Magazin Kunstforum International

Bd. 167, Theorien des Abfalls

Kunstforum International, Band 167, Titelseite
Kunstforum International, Band 167, Titelseite

Erschienen
2002

Herausgeber
Bianchi, Paolo

Verlag
KUNSTFORUM International

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

Issue
BD. 167

Seite 42 im Original

GOTT UND MÜLL

Programmatisch war das Jahrhundert als radikale Absetzbewegung gedacht: als Fortschreiten ohne Hinterlassenschaft. Denn was immer man hinterlassen würde, galt es eben hinter sich zu lassen, zu überbieten oder mindestens zu verändern. Man wollte sich an der Zukunft orientieren, also daran, daß alles ganz anders zu sein habe, als es je gewesen ist.
Programmatisch wurde z.B. "Bauen" unter dem Gesichtspunkt des schnellen kostengünstigen Abrisses der Neubauten oder das Veralten der Produkte durch Einbau von Sollbruchstellen, weil zur schöpferischen Hervorbringung von etwas Neuem die Zerstörung des Alten Voraussetzung zu sein schien – schon um freien Raum für das Neue zu gewinnen.
Die schöpferische Zerstörung wurde zum Synonym des ausgelobten "Neuen". Die Kennzeichnung von etwas als "neu" wurde zum Hauptargument seiner Produktion und Konsumption.

Dieses Programm konnte nicht stimmig sein – wie alle bemerkten, als die Spur des Spurlosen die Welt zu vermüllen begann. Seit der Müll radioaktiv strahlt, weiß man, daß auch die radikalste Destruktion bestenfalls die Bestände verwandelt, aber nicht aus der Welt bringt.
So verengte sich der offene Horizont der Zukunft. Sie mußte kalkuliert werden aus der Hinterlassenschaft ihrer Verwirklichungen als auf Jahrtausende tödlich strahlender Müll. Was die Zukunft bestimmt, nennen Menschen Schicksal, Vorsehung oder göttliches Walten. Wenn der strahlende Müll unsere Zukunft wesentlich vorherbestimmt, müssen wir die Theologie der Zerstörung um die der Vermüllung ergänzen. Sie formuliert die wichtigsten Bauaufgaben, die Kathedralen des Mülls, die Endlagerungsstätten, deren unabsehbarer Zeithorizont jenen bei weitem überschreitet, den man in den historischen Gotteshäusern anvisierte. Was sind schon 1000jährige Pyramiden und Kathedralen im Vergleich zu Endlagerungsdomen, deren Kultobjekte eine Halbwertzeit oberhalb von 10.000 Jahren haben?

Sich auf die Zukunft zu orientieren heißt demnach, für das Gewesene Sorge zu tragen. Die Zukunft verschwindet in der Ausdehnung der Vergangenheit auf alle übrige Zeit.
Unter den vielen anderen Belegen für das Verschwinden der Zukunft ist einer hervorzuheben, der vom Fortschrittspathos des Neuen unmittelbar bedingt ist: wenn etwas tatsächlich neu im Sinne von ‚ganz anders als alles Gewesene‘ sein soll, so müssen wir uns stets an das Alte halten, um einen Neuigkeitswert feststellen zu können. Die programmatischen Avantgarden des Jahrhunderts, strikt auf das Neue ausgerichtet, erzwangen somit die Aktualisierung des Alten, der Traditionen, der Vergangenheiten. Je mehr Fortschritt, desto gegenwärtiger wurden die Traditionen. Je intensiver z.B. die Avantgarden der Kunst produzierten, desto mehr wuchsen die Bestände des Vergangenen in Museen. Wer zu Beginn des Jahrhunderts auszog, um sich vom Druck überkommener Kunstauffassungen zu befreien, verstärkte deren kultische Verehrung. Je globaler und universeller man operierte, desto unübersehbarer setzten sich regionale und individuelle Grenzziehungen durch. Der Paradoxie des Neuen, das nur mit Bezug auf das Alte erkennbar wird, unterwirft sich der Nutzer des Internets: Je größer die Reichweite und das Potential der Verknüpfung, desto dominanter die privateste Gesprächsform bis hin zum beiläufigen Geschwätz (chat).
Je allgemeinverständlicher der Gebrauch von Bild- und Begriffsmustern, desto größer der Eindruck, das Eigentliche und Besondere werde verfehlt, weshalb der Chat, der Stammtisch der Minister und Professoren von dem der Vereinsmeier nicht mehr zu unterscheiden ist.

Im Rückblick müssen gerade die Gesellschaften als besonders fortschrittlich verstanden werden, die durch die Tätigkeit ihrer Avantgarden den größten Teil ihrer Vergangenheit vergegenwärtigen. Im Politischen zeigte sich das etwa als Zwang, den Innovationen der Hochtechnologie die Aktualisierung von Blut- und-Boden-Mythologien abzuverlangen; im Medizinischen wuchs mit den Erfolgen der Interventionsapparate das Verlangen nach schamanistischem Privatissimum; in der Werbung stieg mit der technologischen Komplexität der Produkte die Tendenz, sie als Fetische zu animieren und die Weltseele als Micky-Maus, Gilb oder Dancing Baby zu beschwören.

So mußte sich generell der Revolutionär als Konservativer beweisen – diese Logik des Fortschritts macht gegenwärtig den 68ern schwer zu schaffen. Und umgekehrt sehen sich die fundamentalistischen, dogmatischen, konservativen Gruppierungen gezwungen, ihre Bestandssicherung für die Zukunft durch revolutionäre Radikalität zu beglaubigen.

Die Radikaliät der Zukunftsgläubigen sorgte im 20. Jahrhundert so gründlich für den Verlust der Zukunft wie in keiner anderen Epoche zuvor.
Wir haben die Zukunft verfrühstückt: Die öffentlichen Schulden, die wir den nächsten Generationen hinterlassen, verhindern ihre Gestaltungsmöglichkeiten. Wir haben die Zukunft zur Wiederkehr des Gleichen gemacht: Wer schert sich noch um die Konsequenzen seines Handelns, wenn sowieso nichts mehr zu ändern ist?
Wir haben die Zukunft bereits verwirklicht: Alles Neue ist alt und soll veralten. Der neue Gott ist der alte. Er strahlt bedrohlich und verlangt Unterwerfung. Er ist die Zukunft, die wir nicht haben.