Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 56 im Original

12 Fabro

Nebeneinander zeigt Fabro drei Fassungen (Rahmungen) seiner "Juwelen", nebeneinander statt hintereinander, wie sie bisher zu sehen waren! Eine vom Ausstellungsraum erzwungene Lösung? Und zugleich eine Umkehrung des Mottos von Weiner: Eine Reihe von Dingen wird in ein Nebeneinander zurückverwandelt.
Die "Juwelen", die gefaßten Einheiten, werden mit Identifizierungen belegt: Zarathustra, Buddha, Christus. Aber die Bildeinheiten sind nicht Symbole für die drei Mitten der Welt, sondern Begriffsbilder, Formen des anschaulichen Denkens. Es kommt ganz darauf an, in welchem Anschauungsspektrum wir die Einheiten sehen. Wenn wir statt mit Zarathustra, Buddha und Christus die Juwelen mit New York, Florenz und Venedig identifizieren, dann würde in diesem Anschauungsspektrum der rechte Rasterrahmen die Position "New York" belegen (Rasterstraßennetz New Yorks). Die mittlere Einheit würden wir in die Position "Florenz" setzen (der mächtige Körper von Santa Maria als Zentrum der Stadt); und die linke Einheit würde die Position "Venedig" markieren (zentrale Stadtinsel umgeben von Inselgruppen in der Lagune).
Auch mit Begriffen als Anschauungsmuster könnten wir operieren: Wenn wir ganz willkürlich die Begriffe "Es", "Ich" und "Überich" als Anschauungsmuster vorgeben würden, dann würden die Zuordnungen so lauten: mittlere Bildeinheit in der Position (nicht als Symbol) von "Es" als mächtigem, geschlossenem Antriebszentrum; rechte Bildeinheit in der Position (nicht als Symbol) von "Überich" als dominierendem Ordnungsgefüge der Autoritäten; linke Bildeinheit in der Position (nicht als Symbol) von "Ich" als einer Vermittlung des Ordnungsgefüges "Überich" und des zentralen, geballten Antriebs des "Es".
Es geht also darum, daß Anschauung und Begriff eines Sachverhalts nicht stellvertretend füreinander gesehen werden sollen. Könnten Anschauung und Begriff einander wechselseitig vertreten, dann würde zum Beispiel die Anschauung "Holzkreuz" den Begriff "Christ" symbolisieren. Dadurch würden aber sowohl Anschauung wie Begriff derart festgelegt, daß sich andere Verwendungen in anderen Zusammenhängen ausschlössen. Beide wären zu Tode symbolisiert.
Fabros Denkbilder, seine Formen des anschaulichen Denkens, der Verknüpfung von Anschauung eines Sachverhalts und Begriffsbildung, sollten den Geist stimulieren und nicht einschränken. Die Festlegungen von Anschauungen durch Begriffe im Symbol oder die Festlegungen der Begriffe durch Anschauungen in der Allegorie (Beispiel: der Begriff "Freiheit" würde durch die anschauliche Darstellung einer halbnackten, jungen, mit Fahne vorwärts stürmenden Frau als Allegorie festgelegt) will Fabro gerade aufsprengen, damit wir unsere Welt mit neuen Bedeutungen versehen können und der Geist lebendig bleibt.
Nicht nur die Formen, sondern auch die Materialien stimulieren das anschauliche Denken. Bambusrahmen, Stahlrahmen mit goldenem Zierleistengitter, Kreuzrahmen mit Umhüllungen aus Blei-, Silber- und Goldfolie in ständigem Wechsel wirken genauso wie die Form, wenn wir diese Materialien in beliebig vorgegebenen Anschauungsrastern begrifflich bestimmen; zum Beispiel als Wechsel der Zeitalter vom eisernen zum goldenen (Christus), oder als zyklische Wiederkehr des Gleichen (Zarathustra), oder als bewegungslos, ruhig strahlende Ewigkeit, um die die Zeit bloß wie ein Rahmen gezogen ist (Buddha).
Vielleicht verdeutlicht die zweite Arbeit Fabros das Problem. Wir sehen vier handgetöpferte Keramikformen, von denen drei einander sehr ähnlich sind. Die vierte ist im Vergleich zu den drei anderen weniger ähnlich, wenn sie auch gewisse grundsätzliche Übereinstimmungen mit ihnen zeigt.
Wir erinnern uns: Anhand von Ähnlichkeiten (Analogien) werden Unterschiede (Oppositionen) der verglichenen Positionen herausarbeitbar. Die Ähnlichkeiten werden anhand der Unvereinbarkeiten, der wechselseitigen Fremdheit in den verglichenen Positionen herausarbeitbar. Fabro bietet dem anschaulichen Denken Anlaß, Beziehungen von Analogien und Oppositionen in einem Urteilsakt herzustellen. Er gibt das Raster vor: "Urteil des Paris" nennt er die Gruppe. Zur Erinnerung:
Der trojanische Prinz Paris wurde von den Göttinnen Artemis, Aphrodite und Pallas Athene aufgefordert, darüber zu urteilen, welche von ihnen die Schönste sei. Die drei Göttinnen repräsentieren drei Lebenswege und Lebensziele: Reichtum und Macht; Schönheit und Liebesfähigkeit; künstlerische Fähigkeiten und Ruhm. Alle Ziele sind gleichermaßen für Menschen verlockend. Als solche sind sie einander ähnlich, werden aber von den einzelnen Menschen ihrem Wesen und ihrem Charakter gemäß unterschiedlich gewichtet.
In Fabros Ensemble der vier Objekte erhält Paris die Position der größten und abweichendsten Form. Wie wird er sich entscheiden? Er könnte das Angebot wählen, welches ihm etwas verspricht, was er am wenigsten schon selber besitzt. Glaubt er sich als Prinz von Troja ohnehin schon reich und als zukünftiger König auch mächtig: hält er sich ohnehin für schön, dann dürfte seine Wahl auf das Versprechen von künstlerischen Fähigkeiten und Ruhm fallen. Er schwankt im Urteil – wenn wir die Gruppe von wechselnden Blickpunkten ansehen, erscheint uns Paris in Bewegung vor den drei Motiven. Schwankt er, weil er plötzlich versteht, daß er das ihm am meisten Mangelnde und Fremde, das eine Göttin verspricht, nicht ohne das ihm gemäße, aber geringere Geschenk der anderen Göttinnen wählen kann? Das Urteil, welches aus dem Aufbau der Analogien hervorgeht, und das Urteil, das durch die Betonung der Oppositionen gebildet wird, sind nicht voneinander abgelöst zu fällen. Vorteile und Nachteile sind immer nur gemeinsam zu haben. Ähnlichkeit und Unterschiedenheit lassen sich nur wechselseitig auseinander entwickeln. Auch das bemühteste Urteil kann sich von dem Vorurteil nicht absetzen.
Fabros Paris hat schon selber annähernd die Form, über die er im Urteil erst entscheiden soll. Wie hat sich Paris entschieden? Wie urteilen Sie selber über Fabros Urteile, die er als Formen des anschaulichen Denkens so offen und doch so eindeutig zeigt, daß jeder mit ihnen arbeiten kann? Urteile sind nur dann keine Beschränkungen des Geistes, wenn sie als Alternativen nebeneinanderstehen. In Reihen nacheinander absolviert, führen sie zwangsläufig zu einem letzten Urteil, das die Freiheit des Geistes vernichten würde. Hängen also Fabros "Juwelen" nebeneinander, wie auf der d 7, richtiger als in Reihung, wie letztens in Rotterdam?