Magazin FILM 11/1965

Eine deutsche Filmzeitschrift

Film 11/65
Film 11/65

Erschienen
01.11.1965

Verlag
Erhard Friedrich

Erscheinungsort
Velber bei Hannover

Issue
11/1965

Seite 44 im Original

Zum achten Male: Bazon Brock:

Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt

Der Ort der Ereignisse – die Architektur des Vergnügens

Wo es also war, was sich Vergnügliches ereignete, das Erinnerte, die Festlichkeit, der Inhalt des Photos fürs Leben: auf einer Wiese (darf ich jetzt das Bienchen bestellen, Schatz?): im Wohnzimmer des Freundes: in des Besenkammer der einklassigen Oberschule, im neuen Wagen mit Liegesitzen in Oasenziegenleder: auf dem Schneidetisch der Schreinerei: auf dem Kasernenhof: im Felde der Unehre: auf dem Sportplatz:
(bitte hier individuell weitere Örtlichkeiten eintragen)

Wo es also war, wo sich die geodätischen Linien trafen, wo sich die Kollision ereignete: eben am historischen Ort, den die Pilger des Zeitgeistes angehen, den die großen Linien befahren in allen drei Medien, dort, wohin man mit dem älter gewordenen Finger hinzeigt, wo man dies „Damals“ bedeutet – es hat seinen Ort. Gezwungen fast pinnen wir die Karten an die Wand und stecken den Weg ab, den wir gegangen sind, jedem Gefühl seinen eigenen Generalstab, jedem gewesenen Moment seinen Einsatzplan. Es hat seinen Ort, seine Bestimmbarkeiten und seien dies nur zwei Postkarten oder der finalistische Sarg auf den Schultern lieber Freunde von einst. Doch die privaten Schubladen sind zu klein geworden, das private Archiv und die Ausdauer sich selbst gegenüber gehören nur noch zu tausend toten Mommsens und Rankes: die Puzzelei am eigenen Charakter hat sich ins unheimliche Historienbuch verschlagen, worin die Anleitungen zum Leben denen zum Sterben aufs Haar angeglichen sind Aber: so merken wir freudig an: wir leben ja und benötigen so einen anderen Ort, das Leben seinen Ballast ablegen zu lassen, die ereignisreichen Reproduktionen zu betreiben.

Der Kultplatz war wohl einer und über Stationen hinweg war wohl zuletzt der Kinoraum, war der Ort des uneingeschränkten Gewesenen.

Indessen für das, was kommt, dürfte der Kinoraum herkömmlicher Architektur nicht mehr leistungsfähig sein und die Ideen gingen in ihm zugrunde. Die Geschichte des Films ist auch die seiner Vorfuhrräume – und da wir nunmehr den Film diese seine Geschichte in die Tresore verlegen sehen, dürfte auch das Ende des herkömmlichen Kinoraumes gekommen sein.

Die Voraussetzungen für eine neue Architektur des Ortes, der Stätte des Ereignisses, sind in den bildenden Künsten erarbeitet worden, in der Literstur, auf der Bühne.

Eine erste Voraussetzung ist die Erlösung des Publikums aus der sklavischen Fixierung auf das Ereignis selbst: mit der gekauften Karte hatte es zugleich das Gesetzbuch zu unterschreiben, sich dem was sich schickt, was die Feuerpolizei verordnet hatte, zu unterwerfen. Demzufolge wurde man auf seinen Platz gewiesen, woselbst sich die Fesseln einem um die Arme und Beine schlossen und nicht eher sich wieder öffneten als das Ereignis vorüber. Schon eine besondere Gunst war es, sich erneut erheben und aufs Klosett gehen zu dürfen. Die Anordnung der Sitze zwang den Betrachter hin zum unausweichlichen Geschehen, dem er sich physisch auszuliefern hatte. Das Senken der Lider blieb allein, sich für Sekunden abzusetzen: die Beschämung von Nebenan erfuhr man spätestens beim Hellwerden. Freilich es gehört Souveränität dazu, sich abzuwenden, einer Sache den Rücken zu kehren, ohne darauf zu hören, was eine solche Drehung den anderen suggeriert. Und es muß geübt werden: da allgemein in Schranken gut möbliert, könnte jedermann daheim des Tages viele Male seinem ihn fordernden Hausgeschehen den Rücken im Drehstehl kehren – minutenweise, denn das genügt.

In unserem Kino also müssen zunächst Drehsessel aufgestellt werden, die auch in der Vertikalen schwenkbar sind mitsamt der Fußauflagen, Schreibpültchen, Leselampe etc. Von jedem Platze freien Abgang über Rollböden.

Mit dem Sitzplatz oder Liegebett des Besuchers kippt auch das Bild, die Leinwand aus der starren Ebene, Böden und Decken werden bespielt, die Bildflächen auf 360 Grad erweitert.

Entweder stehen dann fünf von sechs oder elf von zwölf Projektionsflächen dem Publikum zu freiem Eingriff in den Filmablauf zur Verfügung, während im Zentrum der Film wie gehabt gezeigt wird (man kann also Stoppen, Schärfen ändern, rückwärtslaufen lassen, beliebig wiederholen) oder es werden simultan sechs oder zwei, Streifen gezeigt, deren Tonstreifen vom einzelnen Platz aus regulierbar wären.

Oder da liefert ein Mann ein wagnerianisches Opus für zwölf Filme und Tonsysteme, die er zueinander ordnet, deren Teile er sich gegenseitig interpretieren läßt, der Abend der Gaukler über Manche mögens heiß, Faust neben und zwischen, unter und auf im Westen nichts Neues und Grün ist die Heide, oder Privatleben und die Verachtung und Lemmy Caution greift ein und das Neueste von Godard gegen ein Portrait vom großen Patalabumbum. Da gäbs Arbeit für Philosophen und Soziologen, Politiker und Literaten und für Euch. Und was gäbs für uns alle?

Einen Taktdrauf, die Sinnesorgane zu trainieren, ein kleines Lustzimmer mit lieben Freundinnen und guten Ärzten, dazwischen allerwege zu essen und zu trinken die Fülle.

Und es wäre gut, einen Raum zu schaffen in wechselnden Tageszeiten nach Winter und Sommer, nach kalt und warm: denn wie wir aus Venedig wissen, ist es durchaus ein anderes, seinen Film im Freien zu sehen bei diversen Veränderlichkeiten den Wetters, der Umwelt, des Panoramas. Klimakammern sind doch heute eine Kleinigkeit der Technik. Desgleichen Saunen und Schwimmbäder, auf deren Wasseroberflächen, Decken, Materialflächen es sich angeregt dem Bild und Ton, der Schrift und Farbe folgen läßt.

Im Zentrum des Ganzen die Möglichkeit, seine privaten Schubladen auszuleeren und, was von einem selber berichtbar, zeigbar und wißbar ist, allen zu zeigen, alle wissen zu lassen. Wo man sich selbst besuchen geht, seine verschrumpelte Tante im Alter von 73 Jahren Weihnachten 1947 oder die Russen kommen, Einmarsch der Amerikaner in Syrakus. Kaiser Franz Josef auf dem Totenbett, Hindenburg wird Reichspräsident, Hitlers Schwester am Strickstrumpf, wie begann der Frühling in Berlin 1965 (Spezialist Heinz Ohff), wie rührt man zuhaust Margarine an, wer gewann die letzten Wahlen in Uganda: halt alles, was man so eine Totale des Lebens nennt, auch die der sogenannten Künste, der sogenannten DDR, der Medizin (wie nehme ich mir die Mandeln raus und warum), der Himmelskunde, der HUndezucht, des Landwirtschaft und der französischen Zensur. Es gäbe Kleiderkammern, in denen man sich nach Belieben bedienen könnte: einmal so wie Coco, dann wie der Kleist, wie Frau Bundespräsidentin oder wie Wagners Kindsmörderin, wie die Soldaten, oder wie die Feuerwehr, wie Hamlet oder John Glenn. Verzettelt und verwebt wie im Leben, dochdoch, eins mit dem anderen und jedes mit jedem, während dieses verschwindet und das den Hals reckt, während dieda laufen, jene schlafen. Ja schlafen. Eine der ältesten Forderungen urteilssicherer Menschen dieses Gewerbes ist die nach der Möglichkeit, in einem solchen Kinomuseumflugzeugbadewannenhaus auch schlafen zu können, die Nächte unter einem Spoerri verbringen zu dürfen, Wochen im Bett, dieweil alles weitergeht und man dennoch nichts verpaßt: nicht die Art, in der sich Mädchen um die Ecke drehen, Professoren das Podium besteigen, Sänger singen und Enten schnattern.

Selbst ein Eckchen für die Armen, die es bleiben wollen, laßt uns einrichten: sie repräsentieren die ewige Dummheit der Sprichworte, daß, wer verzichtet, überlegen sei, wer arm sei dafür glücklich, wer lange währte würde endlich gut.

Denn die Weisheit soll doch gelehrt werden, es werden in unserem Kino die Professoren lernen und die Schüler lehren, es werden die Priester beichten und die Gläubigen sich was erlauben, es werden die Reiter fliegen, die Hausfrauen heiter sein, es werden die Krebse aus dem Menschenleib auswandern und eßbar werden wie einst ihre Namensvetter, es werden die Kurzsichtigen weitsehen und wir alle alles wissen: denn wir lernen in unserem neuen Kino und werden nicht aufhören, – das Kino nicht verlassen, bis selbst die Bäume darauf eingehen und rückwärts blühen, damit wirs lernen.

Also eine einzige Adresse fürs Leben, fünf Millionen Menschen unter einem Dach: im Kino, in der neuen Architektur des Vergnügens, das es ist, zu leben. Oder etwa nicht? Aber es hätte wenigstens seinen Ort, seinen bedeuteten, fingerzeigbaren Platz. Let’s meet there, again and again.

Liebe Kinder, diesen Artikel schrieb Euch der Onkel Bazon diesmal in ganz einfacher Sprache, weil viele Menschen dem Onkel Bazon schrieben, er schreibe immer so, daß sie es nicht verstehen. Und daß es sie deshalb langweile, was Onkel Bazon sonst hier schreibt. Ich hoffe, es hat Euch diesmal gefallen und ihr werdet Euren Eltern berichten können, daß selbst ihr mich versteht und daß ich gar nicht komische Sachen schreibe. Nur lustige, freundliche, leicht verständliche wie alle Menschen in der ganzen Welt. Lernt fleißig, damit ihr mal klüger werdet als die vielen Menschen, die Briefe an Zeitungen schreiben, um energisch zu fordern, daß man überall schreibt, wie sie es verstehen und also schon wissen!

Überlegt mal, warum dann diese Menschen eigentlich in der Zeitschrift noch etwas lesen wollen?

Film Zeitschrift 11/65 Text S.44/45
Film Zeitschrift 11/65 Text S.44/45

siehe auch: