Programmheft Luzerner Theaterblätter, 1960/1961

Programmheftbeiträge zu den Heften des Stadttheaters Luzern (Luzerner Theaterblätter, hrsg. von Horst Gnekow) 1960/61:

  • 'Pro domo - Halbzeit 1960/61' (* 555 - 557)
  • 'Gegen die Amateur-Optimisten. Chessman's Tod' (* 792 - 795)
  • Kommentar zu: Die Fehlenden Blätter. The Aspern Papers von Henry James

Erschienen
1959

Herausgeber
Gnekow, Horst

Verlag
Stadttheaters Luzern

Erscheinungsort
Luzern, Schweiz

Issue
1960/1961

Pro domo - Halbzeit

Zwischen den Jahren und den mahlenden Kriegen der Menschen untereinander stehen wir alle ein wenig wie geborstene Säulen da; man weiß gar nicht, wie die einzelnen Teile zu verbinden sind oder wie sie einmal in glücklichen Zeiten verbunden gewesen sein mögen. Und dennoch ist der 'Künstler', gerade gegen die Jüngeren, verantwortlich und muß sich nach oben hin - gegen die, welche Jahrzehnte der Entwicklung auf sich vereinen - rechtfertigen. Und dazu gehören Aufrichtigkeit und Klarheit. Nun ist aber zumal in der Theaterarbeit die Eindeutigkeit nicht so ohne weiteres vorhanden und die Klarheit dem Publikum wie dem Schauspieler bestenfalls ein Geschenk des Regisseurs. Publikum und Schauspieler nämlich sind leicht geneigt, von sich anzunehmen, sie hätten mit einer solchen Erörterung der das Theater konstituierenden Bestimmungen nichts zu tun, sondern sich nur mit dem aus den Erörterungen gewonnenen Resultat reproduzierend (handwerklich sauber, der Schauspieler) und rekonstruierend (gefühlstechnisch, das Publikum) zu beschäftigen. Man kann aber weder den Kunstgegenstand 'Theater' eindeutig fixieren und festhalten noch läßt sich beim Theater vom Resultat eines Arbeitsprozesses eindeutig sprechen; beide - 'Institution Theater' und Arbeitsprozeß - sind wechselwirkende Bedingungen füreinander, woraus nicht zuletzt die fruchtbare Unbestimmtheit des Faktors 'Theater' für alle Beteiligten und die Gesellschaft entspringt. Kaffehandel zum Beispiel ist eine eindeutige Sache, sowohl was den Kaffee anbetrifft, als auch was die Vorbestimmbarkeit und Gesetzmäßigkeit des Handelns angeht. Das Theaterspielen wie Kaffehandel zu betreiben aber hieße, mit einem Sieb Wasser schöpfen zu wollen. Dennoch sollen beide Handlungsweisen denselben Kriterien menschlichen Zusammenlebens standhalten, damit das Theater nicht zu einer Summe der verpaßten Gelegenheiten werde, indem jedermann die Bühne als sein ganz privates Reck benützt, an dem er nach Belieben sich selbst eifrig produzieren kann. Deshalb braucht das gute Theater in gewisser Weise den Widerstand des Publikums, wodurch selbst das Unvorhergesehene und Nichtvoraussagbare der Auswirkungen des Theaters greifbar werden. Das wäre dem Akteur selbst nicht zuzumuten, der eben nicht nur sich selbst vorträgt, sondern Bestandteil des latenten Kraftfeldes zwischen dem Vorgegebenen und dem ganz anders Möglichen ist: mit einem mißverständlichen, älteren Terminus sagt das, der Schauspieler ist Stellvertreter, doch wiederum nicht so stellvertretend, daß die wirkliche, singuläre Erscheinung Mensch (er selbst) nicht dahinter zu stehen brauchte. Denn es bewahrheitet sich nach wie vor jenes kurze Wort mit seinem weitführenden Sinn: Und diese treibt ein hohles Wort des Herrschers, nicht ihr Gemüt! Schützt Eure Güter! Und Euer Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich Euch ein Beispiel gebe.

Das ist das Schlußwort EGMONTs, dessen unnachsichtiger Freiheitskampf, der schließlich folgerichtig zu einem Kampf gegen seinen Urheber selbst wird, GOETHEs Trauerspiel das zentrale Thema lieferte. Wie ich Euch ein Beispiel gebe: darin scheinen Funktion und Aufgabe einer Bühne umrissen, auch noch die Aufgabe einer heutigen Bühne. Doch ist dieses Beispielgeben nicht die Aufforderung zum wahllosen Manipulieren verdrängter Nachahmungstriebe, wie sie etwa der Film erzeugt, der seine Besucher mit breiteren Schultern und strafferen Muskeln entläßt und immer wieder die verderbliche Demonstration des gesamtgesellschaftlichen Subjekts bietet. Zwar vermag auch das Dunkel des Zuschauerraumes im Theater dem Kollektivsubjekt bequeme Brutstätte zu sein, doch zerstört die geringe Distanz vom Akteur zum Zuschauer immer sogleich wieder die billige Faszination und Identifikation.

Auch heute noch ist das Theater ein Kult, wenn auch ein säkularisierter, und keine Soziologie kann daran vorbeigehen, daß das Theater die hauptsächlichen Funktionen des Kultes übernommen hat, zu Recht. Die modernen Bestandteile dieses Kultes zeigen sich in der Ereignishaftigkeit, die ein Theaterabend für die Gesellschaft hat: man erscheint sonntäglich gekleidet in Übereinstimmung und Besprechung mit Freunden; die Zeremonie des Platznehmens; der Appell an die eigene Aufmerksamkeit, Aufnahmefähigkeit - das Atemanhalten; die Ökonomie des Beifalls; das Zerebral der Schauspieler; Anspannung und Erlösung durch die Magie der Zuschauerraumbeleuchtung usw.

Doch erschöpft sich darin das Erlebnis nicht. Was in der demonstrierenden Auslegung und Vermittlung der Fabel durch das Theater so einmalig ist, laßt sich am besten dadurch verstehen, daß das Theater die beliebige Ersetzbarkeit aller Leistungen und Menschen in der Massengesellschaft, die sich jedermann als seine schlimmste Fessel spürbar machen dürfte, nicht mitmacht. "Laß Dich nicht vertreten", ist die Forderung ans Publikum, "auch nicht durch Deine eigene Voreingenommenheit und die Dir aufgepfropften Meinungen. Das Theater nimmt Dir nichts ab, aber es schiebt Dir auch keinen Erdrutsch in den Weg, sondern räumt das Feld, damit Du Dich wieder allein findest, sprechend mit Dir selber in Deiner ganz und gar unberechtigten Hoffnung, aus dem Weltgeschehen ungeschoren davonkommen zu können." Wir sind noch nicht davongekommen, noch niemals, obwohl wir immer.schon wußten, was sich ereignen würde. Wir wußten es durchs Theater, wo wir gelernt haben, dem Ausdruck des Menschlichen und Unmenschlichen nach seiner äußeren Form (Auge, Gestik, Sprachduktus, das Zucken der Gesichtsmuskeln usw.) Bedeutung beizulegen, aus der unser Heil oder Unheil erwächst. Denn auch diejenigen, die recht selbstherrlich unsere Geschicke bestimmen, sind Menschen, wie wir sie täglich im Theater vom noch sicheren Parkett aus studieren können, und wo der Ernstfall sich noch zurückhalt, aber in Gestalt und Stimme sich schon ankündigt: "Wie ich Euch ein Beispiel gebe."

So bezieht das Theater seine Dynamik aus der Möglichkeit, den Menschen aus seiner Selbstvermutung, er sei, der er ist, herauszuheben und ihm die vielen anderen Ichs, die er in sich birgt, gegenüberzustellen. Notwendig dazu ist, daß man sich in Widerspruch setzt zu sich selbst und den objektiven Verhältnissen, die in einer fixierten Handlung geboten werden. Der Einzelne wird so gezwungen, sich selbst zu entscheiden, ob er in dieser ihm vorgegebenen Objektivität aufgehen will oder ob er sich mit ihr nicht identifizieren kann, da er sich als eine geistige Potenz, als etwas Größeres und Kräftigeres zu verstehen gelernt hat. Deshalb scheidet das Theater auch nicht die Formen des Unmeßbaren aus wie die materielle Produktion und bietet der heutigen Jagd nach dem Ineinanderaufgehen des Ungleichnamigen keinen Vorschub. Das Theater, obschon die engste Verknüpfung von Geistprodukt und Konsumenten, arbeitet niemals distanzlos in dem Sinne, man könne schon zur rechten Zeit alles in seine Ordnung bringen. Denn da die Werthierarchie heute nur noch in soldatischen Rangordnungen aufrechtzuerhalten ist, bildet das Theater auch nicht mehr die von ihm erwartete Volksfront des Ideals, weil es eben nicht ein Modell der Reaktionsweisen auf Reize sein will, die gar nicht vorhanden sind, und der Zuschauer fühlte sich nur dort wohl, wo er so tüchtig sich in Erinnerungen an Niedagewesenes bewähren kann. Aber alle Variation der menschlichen Eigenschaften, die die des Theaters sind, ist es, wahr zu sein. Und das muß sich im Zurücksprechen des Zuschauers, in der Antwort, die er sich auf fremde Fragen gibt, deutlich machen lassen. Nur so kann es gelingen, in der Äußerungsform des Theaters, dem Dialog, die Möglichkeiten einer sprachlichen Verständigung herzustellen. Die Unterbrechungen dieses Dialogs blenden in uns die Bilder, den Willen und die Entscheidungskraft ein, die den Handelnden antreiben. Das lebendige Theater vermag da zu steuern, wo an dem Menschen, während er dem Ziel seiner Vorstellungen zustrebt, die Zeit ihr fürchterliches Handwerk treibt, und die Erfüllung der Sehnsüchte, die schließlich sich immer doch anbietet, den Wunsch nach einer Erfüllung im Menschen gar nicht mehr antrifft. Die Erfüllung, die das Theater bietet, fällt nicht ins Leere.

Auf dem Hintergrund solcher, hier nur kurz zusammengefaßter Überlegungen möchten wir auch unsere tägliche Arbeit auf der Bühne verstanden wissen, obwohl wir sehr darauf bedacht sind, das Bühnengeschehen aus sich selbst erklärbar werden zu lassen. Das ist jedoch im wesentlichen eine Frage nach dem Grade der Übersetzbarkeit einer gedanklichen Konzeption in Handlungsabläufe.

siehe auch: