Magazin FILM 7/1965

Eine deutsche Filmzeitschrift

Film 7/65
Film 7/65

Erschienen
01.07.1965

Verlag
Erhard Friedrich

Erscheinungsort
Velber bei Hannover

Issue
7/1965

Seite 50 im Original

Zum vierten Male:

Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt: Bazon Brock:

Freiheit hinterher
Eddie Constantine, James Bond, Donald Duck und Bazon Brock in einem Boot

Bemitleidenswert, die lieben Kollegen von der Satzinhaltspartei und der Aussagenzwangswirtschaft wurden in höchstem Schiedsspruch um etliche Grade zur Seite gedrückt: Mister Lester erhielt in Cannes die Goldene Palme für einen Dreh, einen Knack, einen Knallfrosch. Bemitleidenswert sind sie, die doch mit langem Arm immer wieder verwiesen auf die Würde einer allgemeinen Aussage über des Menschen Los in Krieg und Not, das sich indessen zumeist ganz würdelos als Spektakel des Geschäfts darstellt. Solches Geschäft, auch als Filmkunst geübt, durch gute Absichten gestützt, wurde zum ersten Male in Cannes abgewiesen trotz der in allen Rezensionen betriebenen Bestechungsversuche mittels Menschheitspathos.
Bemitleidenswert, weil die Herren einerseits sich selbst erhöhen müssen, indem sie gegen die Bewußtlosigkeit des Zeitgeistes fromme Taten üben, andererseits ihre Reputation dadurch stärken wollen vorauszusagen, was jener Zeitgeist ihnen schließlich als Resultat vor die Augen halten könnte. Die frommen Taten waren die Plädoyers für die Kriegsfilme (weil sie zeigten, daß Krieg eine schlimme Sache sei) und die Problemfilme (weil sie zeigten, daß der Mensch des Menschen Wolf sei).
Das Eingehen auf den Zeitgeist kündigte sich nur indirekt an: die deutschen Kritiker versicherten, sie hätten zwar nicht die Qualitäten Lesters erkannt, aber noch rechtzeitig erahnt, als sein Beatles-Film in den Vorstadtkinos zu sehen war.

Dies Zugeständnis wurde nur gemacht, um sich nicht zu blamieren. Zu einer Revision des Urteils kam es nicht – zuviel stand ihnen auf dem Spiel –, zumal es in Deutschland nicht als erlernbare Tugend gilt, seine Niederlagen zu feiern als Befreiung aus der Fixierung auf gegebene Vorstellungen. Sollten diese Vorstellungen selbst wahre und richtige sein, aus ihrem moralischen Übergewicht und dem entstehenden Zwang, sie durchzusetzen, werden sie niederträchtig und der auf sie Fixierte bösartig – weshalb die Wahrheit immer nur wahr bleibt, das Unwahre aber die Verhältnisse zwingt.
Der Kritik kann nicht gelten, sich den Tatbeständen zu unterwerfen, sich der nackten Wahrheit zu unterstellen, soweit sie Kritik dessen ist, was es noch nicht gibt. Was da ist, ist verloren. Ganz zu Recht kann im referierten Machwerk eines Mannes, in seinem Buch, Film, Bild und Dingsbums vom Rezipierenden nur immer das nächste gemeint sein, auf das verwiesen wird durch das bereits vorliegende. Blaß bleibt solches Recht spürbar in der üblichen Bemerkung, diese bestimmte Äußerungsform eines Künstlers sei ein Versprechen auf die nächste. Das Aufrechterhalten dieses Versprechens macht die Geschichte der Künste aus, wie die Freiheit des noch nicht Bedeuteten, des Instabilen die Geschichte unseres sozialen Lebens ausmacht.
Leider sieht die Kritik sich nicht auf gleiche Weise gefordert und vermeidet jegliches instabile Erfassen des Realen, obwohl doch die Künstler und filmmaker das für unabweisbar halten. Lesters neuer Film THE KNACK ist ein letztes federndes Bild dazu.

Aber mit jenem Witz, daß eine große Zukunft stets hinter einem liege, will ich nicht an Lesters Film, nicht an dem unseren Kritikern noch unverständlichen Exemplarischen meinen Strick anknüpfen, sondern daran, was ihnen griffbereit in der Tasche steckt: die Formen verdinglichten Bewußtseins, die sie wie Knüppel gebrauchen. Der geschlagene Hund ist der Action-Film im allgemeinen, seine Protagonisten im besonderen. Das Modell meines Vorgehens entnehme ich Godards Le Mépris, der es seinerseits wieder aus John Cages Silence entnommen hat, also aus dem Standardwerk der literarisch-szenischen Kunstübungen der Moderne.
Rada Krishnan war ein indischer Weiser, der viele Schüler hatte. Einer von ihnen war mit seinem Meister unzufrieden und ging ins Land, um dort vielleicht die Weisheit zu erlangen. Nach 15 Jahren kehrte er stolz zu Krishnan zurück. „Meister“, sagte er, „ich habe die Weisheit gefunden. Komm mit mir an den Fluß, ich werde es dir beweisen.“ Sie gingen an den Fluß, und der Schüler überquerte ihn auf den Wellen, ohne naß zu werden. Der Meister aber schalt ihn: „Du bist nicht weise, sondern ein Narr. Was du nun gelernt zu haben glaubst, konnte ich immer schon mit einem Boot oder einigen Rupien Fährlohn.“
Und während wahrlich unsere oben gemeinten Kritiker der „neuen Kritik“ übers Wasser zu gehen versuchen, will ich immer doch mit dem Boot übersetzen. Der Grad meiner Meisterschaft wird ihnen verborgen bleiben, denn alle wollen Lehrer sein, niemand Schüler. Als Meister aber darf ich wohl Schüler bleiben.
Mit mir im Boot sitzen Eddie Constantine, James Bond, Donald Duck. James greift ununterbrochen zu seinem schwarzen Spezialkoffer, um ihn wieder auf den Bootsboden zurückzusetzen. Eddie liest La Grand Sommeil, tut aber wahrscheinlich nur so, um unauffällig die Uferböschung abzusuchen; Donald nimmt aus dem Bootsverschlag die Utensilien aus den Filmen seiner beiden Freunde, um sich ihnen verständlich zu machen.

Sie wissen, daß sich jemand verändert, wenn er verschiedene Attribute des Realen sich aneignet. Und daß diese Realien ihnen zu Widerständen werden müssen, um ihr Können zu beweisen, denn Können heißt, auf Widerstände bezogen zu sein. In der Demonstration solchen Könnens liegt der Antrieb des Action-Films, was allerdings leicht als Mechanik mißzudeuten ist. Immerhin schreibt ja Krakauer den nicht auf „Ewigkeiten“ bezogenen Menschen mechanisches Handeln vor, wie es auch der Tanz ist oder die lange Reise.
Donald, so weit fortgeschritten in seinem Bewußtsein, daß er schon ganz ohne Leben auskommt, sich als Geist zu manifestieren weiß vor aller Wirklichkeit der Gestalt seiner Freunde, hält ein Referat über den Ort der Handlung, weil er das beständig für Onkel Dagobert zu tun gezwungen ist. Er skizziert die Entwicklung von der platonischen Gastmahlshalle als Ort der Philosophie und der agora als Ort der Handlung im Altertum bis heute. Die Zwischenstadien waren: das Kloster als Ort der Philosophie und die Burg als Ort der Handlung im Mittelalter. Um 1500 die Laienkirche als Ort der Philosophie und das Schlachtfeld als Ort der Handlung; nach 1600 das Theater als Ort der Philosophie und der Hof als Ort der Handlung; Mitte 17. Jahrhundert die Natur als Ort der Philosophie und der Salon als Ort der Handlung; um 1800 die Dichterklause als Ort der Philosophie, der Place de la Bastille als Ort der Handlung; im 19. Jahrhundert der Vorlesungssaal der Universität als Ort der Philosophie und das Kabinett als Ort der Handlung. Heute haben wir in der gesellschaftlichen Gruppe innerhalb ihres Zusammenschlusses, mit vielen den Ort der Philosophie und im Kino den Ort der Handlung zu sehen, unter Berücksichtigung der Tendenz der Menschen, sich leichter als Denkende denn als Handelnde zu verstehen (ohne die einstmals sittliche Verpflichtung zu erfüllen, stets von der Betrachtung zur Tat, von der Theorie zur Praxis überzugehen, da beide Bereiche heute nicht mehr eindeutig zueinander geordnet sind).

Die Unmöglichkeit des Handelns hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt. Das Ernstnehmen der Möglichkeit fällt schwer, aus den differenzierten Begriffen sich zur Handlung forttreiben zu können. Wie, in welchem Maße Handlung heute möglich ist, zeigen die Tathandlungen Eddies, Bonds und Donalds. Zeigt der Action-Film. Nur unvermittelt leben, gleicht dem Versuch, etwa den Hamlet unter Wasser spielen zu wollen: die Bewegungen verzögert, das Medium, die Mittel zur Aufhebung der Aktion. Da unten kann man nur denken, nicht handeln, sagte Donald, deshalb sehen auch Fische so sehr philosophisch aus.
Am Action-Film läßt sich Handeln wieder bestimmen. Für Bond als scheinbar affektives, doch stets auf ein Ziel ausgerichtetes. Er hat einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt, dessen Ziel sich während der Dauer der Aktion nicht ändert. Für Eddie wird Handeln bestimmbar als sich aus sich selber entfaltende Aktion ohne vorherbestimmtes Ziel, da sich für ihn die Aufgaben ändern mit der Veränderung der Lebensumstände und Umwelt. Er scheint ein beweglich gewordener archimedischer Punkt zu sein. Der scheinbar reglementiert handelnde Donald Duck verschafft sich aus der Handlung die Gewißheit, sich nicht in einem Exerzitium zu befinden, sondern in einem Organisationsablauf von möglichst vielen Zufällen, so daß schließlich alles auf eine Entscheidung hinausläuft. Aus der Entscheidung nimmt er die Freiheit über die Sachen und vor allem seinen Elan. Der Kinogänger und Rezipierende endlich nimmt eine Melodie mit, die seine eigenen Teilgesten zur Handlung zusammenzieht. Das läßt sich verifizieren, wenn man Menschen aus dem Kino kommen sieht: das Anzünden der Zigarette, das Überqueren der Straße, die Verknüpfungen zum Geschehen in der Umwelt werden plötzlich real, weil sie als Modelle des Handelns aus dem Film mit nach draußen genommen und der Wirklichkeit aufgesetzt wurden. Die sich sonst unbemerkt schneidenden Bewegungskurven der men an the street werden dem Kinogänger zur überschaubaren Form verbunden. Darin liegt der übliche Vorwurf der Kritik gegen den Action-Film. Wenn aber der Action-Film nach der Seite des Bestehenden etwas Ideologisches hat, so hat er besser noch nach der Seite des Seinsollenden ein fortschrittliches Moment.

Der auf diese Weise, durch Übertragung, Handlungsabläufe erkennende Kinogänger leistet nämlich dabei die Einsicht, wodurch er als Handelnder notwendig von dem getrennt sein muß, was sein Leben bedingt. Niemand sah bisher James, Eddie oder Donald in Nöten hinsichtlich der Reproduktion des eigenen Lebens, des Essens, des Bettes für die Nacht, der rechten Kleidungsstücke für den rechten Anlaß.
Deshalb umgibt die Helden Eddie, James und Donald das Geheimnis des zurückgelegten Weges, die instabile Vermittlung, die zugleich auch inkommensurabel werden kann. Ja, was Donald Duck anbetrifft, wird für ihn die höchste Form der Vermittlung zur Inkommensurabilität, die Freiheit ist. Während James stets abgeht durch die Mittel und ihre Verfügungsbereitschaft. Auch daran reibt sich die Kritik und nennt Goldfinger ein Machwerk aus zu teurem Material. Doch verhält’s sich damit wie stets viel bedachter: es werden so auch in den kommerziellen Reklamesendungen als Anpreisende einer Ware immer solche Menschen gezeigt, die das nicht nötig haben, was sie als nötig anpreisen. Wer der Aufforderung der Werbenden entspricht, die Ware kauft, wird wie die, die sie anpreisen: er hat sie nicht mehr nötig. Die kritischen Anschreier glauben den Mitmenschen von derartiger Machenschaft bedroht, verführt und entstellt durch Reklame. Umgekehrt ist’s, er wird befreit. Kauft X das Mittel Y, so doch deshalb, um abzuschaffen, was ihn veranlaßt hat, Y zu kaufen. Den Kauf also aufheben zu lassen, was ihn allein in seiner Freiheit einschränkte: der Wunsch oder die Notwendigkeit, Y haben zu wollen oder zu müssen. Leider hat sich die bürgerliche Produzentenschaft doch beeindrucken lassen von den ebenso bürgerlichen Einwänden der Verfügungsfunktionäre. Deshalb sehen wir James des öfteren mit schlechtem Gewissen und gezwungen seine Aktion rechtfertigen zu müssen durch bürgerliche, rein kontemplative Kultur: er weiß den Wein oder das Crackett von anderen aufs genußsüchtigste zu unterscheiden. Eddie ist ohne schlechtes Gewissen, dafür hat er Verantwortungsgefühl und kann so unbelastet in der Sphäre des Allgemeinen gleichsam Unternehmerinitiative ergreifen, während James als Korrespondent des Privateigentums gezwungen wird, nur zu arbeiten im Dienst der Produktionsmittel. Weshalb gerade er Erfahrungen machen kann, während der scheinbar uneingeschränkte Eddie immer nur alles weiß und unangestrengt seine Identität durchhält. Für den innengeleiteten Bond wie für den außengeleiteten Eddie wird dabei Psyche zu einer Welt von Äquivalenzen dessen, was gilt. Welches sichtbar wird durch Zerstören als individuelle Freisetzung, ohne archaische Impulse, wie die Kritiker zu meinen belieben, sondern als Verfügung über Material. Die individuelle Freisetzung – bei Bond von Schrecken begleitet, bei Eddie ohne den geringsten Grusel – läßt dem Kinogänger deutlich werden, daß die von ihm in der Demokratie geforderte Wachheit und Reaktionsfähigkeit nur zum reibungslosen Ablauf des Betriebes genützt wird. Der Action-Film unserer Protagonisten verhindert im Gegenteil die Unausweichlichkeit der Erfüllungserwartung, die dieses Leben heute fast wie das griechische unter den Zwang, die Ananke, stellt, sich zu erfüllen, wenn auch in anderem Resultat. Eddie, Bond und Donald gehören nicht mehr zum Star des verschrieenen Typus: das Publikum ist von ihnen und ihrem Leben nicht ausgeschlossen und auf Klatsch angewiesen. Es wird ihm das wichtige utopische Moment unauslöschlich eingepflanzt, ebenfalls alles haben zu können und über alles zu verfügen. Das Gesicht ohne Maske, der säkularisierte Star, der nicht als Schauspieler, vielmehr als Großstädter auftritt, trägt die erhobene Individualität gegen den Gemeinbesitz von Heroentum, wie ihn die politische Handlung von Menschen verlangt.
Im Hinblick auf die Kunstwürdigkeit des Action-Films, die ihm abgesprochen wird, konstatieren Eddie, James, Donald und ich: der Action-Film kommt leicht und aus Versehen dazu, Kunst zu werden, indem er wirklich alles ausfaltet, was der Apparat, auch der technische, aus sich entlassen kann, soweit er nur richtig gehandhabt wird. Das klingt nach Tautologie, für die Godard eine große Vorliebe hat. Er dreht als bevorzugter „Kunstfilmregisseur“ mit Eddie. Wahrscheinlich deshalb, weil Eddie solche Entfaltung als Akteur forciert, wie Donald Disney forciert und Bond seine Filmproduzenten. Die Schlußeinstellung in Godards AUSSENSEITERBANDE ließ ein solches Vorgehen ankünden. Allenthalben zeigen sich die Zeichen, selbst in Cannes. Und weiter sollte im Flachland unserer Republik der Zug verpaßt werden, weil unsere Kritiker auf der Suche nach dem verlorenen Kunstwerk sind?

Donald schüttelt den Kopf. Eddie verspricht mir, nach Deutschland zu kommen. Bond zeigt nach oben, auf Pussy Galores fliegende Miederinhalte. Alle vier werden wir in der nächsten Kolumne unseren Plan enthüllen: Action-Film und der Spielcharakter moderner Macrosytheme.

Abb.:
Die Jacke
Eddie Constantines,
die er trug,
als er in Lucky Jo
seinen Freund
über die Brücke kommen sieht.

Attribute des Realen
verändern Menschen, die sich
solche Attribute zulegen.

Also:
Ziehen Sie sich diese Jacke
sofort an.

Film Zeitschrift 7/65 Text S.50
Film Zeitschrift 7/65 Text S.50
Film Zeitschrift 7/65 Text S.51
Film Zeitschrift 7/65 Text S.51

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