Magazin Nota 3

stud. Zeitschrift für Bildende Kunst und Dichtung

Erschienen
1958

Herausgeber
Morschel, Jürgen | von Graevenitz, Gerhard

Erscheinungsort
München, Deutschland

Issue
Ausgabe 3

Zur modernen Lyrik im Deutschen Sprachraum

frage: gibt es im deutschen sprachraum eine moderne lyrik?
antwort:
atens: eiderdaus
btens: das ist eine kinderfrage mit kinderreimen: lyrik, modern - sie wissens
inzwischen wohl selber. gehört nicht ein solcher frager zu jenen schlechten ärzten, die zwar anderen, nicht aber sich selbst helfen können? fragt er nur, um antwort zu erhalten, gar eine antwort, die nur in einem "0 ja" bzw. "leider nein" bestehen kann, denn den gegenstand der befragung hält der frager bereits selbstverständlich in der hand: die moderne lyrik, rezeptpflichtig, in deutschland zu haben?
muß es sie denn unbedingt geben? muß denn das, was in deutschland hier und da zu haben ist, moderne lyrik sein, darf nichts neues, nichts fremdes sein? muß denn die bürgerliche vorstellung von kunstprodukt als dem hort der wahrheit, dem sprachrohr des seins, dem konservierten augenblick höchster menschlichkeit immer noch erfüllbar sein? kein mensch würde von "unserer demokratie" erwarten, daß sie seine vorstellungen vom oberitalienischen stadtstaat, vom heiligen römischen reich deutscher nation oder von den bantuc1ans erfüllt. muß der deutsche sprachraum die vorstellung vom 'kunstwerk' (lyrik, roman, schauspiel) rechtfertigen und erfüllen? ist das nicht ein illegitimer anspruch und deshalb corpus conflicti in den schlachterhänden unserer kulturköche, deren brei die erben der abendländischen tradition mit recht unwilliger mampfen als eigenen nasenschleim. nur wer immer noch nicht begriffen hat, daß er als künstler heute ein unding ist wie bogenschützen und landgrafen, kann weiterhin lehren und lyrik lieben und fragen: gibts oder gibts nicht - welche frage schon auf den tontafeln von eschpaal erörtert wird mit abschlägigem bescheid.
die künste sind mittelmäßigen geistern immer nur der plural der vergangenheit gewesen, sanktioniert durch einen ehrfurchteinflößenden zwischenruf von jenseits, vom throne, aus dem reich der ideen, der ewigen wahrheit: alles fleisch ist gras, doch die kunst vererblich.
haltet keine reden um verantwortung, sonderlich deutschland war nie sehr empfänglich dafür; geht auf euch selbst ein wie der bauer auf seinen acker im frühjahr; besucht das weiße papier wie soldaten bordelle; tut etwas fragloses, redet einfach, babbelt, haltet nur die möglichkeit zu artikulieren aufrecht, wie ein guter vater das allgemeine feuer hütet, damit seine nachkommen ihr süppchen kochen können. auch die zunge ist ein feuer, verflucht sei, wer am holze hängt.
sicherlich gibt es im deutschen sprachraum eine moderne lyrik, selbst solche, die so modern ist wie die gestrige. aber darauf kommt es nicht mehr an.
neue deutsche feuerbrände allerdings sehe ich nur an vier örtern entfacht, wovon zwei sparflammen sind. auf einer von ihnen röstet der verfasser.

siehe auch: