung durch die Leser anzeigt. Indessen sollte man diese Unterschiede aber eher als sachgebundene Eigentümlichkeiten der Vermittlung der Sachverhalte verstehen denn als literarischen Stilwillen.

Schließlich ist es sehr schwer, bei der neueren S.-F. überhaupt noch solche Unterscheidungen zu treffen. Die Notwendigkeit, für die ständige Erweiterung der angebotenen Vorstellungsinhalte zu sorgen, führt zwangsläufig zur Angleichung, weil eben das kollektive Reservoir allein noch als Quelle für solche Vorstellungen infrage kommt. Ein einzelner Autor hat wenig Chancen, dem Leser noch etwas bieten zu können, was für ihn Innovationswert hätte, was vom Charakter der Neuigkeit wäre. Und nur auf diese Innovation hin liest der heutige Leser die S.-F.

Was sich also als literarischer Stilwille anzubieten scheint, ist im wesentlichen ein Problem des Innovationsniveaus, der Dichte der Neuigkeiten, die den Fortgang der Handlung ermöglichen. Ist dieses Innovationsniveau gering, so muß der Autor des öfteren zurückgreifen auf Erfahrungen und Kenntnisse, die der Leser bereits hat und die er vor allem meistens aus dem hat, was er für Literatur hält. Die Eigentümlichkeit der Darstellung im S.-F. kann in dem die Geschichte bedingenden Verlauf beschrieben werden durch Innovation und Einfallslosigkeit, durch Neuigkeit und Rückverweisung oder Rückfall in Schonbekanntes.

Das jedoch ist kein literarischer Stil.

Für eine angemessene Betrachtungsweise der S.-F. ist es aber wichtig zu wissen:
Die S.-F.-Autoren bedienen sich dieses Mediums und seiner Form, um Vorstellungen zu publizieren, deren Publikation als offizielle, gesellschaftliche Kollektivität repräsentierende nicht möglich wäre, in der Form subjektiver, also privater Literatur, noch dazu als Fiction, jedoch zugelassen wird.
Die Vorgabe der subjektiven Phantasie und die der individuellen Ausdrucksformen ist eine Abschwächungsform, weil nur so abgeschwächt die vorgestellten Möglichkeiten erträglich und verständlich werden. Individuelle Ausdrucksformen sind nicht Resultate des Willens der S.-F.-Autoren, sich in ihrer Schreibweise zur unverwechselbaren Identität als Autor zu erheben, sondern Bezeichnungen ihres mehr oder weniger großen Vermögens, ein Mindestniveau an Innovation durchzuhalten.
Darüberhinaus sollte es für eine heutige angemessene Betrachtungsweise der S.-F. als sicher gelten, daß die S.-F.-Autoren als Wissenschaftler anzusprechen sind. Und das heißt, sie sind in der Lage, pointillistisch angedeutete oder beschriebene Phänomene in einen Zusammenhang miteinander zu bringen, der nicht nur die einzelnen Phänomene als begründete aufwertet und rechtfertigt. Einem Wissenschaftler ist es möglich, Einzelphänomene auch als gegeneinander unabhängige zu betrachten. Entscheidend aber ist, ob es ihm gelingt, Zusammenhänge so zu konzipieren oder zu erkennen, daß sich aus ihnen die Auffindung neuer, bisher noch unbekannter ergibt. Der aufgefundene Zusammenhang der Einzelmomente muß ein Verweisungszusammenhang sein, in dem sich die Bedeutung der einzelnen Momente abwägen läßt. Mit der bloßen Ergänzung zur kompletten Vorstellung ist es nicht mehr getan. So. erweiterten die S.-F.-Autoren ihre Fähigkeiten als Wissenschaftler um die des Literaten. Für die angemessene Betrachtung der S.-F. sollte also gelten: Die wissenschaftliche Ausbildung der S.-F.-Autoren ist Bedingung für die Beschreibung der zukünftigen Verhältnisse, damit diese Verhältnisse nicht nur als Ergänzungen zu heute bereits bestehenden bewertet werden können, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Stabilität als Gesamtheit, als System. Die wissenschaftliche Ausbildung ist jedoch keine ausreichende Bedingung, sondern bedarf des literarischen Gesamtentwurfs.

Drittes Fazit: Die Verweisungszusammenhänge sind in der modernen S.-F. so dicht, daß sich alle S.-F.-Geschichten gegeneinander kontrollieren. Das kann soweit gehen, daß Leser den Anschluß verlieren, wenn sie einzelne Glieder dieser Kontrollen durch Auslassen einiger Fortsetzungskapitel verpassen. (Daran sind die deutschen S.-F.-Serien aus den frühen sechziger Jahren gescheitert.)
Anstelle der gesellschaftlich-praktischen Realisation und der dafür benötigten Zeit tritt als Kontrolle der Publikationszwang zu bestimmten Terminen, weil die größere Zahl der S.-F. in Serien erscheint.

Widerrufe, Umdenken, Verwandlung der Ansätze und Verarbeitung unvorhergesehener Konsequenzen sind nur durch die Hervorbringung neuer kompletter S.-F.-Serien möglich. Hier liegt eine Gefahr für die Erstarrung der S.-F. zur zukünftigen Geschichte, die gar nicht erst gelebt zu werden braucht. Denn die Umstellung der Serien ist ein Finanzierungsproblem, das die S.-F.-Verleger oft nicht schnell genug lösen können oder wollen. Die Autoren überholen sich selbst. Ihre Schwierigkeit liegt im schnellen Veralten der Vorstellungen, wenn sie gezwungen sind, dem Serienanspruch auch gegen ihre Einsicht gehorchen zu müssen.

Immerhin hat die Form der Serienpublikation auch etwas Unerwartetes für sich: die Zeit zwischen Hervorbringung der Vorstellungen durch den Autor und ihre Publikation ist denkbar kurz: viel kürzer als in jeder wissenschaftlichen Publikationsweise. Die Wirkungsmöglichkeit der S.-F. ist dadurch besonders groß, wenn auch die Auswirkungen relativ lange auf sich warten lassen, denn die von den Wissenschaftlern den S.-F. entnommenen Vorstellungserweiterungen werden als konkrete Verwirklichungen manchmal Jahrzehnte hinter dem Zeitpunkt der ursprünglichen Hervorbringung herhinken. Auch das ist ein Investitionsproblem. Deshalb sind die Amerikaner nunmehr dazu übergegangen, alle Vorstellungen der S.-F.-Autoren, soweit sie wissenschaftlich genutzt werden könnten, zentral zu katalogisieren, und zwar doppelt nach Zeit- und Sachgruppen.

Es ist jedoch anzunehmen, daß die von der S.-F. hervorgebrachten Vorstellungen in sehr hohem Maße durch die Wissenschaftler ausgebeutet werden, ja daß sie sogar schon größere Bedeutung für die Erfindung neuer technischer Lösungsmöglichkeiten erhalten haben als die aus den sachimmanenten Forschungsarbeiten der Wissenschaftler hervorgehenden Lösungsmöglichkeiten. Die S.-F. hat der Wissenschaft die Planbarkeit des Zufalls und der aus dem Zufall entstehenden Lösungsmöglichkeiten demonstriert. Die unkontrollierten zufälligen Lösungsfindungen kraft Inspiration und Genie einzelner Wissenschaftler verlieren an Bedeutung. Die Techniken der Hervorbringung von neuen Vorstellungen und auch deren konkrete Inhalte im S.-F. sind unleugbarer Bestandteil der wissenschaftlichen Forschungs- und Findungsarbeit. In welchem Maße die S.-F. gar die psychische Konstitution der Wissenschaftler und Techniker bestimmt, um ihnen die Kraft und das Vertrauen in die Richtigkeit und Durchführbarkeit ihrer Arbeit zu geben, ist fast schon nicht mehr abzuschätzen. Die Außerungen der amerikanischen Astronauten belegen das.