Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erschienen
23.08.2002

Verlag
Verlagsgruppe Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Man sieht nur, was man weiß - Documenta11-Gespräch

Der Besucherdienst der Documenta11 ist in die Kritik geraten. Vorgeworfen wurde, dass Führungen monopolisiert und zur Propaganda der Ausstellung instrumentalisiert würden. FAZ.NET wollte wissen, wie man das Publikum besser an neue Inhalte der Kunst heranführt und sprach mit dem Begründer institutionalisierter Besucherbetreuung, Bazon Brock. 1968 hatte er auf der Documenta IV eine "Besucherschule” begründet, die zum Ziel hatte, das Publikum visuell zu alphabetisieren, Erwartungen und Neugier zu wecken. Der 1936 geborene Kulturvermittler studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Zuletzt lehrte Brock Ästhetik an der Fachhochschule Wuppertal. Sein "Bilderstreit” auf 3sat ist zur Zeit die einzige Talkshow zur zeitgenössischen Kunst im deutschen Fernsehen.

Frage: Herr Brock, Sie sind ein Profi im Vermitteln zeitgenössischer Kunstästhetik. "Man sieht nur, was man weiß” lautet eine alte Einsicht der Kunstbetrachtung. Wie verführt man Besucher von Kunstausstellungen wie der Documenta11 heute zu mehr Wissen und Urteilsfähigkeit?

Der Grundgedanke der Moderne geht ja von der Gleichgewichtigkeit zwischen Produktion und Rezeption, zwischen Produzieren und Konsumieren aus. Das ist in der Wirtschaft so, und das ist in der Wissenschaft so. Es muss also die Voraussetzung geschaffen werden, dass auf der Seite der Nachfrage urteilsfähige Menschen vorhanden sind. Urteilsfähig wird man nur durch das Erkennen von Differenzen. Alle Bedeutung, die die Dinge haben, liegt ja in ihrer Unterscheidbarkeit. Also kommt es darauf an, im Wirtschaftsleben diese Parität von Produktion und Rezeption, oder besser von Konsum, wie es dort heißt, herzustellen. Das macht man, indem man Zeitschriften wie "DM” oder "Test” etabliert. In denen lernt der Konsument, Waren auf bestimmte Kriterien hin zu unterscheiden. Erst dann kann er als Marktteilnehmer mit begründeten Urteilen in Erscheinung treten.

Dasselbe machen wir innerhalb der Kultur. Von der Alphabetisierung angefangen; es hat ja keinen Sinn, Literatur zu produzieren, wenn es keine alphabetisierten Leser gibt. Also müssen Voraussetzungen auf der Seiten der Adressaten, der Leser, der Betrachter geschaffen werden. Die "Besucherschule” ist die jüngste Form der Etablierung von institutionellen Maßnahmen zur Professionalisierung der Betrachter und ist somit also der Partner der Künstler.

Frage: Handelte es sich bei der auf der Documenta IV 1968 eingerichteten "Besucherschule” also um eine Art visuelles Alphabetisierungsinstitut?

Sie wirkte dem visuellen Analphabetismus entgegen. Und das ist ja bis heute besonders wichtig, weil ja Visuelles und Akustisches die wichtigsten Leitmedien sind.

Frage: Gab es für diese Institution Vorbilder?

Es gab eigentlich nur die 20er-Jahre-Bewegung, für die etwa Brecht steht. Mit seiner Aussage, man müsse aus einer kleinen Zahl von Kennern eine große Zahl von urteilsfähigen Betrachtern machen. Das war die Maxime von Brecht. Es gab seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts im visuellen Bereich außerdem die Volkshochschulbewegung, die breite Bevölkerungsschichten an kulturelles Wissen heranführen wollte, nach dem Motto "Wissen ist Macht”. Aber das Besondere der "Besucherschule” ist, dass das nicht nur von außen kommende Maßnahmen sind, sondern "Besucherschulen” Teil der Ausstellung sind, in der sie als Ganzes im Modell, in Begriffen, in Darstellungen enthalten sind. Man trainiert anhand dieses Modells der gesamten Ausstellung, das Ganze zu erfassen. Das hat den Vorteil, dass man niemanden in der Ausstellung selbst stört.

Frage: Die "Besucherschule” hat also ihren eigenen Ort? Sie trainieren nicht vor den Originalen, sondern vor einem Modell?

In der Ausstellung gibt es einen Besucherschulraum, in dem das Training stattfindet. Anhand der Beispiele, die man den Besuchern mit auf den Weg gibt, ihnen vorgemacht hat, wie man mit bestimmten Dingen umgehen kann, finden die Besucher ihren eigenen Weg. Entweder nach der ihnen vorgeschlagenen Methode oder nach einer eigenen. Nach dem individuellen Ausstellungsbesuch kommt man wieder zusammen und diskutiert, was man gesehen und entdeckt hat. Man staunt immer wieder, welche überraschenden Konzepte oder Sichtweisen Besucher aus den Arbeiten herausholen, was für Beobachtungen sie machen, wenn sie auf bestimmte Dinge aufmerksam gemacht wurden. Nach einiger Zeit hat man viele Aspekte zusammengetragen, so dass sich auch der Profi damit wohlfühlen kann.

Frage: Der Besucherdienst auf der jetzigen Documenta geht ja genau anders herum vor, indem er mit den Besucher vor die Originale tritt, belehrt und später nicht mehr diskutiert. Nach Ihrem Modell ist der Besucher sehr viel aktiver, weil er sich allein mit den Dingen auseinandersetzen muss. Ist es Ihr Ziel gewesen, die Eigenaktivität der Betrachter zu fördern?

Wir haben den Begriff der Professionalisierung des Publikums eingeführt. Was nützt ein hochanspruchsvolles Kunstwerk, wenn niemand da ist, der auf dem Niveau, auf dem das konstruiert wurde, gedichtet wurde, geschrieben wurde, überhaupt mitzugehen vermag. Da muss man sich schon zum Partner der Produzent-Künstler machen lassen.

Frage: Ganz allein gelassen werden die Besucher ja nicht. Überall bekommen sie in den Museen Kopfhörer für Audioführungen angeboten. Stört das intensive Zuhören vor den Originalen nicht die visuelle Wahrnehmung?

Natürlich wird die sinnende Anschauung gestört. Andererseits nützt die stierende Betrachtung auch nichts, wenn sich nichts bewegt. Man ist da in einer Paradoxie: Lässt man den Besucher allein, dann hat er es sehr schwer, in diese Haltung einer sinnenden, anschaulichen Betrachtung zu kommen, weil er keinen Ansatzpunkt findet. Dann klagt man, dass der Besucher allein gelassen wird. Bietet man aber Einstiegshilfen, dann heißt es, der Besucher wird manipuliert, er wird vorherbestimmt. Aus diesem Dilemma kommt man nur heraus, wenn man sich an das Wort erinnert, das Goethe schon benutzt hat: "Man sieht nur, was man weiß”. Das heißt, man beginnt, sein eigenes Betrachten zum Thema zu machen, indem man sich fragt: "Was sehe ich denn jetzt?” Und dann beginnt man darüber nachzudenken: "Warum habe ich das eben nicht gesehen?”. Wird es durch die Darstellung vielleicht absichtlich verdeckt, ist das die berühmte ästhetische Verschleierungsfunktion, liegt das an der Entschlüsselungsfunktion, ist das vielleicht apokryph gemeint, wie kann ich mit diesen Unverständlichkeiten umgehen?

Frage: Halten Sie die D11 für besonders erklärungsbedürftig?

Sie hat in einem hohen Grad eine gewisse Geläufigkeit, die der Betrachter im Fernsehen gelernt hat, denn dieselbe Art von Dokumentation über alle möglichen Konflikte in der Welt hat man zum Teil von denselben Autoren gesehen. Auf Arte etwa liefen über viele Stunden die besten der Filme. Man ist also trainiert. Das Hauptmaterial der jetzigen Documenta wird in der Geläufigkeit der Medienaufbereitung geboten, die Alltag geworden ist. Das heißt aber, dass man die Arbeiten nur thematisch angehen kann, nicht etwa mit der Frage, inwieweit das ein Kunstwerk ist. Hier werden nur Themenaspekte geliefert, und zwar genauso, wie sie in der Öffentlichkeit immer gestellt werden. Alles das, was geläufig ist, wird vorgeführt, was zugleich bedeutet, dass man sich fragt, warum bedarf es dazu einer Kunstausstellung. Sie verfehlen ja eigentlich den Auftrag zu zeigen, was in der Kunst läuft, weil eben gezeigt wird, was generell in der Thematisierungsebene gezeigt wird. Da ist kaum ein Unterschied zwischen Journalismus, zwischen Wissenschaft, zwischen Volkshochschule.

Das Gespräch führte Katja Blomberg