Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erschienen
21.11.1972

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
21.11.1972

Triumphator electus – Prügel für den Mächtigen

Es gibt eine ganze Reihe historischer Gesellschaften, bei denen es Sitte war, einen Mann, der die Regierungsgewalt übernahm, mit schweren Ketten zu fesseln und am Vorabend der Krönung zu verprügeln. Die Mißhandlungen waren häufig so schwer, daß der Gekrönte nur noch als Krüppel mit kurzer Lebenserwartung die Macht ausüben konnte.

Diese tatsächlich verfassungsgemäße Behandlung derer, die Macht über andere delegiert bekamen (sichtbar im Zepter, das auch die symbolische Axt des Henkers ist), erfüllte offensichtlich wichtige soziale Funktionen.

Zunächst wurde der Herrscher nachdrücklich daran erinnert, von wem und wodurch er seine Macht habe. Herrschergewalt verführt zur Verklärung der Machtbegründung; Mächtige haben den verständlichen Drang, sich von denen zu befreien und zu entfernen, denen sie ihre Rolle verdanken. Dieser Vergöttlichungssehnsucht und den immer wieder dokumentierten Versuchen, sich tatsächlich zum Gott zu erheben, konnte in der Aspirantenschmähung wenigstens ein wenig vorgebeugt werden.

Die in der Psychologie der Mächtigen besonders bewanderten Römer haben aus gleichem Grunde ihren Triumphatoren einen Repräsentanten der Öffentlichkeit beigegeben, der, hinter dem Triumphator stehend, ihn beständig daran zu erinnern hatte, daß auch er nur Mensch sei.

Der Idee, diese gefährliche Versuchung des Mächtigen dadurch auszuschalten oder zu reduzieren, daß man den Triumphzug unterließ, konnten die Römer wenig Verständnis entgegenbringen, denn der Triumphzug war nicht nur eine Auszeichnung für den politischen Helden, sondern für die gesamte Gesellschaft, für das römische Volk. Im Triumphzug konnte das Volk seiner eigenen, verpflichtenden Taten gewärtig werden, wenn so an ihm die langen Reihen der Gefangenen vorbeigeführt wurden; wenn so die Wagenladungen mit glänzender Beute durch die Stadt fuhren.

In jeder Erhöhung der Mächtigen, vor allem in der Zeremonie der Übernahme der Regierungsgewalt, ist dieser Hintergrund bestimmend: wo der eine über die Erdoberfläche monumental erhöht wird, werden die anderen in die Erde eingegraben. Die Redewendungen und Vorstellungsbilder: "Wer hoch steht, kann tief fallen"; "auf dem Höhepunkt der Macht" usw. zeigen die Perspektivverschiebung an: der Thron steht erhöht wie der Altar, der Richtertisch und der Präsidentensitz. Wenn in jüngerer Zeit solche Erhöhung nicht mehr allzu direkt ins Anschauliche übersetzt wurde, weitete sich doch die perspektivische Entrückung in der Ebene aus: "Fünf Schritte vom Leib". "Die Aura der Unnahbarkeit" als lanzenhafte Ausstrahlung, die Unberührbarkeit in der körperlich ausgewiesenen Hoheitszone werden zwar unterstützt von Barrieren, mächtigen Schreibtischen und einem lebenden Schutzwall von Leibwächtern; sie sind aber wesentlich durch die räumliche Tiefe und Ausdehnung des Handlungsraumes schon gegeben. Daher ist Konfrontation mit Machtträgern in bürgerlichen Sozialwohnungen nicht möglich - es sei denn, sie findet in der Welttiefe des Fernsehgeräts statt (allerdings ist durch die Zoomtechnik des Fernsehens solche Weltentiefe schon wieder verflacht, und fernsehvermittelte Politik reduziert sich auf die Wohnzimmerwand als Grenze).

Nicht aus Protzerei sitzen die Machtträger in palastartig ausfächernden Räumen, sondern um den Raum als Handlungsraum einzusetzen. In der auf diesen Zweck hin geplanten und gebauten Reichskanzlei wurde die räumliche Distanzerfahrung sogar jedem Besucher aufgezwungen durch einen mehr als hundert Meter langen Gang von der Eingangstür zum Herrscherstandpunkt.

Aus solcher Distanz wird auch die allgemeine Vorstellung begründet, daß der Mächtige in den endlosen Räumen der Burgen und Schlösser und Paläste isoliert sei, allein und heroisch einsam. Der goldene Käfig hat nur einen Eingang, aber keinen Ausgang. Wer in ihn hinein will, muß seine Rechnung mit der Welt beglichen haben und die Welt mit ihm: darin liegt eine weitere Funktion der Sitte, mit Machtaspiranten vor der 'Krönung' rüde umzugehen. Durch die Prügel und Beschimpfungen konnten die zurückbleibenden ehemaligen Mitkämpfer und Gegner den angestauten Haß und die noch unausgetragenen Konflikte ein für allemal ausleben. Der Abschied aus der Welt ist auch für den Mächtigen mit Schmerzerfahrung verbunden.

Diese historischen Szenen scheinen weit hergeholt angesichts der Regierungsübernahme in unseren Tagen. Aber der Wahlkampf hat doch noch weitgehend den Charakter der Kandidatenprügelei, und wenigstens seelisch ist im Wahlkampf schon mancher Machtaspirant so verkrüppelt worden, daß er im Amte kaum noch Weltgier und Handlungsdynamik zeigen konnte; sie waren ihm gründlich ausgetrieben worden.

Was schließlich die Einsetzung der Mächtigen anbelangt: zwar sind bei uns die Zeremonien erheblich eingeschrumpft, und der Triumphzug findet nur noch in der geringeren Form als Ovation statt. Auch sind die weißen Rösser des Triumphwagens zu den Pferdestärken des offenen Repräsentationsmercedes verkümmert; der Memento mori-Einsager ist zum Imageberater verkommen; der Purpur auf dem Herrschergesicht tritt heute nur noch als Zeichen erhöhten Blutdrucks in Erscheinung; die Beutestücke werden papieren-stumpf in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen ausgewiesen, und die langen Reihen der Gefangenen scheinen eher vom Volke selbst an den Straßenrändern dargestellt zu werden - das alles ist zwar anders geworden, aber eben nur anders.

Der Inhalt und die sozialen Funktionen jener Inthronisationshandlungen sind auch in Bonn erhalten geblieben. Das sollte man sich in die Erinnerung zurückrufen, damit wenigstens eine kleine Ovation dem neuen Machtträger dargebracht werden kann.

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