Buch Drei Vorträge

Erschienen
1959

Verlag
Der Bund

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

'Zur poetischen Syntax'

Was konnte sie denn? Sie konnte Gründe dafür liefern, warum man sich nicht sogleich das Leben zu nehmen brauchte, wenn man sich über das Ausmaß des wirklichen Elends, in dem man lebte, klargeworden war. Und wenn man merkte, daß sich an diesem wirklichen Elend nichts Entscheidendes ändern ließ, konnte die Kunst Rechtfertigung für diesen Tatbestand liefern. Die Künste hielten die Hoffnung aufrecht, daß eines Tages sich doch alles, alles wenden werde. Sie konnten klarmachen, wie das Selbstverständnis der Gesellschaft beschaffen war, und konnten dem einzelnen ermöglichen, sich mit ihm in Übereinstimmung zu bringen. Sie formulierten und entwarfen die Zielvorstellungen der Gesellschaft, sie arbeiteten das bloß willkürliche und unerklärliche Geschehen so auf, daß ein Zusammenhang entstand, ein Sinn. Sie konnten dem einzelnen Motivationen dafür liefern, wie er zu handeln habe, wenn er den Zusammenhang und den Sinn akzeptiert hatte. Vielleicht kann das die Kunst heute auch noch, aber wir müssen darauf bestehen, daß sich ihre Aussagen innerhalb unseres Lebens verwirklichen, denn inzwischen gibt es die Möglichkeiten zu einer Verwirklichung dessen, was früher nur als Hoffnung bestehen konnte. Die Sphäre des Scheins muß in die der Realität unseres Lebens überführt werden, die ästhetische Praxis muß in die gesellschaftliche Praxis allgemein überführt werden. Die Künste können uns dann Vorschläge machen für die Veränderung von Verhaltensweisen, Veränderungen der Art, wie wir miteinander verkehren, sprechen, leben. Sie können uns dazu bringen, unser Leben als Zusammenhang wieder zu begreifen, sie können uns ermöglichen, unser einzelnes Leben so ernsthaft und genau zu nehmen, wie man früher Erscheinungen der Kunst behandelte. Hoffen wir's.

siehe auch: