Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 373 im Original

Band II.Teil 5.2 Kasseler Modell der Vernunft

- Die Wilhelmshöhe als Programm eines Jahrhunderts

Für die FRANKFURTER RUNDSCHAU, 25.5.1974

1960 beschloß das Land Hessen, das Schloß Wilhelmshöhe wiederaufzubauen und als Galerie für die Gemäldesammlung des Landgrafen von Hessen zu nutzen. Dieses aufwendige und schwierige Unternehmen ist jetzt abgeschlossen worden. Die Galerie im Schloß wurde eröffnet.

Bevor wir uns in einigen Einzelheiten der Sammlung zuwenden, wollen wir auf die Gesamtanlage Wilhelmshöhe hinweisen, in der die Sammlung nur ein, allerdings wesentliches Moment darstellt. Denn die Wilhelmshöhe ist ein Programm, das wie nur wenige in Europa die Kulturgeschichte eines Jahrhunderts erschließt. Gemeint ist das Jahrhundert vom Beginn der kulturellen Vormachtstellung Frankreichs in Europa unter LUDWIG XIV. bis zur Französischen Revolution.

Diese zeitliche Eingrenzung mag merkwürdig erscheinen, wenn man weiß, daß der Hauptbestand der Gemäldesammlung aus Werken des 16. und 17. Jahrhunderts gebildet wird. In ihrem Bestand aber dokumentiert die Sammlung nur in Einzelfällen die Entwicklung der aufgenommenen Künstler und die Bedeutung ihrer Werke für die Geschichte der Malerei; sie dokumentiert in erster Linie das Urteil und die Vorstellungen der Kunstsammler des 18. Jahrhunderts, die sie zusammengetragen haben. Diese Tatsache macht das Programm 'Wilhelmshöhe' zwar etwas komplizierter, andererseits aber auch lehrreicher.

Was ist anschauend, lustwandelnd, genießend zu lernen? Aufgeklärte Kunstkenner unserer Tage werden gegen Genuß, Anschauung und Lustwandel als Formen der Aneignung von Kunst- und Kulturgeschichte sogleich Einwände erheben, denen wir ebenfalls sogleich begegnen müssen: zum einen sind eben jene Aneignungsformen die authentischen des 18. Jahrhunderts, zum anderen heißt beispielsweise Genießen keineswegs bloß geschmäcklerisch passiv, kulinarisch dekadent sich einem Sinneseindruck hingeben. Genußfähig zu werden, verlangt Ausbildung, die auch im 18. Jahrhundert nicht durch bloße Standeszugehörigkeit dem Publikum zufiel, sondern mit großer Anstrengung erworben werden mußte, zu welchem Zweck man unter anderem Kunstsammlungen anlegte und nutzte. Weil wir diese Anstrengung heute nicht mehr auf uns nehmen und demzufolge unfähig zum Genuß sind, diskriminieren wir Genießen als Aneignungsform.

Was also bietet das Programm Wilhelmshöhe? Es besteht aus fünf Abschnitten, deren Titel lauten könnten: 'Natur und Zivilisation' (der Park); 'Materie und Form' (die Kaskade); 'Das Sinnbild der Macht' (Herkules); 'Das Innere ganz äußerlich'; (das Schloß); 'Training der Sinne' (die Gemäldegalerie).

2.1 Natur und Zivilisation (der Park)

Gegenwärtig haben wir gute Voraussetzungen, das Verhältnis von Zivilisation und Natur in seiner umfassenden Bedeutung einzuschätzen. Umweltzerstörung heißt ja im wesentlichen Zerstörung der Natur und der naturgegebenen Voraussetzungen des menschlichen Lebens. Der Anspruch der zivilisatorischen Tätigkeit des Menschen ist so total geworden, daß Aufbau einer Lebenswelt zugleich Zerstörung anderer Lebenswelten bedeutet.

Dieser Anspruch der Zivilisation ist eine lange Geschichte und war immerhin gerechtfertigt, solange die Menschen sich gegen die Natur zu behaupten hatten. Das 18. Jahrhundert nimmt in dieser Geschichte eine besondere Stellung ein: einerseits erlebt es die totale Unterwerfung der Natur unter den Zivilisationsanspruch (exemplarisch durchgesetzt in den Gärten von Versailles und deren zahlreichen Nachahmungen), andererseits wird die Natur erkannt und erlebt als System nicht vom Menschen geschaffener Ordnungen, denen man allerdings zur Erscheinung verhelfen muß. Solche zur Erscheinung gebrachte Natur stellen die 'Englischen Gärten' des 18. Jahrhunderts dar.

Der Park Wilhelmshöhe zeigt noch heute in einer fast einmaligen Weise beide Auffassungen. Diese Doppelheit war nicht geplant, sondern ist Resultat des geschichtlichen Wandels im 18. Jahrhundert. Als der römische Künstler Giovanni GUERNIERO 1701 vom Landgrafen CARL (1607-1730) beauftragt wurde, ein "delineatio montis a metropoli Hasso Casselana", also einen Entwurf für die Gestaltung des Habichtswaldes oberhalb der Hauptstadt von Hessen-Kassel, zu machen, folgte er ganz entschieden dem zeitgenössischen Anspruch auf Unterwerfung der Natur unter zivilisatorische Gestaltungsmuster. Gegen die planlose Wildwüchsigkeit ursprünglicher Natur wurde die absichtsvoll überschaubare, kurz, geometrische Ordnung gesetzt. Berghänge stellten ein besonders widerspenstiges Stück Natur dar; der Triumph, sie zu zähmen, wurde allerdings um so größer. Zudem mußte die abstrakte Ordnung in ihrer Umsetzung in zentral orientierte Alleen, Freiflächen, Durchbrüche gleichsam von oben herab als Ganzes erfahrbar sein. Das ist von der Kuppe eines Hanges her besonders gut möglich. Dieser Ordnungsgedanke entsprach den Auffassungen vom Aufbau einer Gesellschaft. Die Natur sollte gleichsam in derselben Form vergesellschaftet werden wie die Menschen. Auch Menschen waren damals weitgehend Naturbestand, den man zurechtstutzen und in Ordnungen, vor allem in militärische Schlachtordnungen, bringen wollte.

Gegen diese Auffassung wandte sich der auflklärerische Widerstand der 'Philosophen' des 18. Jahrhunderts. 'Philosoph' hieß damals jeder, der sich seiner eigenen Fähigkeiten zur Erkenntnis von Natur und Gesellschaft bediente, der also nicht bloßer Funktionär gesellschaftlicher Autoritäten war; und vor allem Bürger bedienten sich dieser ihrer Kenntisse zur Durchsetzung neuer Produktionsweisen, die von jener abstrakten und starren Ordnung behindert wurden. Die Auswirkung der Arbeit der 'Philosophen' war immerhin so groß, daß selbst Herrscher diesem Widerstandsprogramm gegen den Absolutheitsanspruch des Ordnungsgedankens zur Durchsetzung verhalfen.

So auch Landgraf FRIEDRICH II. (1760 bis 85), der den Park von Wilhelmshöhe wesentlich als Englischen Garten erweiterte. 1781 legte FRIEDRICH im Park sogar ein chinesisches Dorf an, das zunächst von Negern als Ersatz für Chinesen bewohnt wurde. Denn im Sinn der 'Philosophen' erkannte er nicht nur die Eigengesetzlichkeit der Natur, sondern auch die fremder Völker an und wollte sie mit seiner Ansiedlung als lebendiges Museum dokumentieren. Man sammelte damals ja nicht nur Zeugnisse der Tätigkeit fremder Völkerschaften, sondern sammelte sie selbst, als einzelne Schloßneger bessergestellter Damen wie als Kolonien. Mit dem chinesischen Dorf Mulang, das allerdings heute nicht mehr besteht, aber dennoch Bestandteil des Parkes bleibt, repräsentiert die Wilhelmshöhe eine der entscheidendsten Erweiterungen der zentraleuropäischen Kultur durch die Konfrontation mit China. Der Englische Garten ist ja selbst aus dem Chinesischen Garten oder dem, was man damals dafür hielt, entwickelt worden. Der Englische Garten ist Schauspiel inszenierter Natur, wie der Französische Garten Schauspiel inszenierter Gesellschaftlichkeit ist. CHAMBERS, der englische Großmeister der Gartenbaukunst, legte auf die Inszenierung von Naturszenen größten Wert. Auf kleinen lauschigen Arealen sollte sich der Bürger der 'edlen Natur' konfrontieren, konnte die Natur des Menschen in seiner Geschichte entdecken, die in romantischen Ruinen vergegenwärtigt wurde; er erlebte malerische Prospekte der 'guten Natur', mit der es in Harmonie zu leben galt; kurz, er projizierte auf die Natur sein Selbstbewußtsein und formte so Natur zur Landschaft um.

So bietet die Wilhelmshöhe noch heute beide bestimmenden Auffassungen des 18. Jahrhunderts: Vergegenständlichung des Absolutismus sozialer Setzungen und Ausdruck aufklärerischer Weltaneignung.

2.2 Materie und Form (die Kaskade)

GUERNIEROs Entwurf für die Anlage der später so genannten Wilhelmshöhe sah als beherrschende Mittelachse eine Kaskade vor, die von der Bergkuppe bis zum Schloß reichen sollte. Von diesem Entwurf wurde nur das oberste Drittel verwirklicht. Noch heute aber setzt sich die Achse über den jetzigen Kaskadenendpunkt und das Schloß bis fast zur Karlsau fort; vom Parkende stadtwärts in Gestalt eines Straßenzuges.

Solche schnurgeraden Achsen bildeten gleichsam die Vergegenständlichung jener mathematischen Linien, mit denen man den Globus überzogen dachte, um jedem Punkt der Erde feste Koordinaten geben zu können. Dabei faszinierte vor allem der Gedanke, wie diese Linien selbst auf dem Meer, also in einem grenzenlos diffusen Medium, Orientierung ermöglichten.Immer schon hatte die Beherrschung des Wassers und das hieß vor allem die Möglichkeit, es zielausgerichtet lenken zu können, die Vorstellungskraft der Künstler und Baumeister beschäftigt. In den Kaskaden, die fast drei Jahrhunderte zu den großen Bauprogrammen gehörten, wurden jenseits ökonomischer Nutzanwendung die Material- und Gestaltqualitäten des Wassers dargestellt. Wasser (wie Feuer und Luft) wurde neben Erde und Stein als architektonisches Gestaltungsmaterial eingesetzt. Die Wasserarchitektur von Kassel gehört zwar nicht zu den allerdifferenziertesten, die uns heute bekannt sind, bietet aber doch das entscheidende Grundprogramm aller Kaskaden: Der Weg des Wassers führt aus der formlos ungestalten Natur abwärts in immer stärkere Regulierungen seines Laufs. Es wird gezwungen zum Wechsel zwischen geradem Lauf, Fall, Stauung in einem Bassin, Rieseln über geschuppte Treppen, es bricht über schwellende Lippen, gleitet über schiefe Ebenen und absolut freie Stürze. Der gestaltlosen Materie wird so von außen Form aufgepreßt, die Natur muß sich unter den Willen zur Form beugen, wobei diese Form sehr wohl völlig willkürlich sein kann, ja, je willkürlicher und absonderlicher, desto größer die Genugtuung, die Materie dem Formzwang unterworfen zu haben.

Der Lauf des Wassers ist seit frühesten Zeiten Sinnbild des Lebenslaufs gewesen. Menschen durchmessen unaufhaltsam die Talfahrt ihres Lebens von der Geburt zum Tode. Aber dieser Fluß der Zeit kann gelenkt und gestaltet werden. Dem unumkehrbaren Bergab sind auch einige genußreiche Pausen wonniglicher Trägheit abzugewinnen. Die Kaskade ist in ihrem differenzierten Fließprogramm vor allem Vorbild für die Strukturierung der vergehenden Zeit. Nicht wenige Anleitungen zum optimalen Nutzen der eigenen Lebenskräfte berufen sich auf die der Kaskade nachgezeichnete Zeitgestalt.

2.3 Das Sinnbild der Macht (Herkules)

In GUERNIEROs Entwurf war das Gestaltungsprogramm für die Bergkuppe beschränkt auf das phantastische Bergschloß und die ihm zugeordneten Bauten wie Terrassen, Rampen, Arkaden, Grotten. Wie dann in den Jahren 1715-1718 der Herkules hinzukam, ist bis heute nicht ganz sicher. Der Herkules selber verdankt sich einer Anlehnung an den Hercules Farnese. Er wurde von Johann Jakob ANTHONI aus Augsburg als 9,20 Meter hohe Kupfertreibarbeit ausgeführt. Herkules und Bergschloß insgesamt haben die gewaltige Höhe von 71 Metern.

Der bildsprachliche Ausdruck des Herkules ist allegorisch zu verstehen, und das heißt, daß Abstrakta wie etwa der Sieg der menschlichen Vernunft über die rohe, blinde und darin auch zerstörerische Naturgewalt gegenständlich ausgedrückt werden im Kampf des Herkules mit dem Giganten Enkelados. GOETHE hat für solchen Ausdruck abstrakter Bedeutungen in konkreter Gegenständlichkeit, also für Allegorie, das Wort Sinnbild vorgeschlagen. Sind schon Worte im Verbund eines Satzes kaum je eindeutig, auf einen Sinn einschränkbar, so noch viel weniger die Bestandteile der Bildsprache. Die Allegorie ist der bildsprachliche Ausdruck für einen vielschichtigen, mehrdeutigen, grammatikalisch kompliziert konstruierten Text. Sie gibt diesen Text auf einen Schlag, in einem Moment und in der Gleichzeitigkeit dessen, was eigentlich erst auseinander hervorgeht, wieder. In dieser Simultanität liegt die besondere Leistungsfähigkeit der Bildsprache vor der Wortsprache. Im wortsprachlichen Textfeld 'Herkules' tauchen etwa folgende Aussagen auf: Herkules ist die römische Anverwandlung des griechischen Halbgottes Herakles. Der lernt bei den besten Fachleuten seiner Zeit das Beste. Er ist aber kein Schüler, der erst zu wissen lernt, was das Beste sei; er läßt sich auf die Lehrer nur insofern ein, als sie ihm zu geben vermögen, was er verlangt. Als sein thebanischer Musiklehrer Linos ihn als Schüler behandeln will, erschlägt er ihn mit der Leier. Der Dodekathlos, die sagenhafte Erzählung seiner zwölf Heldentaten, ist sein 'Buch der Rekorde' des Menschen im Kampf mit seiner Umwelt. Es ist also ein Lehrbuch für die Bewältigung schier aussichtsloser Probleme. In dieser Rolle sieht sich jeder gern, der erklären muß, warum er einen Führungsanspruch gegen andere Menschen erhebt: er verfügt über Fähigkeiten, die andere nicht haben. In dieser Hinsicht ist der Kasseler Herkules sogar mehr als ein Sinnbild der Macht; nämlich ein Sinnbild für die Begründung eines Machtanspruchs.

Auf die vielen anderen Ebenen der allegorischen Bedeutung können wir hier nicht eingehen, verweisen aber noch auf eine, in der der unbesiegbare Herkules als Befreier der Bürger von den räuberischen Riesen erfahrbar wird. Der Künstler konnte also auf einer Ebene der allegorischen Bedeutung seinem Fürsten und Auftraggeber ein wohlgefälliges Angebot für den Ausdruck herrschaftlicher Selbstauffassung machen und zugleich, ohne auch nur die geringste Änderung an seiner Gestaltung, die ganz gegenteilige Bedeutung darstellen. Die Entschlüsselung solcher Allegorien verlangt allerdings einige den Angesprochenen gemeinsame Voraussetzungen und Fähigkeiten, die im 18. Jahrhundert noch gegeben waren. Danach verkümmerte die Allegorie zum bloßen Symbol, also zu einer bloßen Verkürzung des Ausdrucks aus Gründen der Ökonomie der Kommunikation.

In Kassel jedenfalls ist der allegorische Ausdruck noch vollständig gelungen, auch darin, daß das Haupt des Riesen als Fels unter Felsentrümmern zu Füßen des Heroen liegt und mit der Reaktion des Ohnmächtigen ihm einen breiten Wasserstrahl entgegenspeit, der dann als Kaskade über die Welt strömt.

2.4 Das Innere ganz äußerlich (das Schloß)

GUERNIEROs Entwurf von 1701 sah auch einen Schloßbau am Fuß des Habichtswaldes vor. Er war eindeutig geprägt durch die Abkehr von BERNINI und der Vorherrschaft des italienischen Barock. Das Gebäude sollte als tektonischer Körper von außen erlebbar werden, reduziert auf die fast puritanische Geschlossenheit des nackten Kubus. Mit der Ablehnung BERNINIs durch LUDWIG XIV. begann ja auch der französische Klassizismus. In Deutschland setzten sich klassizistische Tendenzen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts endgültig durch. Sie waren auch bestimmend für die Kasseler Entwürfe DU RYs und JUSSOs. DU RY baute das Friderizianum (1769/1779), den ersten monumentalen Museumsbau in Europa. Nach JUSSOs Entwürfen wurde schließlich das Schloß Wilhelmshöhe in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts errichtet.

Das 19. Jahrhundert verband die ursprünglich dreiteilige Anlage durch zwei Zwischenflügel zu einem Komplex. Durch den Mittelflügel läuft die zentrale Achse der Gesamtanlage. Darin wird noch einmal sichtbar, wie sehr der Klassizismus Architektur als Ordnungssystem verstand, das die unmittelbare Einheit von Innen und Außen, von umgrenztem Lebensbereich des Hauses und offener Außenwelt dokumentiert. Solche Architektur war gleichsam eine Veröffentlichung des Hausinnern, wie umgekehrt die Außenwelt das Leben im Haus bestimmte. Diesem Anspruch wurde sogar der Funktionszusammenhang eines fürstlichen Hausstandes unterworfen. Ein kaum 16 Meter breiter Mitteltrakt und bloß 8 Meter breite Zwischenflügel sind einem solchen Funktionszusammenhang nicht gerade günstig. Noch nach dem Umbau ist diese Einschnürung durch den klassizistischen Baugedanken für die Einrichtung der Galerie einigermaßen hinderlich. Aber uns Heutigen ist das klassizistische Postulat des Außenbezugs des Hausinnern ein lehrreicher Hinweis.

2.5 Training der Sinne (die Gemäldegalerie)

Welche Entwürfe auch immer für den Wiederaufbau des Schloßinnern verwirklicht worden wären, keiner hätte die Zustimmung aller Interessierten finden können. Die Auseinandersetzung zwischen dem ursprünglich mit dem Wiederaufbau beauftragten Professor POSENENSKE und dem dann schließlich verantwortlich zeichnenden Staatsbauamt Kassel sollte deshalb nicht überbewertet werden. Das gleiche gilt für die Auseinandersetzung um die Gestaltung der Ausstellungsräume. Denn jedes tatsächlich verwirklichte Konzept wird ja immer auch kritisiert und erweitert durch die zwar denkbaren, aber nicht verwirklichten Konzepte. So sehr auch der Direktor der Galerie, Professor HERZOG, an eine Rekonstruktion der Sammlung WILHELMs gedacht haben mag, so weitgehend hatte er doch Rücksicht zu nehmen auf die neuen räumlichen Gegebenheiten, denn WILHELMs Sammlung war ja ursprünglich nicht im Schloß Wilhelmshöhe untergebracht. Zudem ist bei aller Berechtigung einer Rekonstruktion doch ein für die Präsentation der Sammlung entscheidendes Moment nicht wieder aufnehmbar, nämlich das Prinzip der ursprünglichen Hängung. Man muß sich klar vor Augen halten, daß auch WILHELM noch seine Sammlung im wesentlichen in der Absicht ordnete, eine möglichst optimale Raumdekoration zu erreichen. Historische oder ästhetische Ordnungsprinzipien sind erst im 19. Jahrhundert verbindlich geworden. Dieses abstrakte Hängungsschema nach Dekorationsgesichtspunkten mußte ersetzt werden. An seine Stelle trat das Prinzip unmittelbarer Konfrontation des einzelnen Betrachters mit dem Bild. Das führte neben dem Zwang, die Hundertschaften der Bilder auf so engem Raum unterzubringen, zur Bildung kleiner kabinettartiger Raumeinheiten. Die Grobstruktur, die diese Einheiten umfaßt, wird durch die drei Obergeschosse des Mittelbaus und die beiden des linken Zwischenflügels bestimmt.

Im ersten Obergeschoß ist der wertvollste Bestand der Galerie untergebracht, REMBRANDT, HALS, RUBENS, van DYCK, JORDAENS. Im Obergeschoß des Seitenflügels hängen Altdeutsche und Altniederländer, im wesentlichen Erweiterungen der ursprünglichen WILHELMschen Sammlung. Das zweite Obergeschoß repräsentiert die kleineren Formate der flämischen und holländischen Malerei. Der entsprechende Seitenflügel beherbergt die nordeuropäischen Manieristen. Das dritte Obergeschoß, ein Oberlichtsaal, enthält italienische, spanische und deutsche Malerei des 17. Jahrhunderts. Innerhalb dieses Materialbestandes wurde auf allzu eindeutig der Tradition des 19. Jahrhunderts verhaftete Ordnungen nach Meistern und Schulen und formalästhetische Zuordnungen verzichtet. Das entspricht durchaus dem ursprünglichen Sammlungskonzept. So sehr auch WILHELM schon von bürgerlichen Attitüden des bloßen Habenwollens und der Euphorie des Besitzes geprägt war, so mußte er doch allein aus Gründen des beschränkten Ankaufetats Auswahlen treffen, die ihm durch Kunstagenten und den Rat von Fachleuten erleichtert wurden. Gerade weil WILHELM nach damaligen Maßstäben als Kunstkenner gelten konnte, setzte sich in seiner Sammlung eben mehr als ein bloßer Individualgeschmack durch. Seine Sammlung wurde ein sehr bestimmter Ausdruck für die Kunstinteressen und Wertvorstellungen seiner Zeit. Sie galt es in der Einrichtung der Galerie nach dem Wiederaufbau des Schlosses zu erhalten, und das ist in vollem Umfang gelungen.

Immerhin, gerade wenn man die Wilhelmshöhe als kulturgeschichtliches Gesamtprogramm versteht, hätte man vielleicht auch die Galerie selber enger in dieses Programm integrieren können. Darüber jetzt aber zu lamentieren, erübrigt sich. Sammlungsgesichtspunkte und Präsentationsprinzipien sind zu unterscheiden. Erstere bleiben erhalten, letztere mußten verändert werden. Wer nach fürstlicher Hängung ruft, übersieht, daß sich für uns die Distanz zu Wahrnehmungsgegenständen entscheidend verkürzt hat. Die Konfrontation wurde enger, so daß selbst Großformate für uns durchaus aus geringerer Entfernung noch voll wahrnehmbar sind. Der Film und die Zeitschriftenmedien haben uns auf diese Konfrontationsebene eintrainiert.

2.6 Die Themen der Sammlung

Was die Sammlungskriterien anbelangt, so sind wir heute in einem erstaunlichen Maße an die des 18. Jahrhunderts herangerückt. Damals und heute bildet das 'Thema' den entscheidendsten Sammlungsgesichtspunkt. Als Themen der WILHELMschen Sammlung kann der Besucher etwa die folgenden ohne weiteres zusammentragen:

  1. Mythos und Geschichte: Die Leistung der Historienmalerei, die in WILHELMs Sammlung so vielfältig vertreten ist, liegt darin, reale historische Ereignisse mit den Bedeutungszusammenhängen des Mythos zu verknüpfen. Mag auch zuweilen noch der Mythos als die ältere und damit verbindliche Schicht des kollektiven Bewußtseins verstanden worden sein, so setzt sich gerade im 18. Jahrhundert die Auffassung durch, daß jeder Mythos sich auf etwas geschichtlich Reales stützt. Mythen sind anverwandelte Geschichte. Wer demzufolge in der Historienmalerei geschichtliche Ereignisse mythologisiert, bietet damit bereits Aneignungsformen an. An der Vorgabe solcher Aneignungsweisen mußte gerade den historischen Tätern gelegen sein, weil sie so bereits ein gewünschtes Verständnis ihrer Handlungen hervorrufen konnten. Diese Art der Mythologisierung geschichtlicher Ereignisse wurde ja gerade in unserer jüngeren Geschichte exzessiv betrieben, nicht erst in der Darstellung der Ereignisse, sondern bereits in der Inszenierung der Ereignisse selber.
  2. Porträtmalerei: WILHELMs Sammlung legte naturgemäß besonderen Wert auf Porträts, die in der Renaissance-Nachfolge den Porträtierten zu einem Repräsentanten des Öffentlichen und Allgemeinen machten. Die Leistung dieser Malerei bemißt sich an der Übertragbarkeit der an den Persönlichkeiten gezeigten Haltungen und Auffassungen. Diese Porträts wirkten als beständige Aufforderung zur Einübung in die demonstrierten Haltungen. Sie erlaubten damit auch Kontrolle über die eigene Entfaltung von Verhaltensweisen. Diese Porträts übernahmen weitgehend die Funktion, die noch bis ins 15. Jahrhundert von den Darstellungen christlicher Heiliger erfüllt worden war.
  3. Allegorien: Mit dem Verweis auf das oben angedeutete Herkules-Beispiel müssen wir uns begnügen. Immerhin gilt, daß nach 1500 die bildende Kunst die Literatur an Bedeutung als Kommunikationsmedium übertrifft, ja, daß zumindest die Angehörigen des Adels eine neue Art von Analphabetismus entwickelten. Dieser Analphabetismus wurde mehr als aufgewogen durch die immer differenziertere Bildsprache. Der Grund dafür liegt in der hohen Annäherung dieser Sprache an die mit Augen wahrnehmbaren Bestandteile der Realität, weshalb für den Adel und das 'Volk' die Bildsprache von größerer Überzeugungskraft war als die Wortsprache.

Es sei nur noch auf ein Thema ausdrücklich verwiesen, dem in den Erdgeschossen des Mittelbaus und des linken Seitenflügels besonderer Raum gewidmet ist, nämlich der Antikenrezeption des 18. Jahrhunderts. Sie gehört ganz eindeutig, ja in gewissem Sinn sogar in ausgezeichneter Weise zum Programm Wilhelmshöhe. Die Rekonstruktion der Art, wie das 18. Jahrhundert die Antike sah, hätte jedoch zu einer völligen Überforderung des heutigen Museumsbesuchers geführt, weil die heute wenigstens vorläufig verbindlichen Kenntnisse der griechischen und römischen Antike in krassem Widerspruch zu denen des 18. Jahrhunderts stehen. Den Besuchern hätte eine solche Rekonstruktion nur etwas gesagt, wenn sie bereits über die Kenntnis der heutigen Aussagen verfügten. Da hat man es in Kassel doch vorgezogen, mit der Präsentation des Bestandes, der zu den bedeutendsten in Deutschland gehört, erst einmal die Einübung in die Minimalkenntnisse der heutigen Antikenrezeption anzubieten. Bei der Verwirklichung dieser Absicht hätte man sich einigen ausdrücklicheren Gebrauch environmentaler Präsentation gewünscht. Aber, wie gesagt, kritische Anmerkungen wären der Abteilung auch dann nicht erspart geblieben.

Insgesamt bestätigt das Programm Wilhelmshöhe, wie es sich heute wieder dem Besucher anbietet, das Urteil DEHIOs, der über die Wilhelmshöhe schrieb, sie sei vielleicht das Grandioseste, was irgendwo das Zeitalter in Verbindung von Architektur und Landschaft gewagt habe. Und Kassel besteht ja nicht nur aus dem Programm Wilhelmshöhe. Es bietet mit der Neuen Galerie die Sammlung der Kunst im 19. Jahrhundert, es bietet die Sammlung des Astronomisch-Physikalischen Kabinetts, eine völkerkundliche und kunsthandwerkliche Sammlung, die möglicherweise alle doch noch im Ausstellungskomplex Friderizianum zusammengefaßt werden. Kassel ist ganz unbezweifelbar eines der wenigen großen Zentren der Kunst- und Kulturgeschichte in Deutschland.

siehe auch: