Partizipation - kleines Stichwort zur Bewältigung der ästhetischen Praxis
Wer draußen steht, kommt leicht in Versuchung, sich über das, was drinnen vor sich geht, komische Gedanken zu machen - zumal dann, wenn auch noch dazu aufgefordert wird, es sich im Hause recht bequem zu machen. Denn die Türsteher und Animierfritzen fangen heute die Leute mit dem Hinweis darauf, daß sich drinnen nichts tue. Immerhin ein Moment von Freiheit, wenn man sicher sein darf, daß man nichts verpaßt, weil eben nichts passiert. Unsere einstudierten Verhaltensformen, unsere unveränderlich arbeitenden Assoziationsmechanismen aber zwingen uns dazu, auch dort noch Unterschiede zu machen, wo sie sich glücklicherweise aus der Sache oder aus formaler Rechtsposition nicht mehr ergeben. Das hat natürlich Gründe: unsere Erziehung zur kulturellen Leistungsfähigkeit ist auf die Ausbildung des Unterscheidungsvermögens ausgerichtet: Vorgänge der Forschung, Verwaltung und Produktion werden bestimmt durch Normierung, Registrierung, durch Absicherung des Einen gegen das Andere als ein Unterschiedenes. Unbestimmtheit ist uns unerträglich, nicht, weil die Sache unbestimmt und damit uns unbekannt bliebe, sondern weil die Unbestimmtheit vor allem unser Verhalten gegenüber den Sachen betrifft: wir werden nicht bestimmt in der Aktion, in der Form der Äußerung, die Selbstdarstellung oder Repräsentanz oder Individuation sein kann. Unbestimmtheit enthält für uns nur einen einzigen Appell, die Unbestimmtheit in Bestimmtheit zu überführen - das aber ist verhältnismäßig wenig. Die Form unserer Aktivität wird dadurch noch nicht festgelegt.
Auf die Vorbestimmung und Festlegung unserer Verhaltensweisen und Aktivitäten kommt es aber der Vielzahl moderner Subjekte an, die sich aus der Verunsicherung der normalen Konfrontation mit ästhetischen Gegenständen herausarbeiten wollen. Die Unsicherheit und Unbestimmtheit könnte auch dadurch aufgehoben werden, daß die Produzenten von ästhetischen Gegenständen ihre Produkte entsprechend vereindeutlichen. Abbau der Unbestimmtheit heißt für den Künstler, Innovationen zu bringen, Neues zu produzieren. In den vergangenen 50 Jahren ist im Bereich der ästhetischen Praxis die Entwicklung von Seiten der Künstler tatsächlich so bestimmt worden. Der Kunstkonsument oder besser der Rezeptiontreibende konnte seine Form des Verhaltens auf dieses Moment einschränken, ohne zu riskieren, damit der Kritik ausgesetzt zu sein: er mußte so reagieren, wie man eben auf Neues reagiert: mit Erstaunen, mit Entzücken, mit Kopfschütteln. In jedem Fall war damit für ihn soziale Korrespondenz gesichert. Der Anspruch gegenüber den Künstlern war auch eindeutig auf das Hervorrufen solcher Reaktionen ausgerichtet - genügten sie denen nicht, brachten sie nichts Neues, so wurde ihnen das als ausreichendes Kriterium der Zurückweisung entgegengehalten.
Vor ungefahr zehn Jahren begannen Künstler, diese Form der gesellschaftlichen Verengung dadurch aufzubrechen, daß sie Zuschauer oder Besucher zu anderen Formen der Reaktion zwangen und damit einen Teil der Bestimmung, der Beziehung zwischen ästhetischem Gegenstand und der Rezeption auf das Publikum übertrugen. Die Formen der Korrespondenz wurden zunächst gekennzeichnet durch den Aspekt der Verbindung, der Verknüpfung, wie er in der Präposition 'mit' auftritt. Mitspielen, mitbestimmen, mitmachen. Das aber heißt eben Teilnahme in unmittelbarer Aktionsnähe, allerdings noch ohne eindeutige Selbstbeteiligung als Produktion, als Veräußerlichung. Partizipation hieß das Stichwort, das die Veränderung der Rezeption von ästhetischen Gegenständen und aktuellen Produktionen kennzeichnete:
- Partizipation als Teilnahme an einem stattfindenden Ereignis oder Vorgang, wobei zwar der Vorgang ohnehin stattfindet, aber doch im Hinblick auf das Dabeisein von anderen entworfen wird.
- Partizipation als Teilnahme, wobei die Teilnahme unmittelbare Bedingung für das Ereignis selber ist.
Die Entwicklung zeigte Partizipationen konkret für
Fall I Die Kinetik, etwa ein Werk von SOTO, das zwar auch ohne die unmittelbare Teilnahme materiale Entfaltung zeigt, aber doch im Hinblick auf die Teilnahme konzipiert ist. Der Betrachter hat sich nämlich vor dem Bilde SOTOs in bestimmter Weise zu bewegen, wenn die geplante ästhetische Sensibilisierung in den Formen des Linienflirrens erreicht werden soll.
Fall 2 Happenings, die ohne die Teilnahme der Rezeptionstreibenden keine materiale Entfaltung annehmen können, da die Bewegung der Teilnehmer erst Form des Ereignisses ist.
Also: Veränderung der Unbestimmtheit durch Erfindung von Neuem seitens der Künstler und entsprechende Bestimmung des Verhaltens von Betrachtern oder Besuchern, die auf das Moment der Wahrnehmung des Neuen eingeschränkt war. Sodann Veränderung der Rezeption durch Bestimmung der Teilnahme, der Partizipation.
Was wir heute miterleben, ist die Herausbildung eines Hauptmerkmals zukünftiger ästhetischer wie gesellschaftlicher Praxis: der Betrachter, der Besucher, der Teilnehmer usw. bestimmen ihrerseits durch die Formen der Partizipation die Erscheinungsweisen, die Materialisationen von Umwelt.
Den Übergang zur Zukunft der ästhetischen Praxis beschreibt eindeutig die Vielzahl von Begriffen, die wir heute schon aus der gesellschaftlichen Praxis kennen: etwa go-in, love-in, teach-in usw. Gesellschaftliche Praxis sind sie deshalb, weil eine Versammlung oder die Verabredung zu ihr schon Praxis sind: Informationszirkulation und Technik der Koordinierung von Bewegungen im sozialen Rahmen. Diese Praxis bietet einen bestimmten Rezeptionsanreiz (man liest eben die Zeitung z.B.). In dieser allgemeinen gesellschaftlichen Praxis ist die Rezeption durch Rituale und Mechanismen bestimmt. Die Auslösung dieser Mechanismen geschieht durch Appelle, die von der Umwelt angeboten werden. Je größer die Anzahl der Appelle, desto höher das Rezeptionsniveau. In der ästhetischen Praxis soll diese Dichte der Rezeptionsanreize erreicht werden, ohne daß festgelegte Rituale und Mechanismen sie bestimmen. Das Dilemma der Künstler ist bisher darin zu beschreiben, daß sie zwar einerseits Rezeption anregen können, ohne dazu Rituale zur Hilfe zu nehmen: dann aber ist die Dichte der Rezeptionsanreize sehr gering und damit das Rezeptionsniveau tiefer als das der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis (z.B. wird einem bei einem Gang durch eine Großstadtstraße in unmittelbarer Folge das geboten, was vereinzelt innerhalb der Kunst mit großer Verve Rezeption auslöst, aber eben vereinzelt).
Um aus dieser Einschränkung herauszukommen, muß demnach zunächst einmal Umwelt konstituiert werden, in der die Chance bestünde, ununterbrochen und unmittelbar Rezeptionsanreize abzugeben.
Die von Künstlern konstituierten Umgebungen nennt man Environments.
Seit ungefähr zehn Jahren praktiziert, in Amerika durch KAPROW initiiert, bilden die Environments den Kern neuer ästhetischer Materialisationen. Die Umgebungen werden nicht (entsprechend den sozialen Umgebungen) einheitlich gestaltet. Da das Verstehen, das Betrachten oder Aneignen der Situation durch Subjekte betrieben werden soll, die nicht darin bloßes Beantworten von Appellen sehen, muß die Umgebung als Environment möglichst viele unterschiedliche Teilstücke aus unkenntlich gewordenen Bereichen enthalten. Das Environment wird als Ganzes nicht wiederum bestimmbar sein, aber jeweils in den Umgebungsausschnitten doch notwendig den Anschein autonomer Verknüpfungen haben. Denn die Form der Teilnahme soll ja für den Einzelnen durch das Umschlossensein oder durch das Einbezogensein beschreibbar werden. Das macht den Unterschied zum kunstgeschichtlich älteren Begriff des Ambiente, der zwar auch eine geschlossene Verweisung von Einzelmomenten aufeinander bezeichnet, aber ohne dabei von dem Teilnehmer als Mittelpunkt auszugehen.
Es ist demzufolge sehr einfach, gelungene Manifestationen von nichtgelungenen zu unterscheiden: gelungene bieten mehrere Umgebungen in einer einzigen, von denen keine dominiert und eindeutiges Verstehenkönnen vortäuscht oder anbietet. Selbst dann, wenn nur ein Raum zur Verfügung steht, wird in den gelungenen Environments die Mehrwertigkeit der Einzelmomente (der Hinweis darauf, daß sie zu verschiedenen Verweisungssystemen gehören) deutlich: Tische oder Sitze oder Versatzstücke lassen sich transformieren durch Perspektivwechsel oder sind schon manieristisch in sich verwandelt.
Der beteiligte Einzelne kann so die erwartete Umweltinterpretation bereits als Veränderung der jeweiligen Umwelt erfahren.
Unsere soziale Umgebung, in der wir leben, ist für uns mehr oder weniger homogen, eher mehr. Was nicht in dieser Gleichförmigkeit aufgeht, versuchen wir, aus der sozialen Umgebung zu entfernen, weil wir es als störend empfinden. Daß sich aber in solcher Umgebung das Leben störungsfrei abspielt, ist noch keine hinreichende Erklärung der Umgebung an sich. Wollen wir unseren Anspruch auf Umweltinterpretation einlösen, werden wir gezwungen, sie als vorgegeben anzuerkennen, weil die gelieferten Interpretationen mit unserem Leben übereinstimmen. Wir erhalten nachträgliche Erklärungen für nicht mehr Aufhebbares.
Die künstlerischen Umgebungseinheiten sind auf ihre Aufhebbarkeit angewiesen; denn sie können nur solange existieren, als wir in ihnen uns bewegen. Sie können uns nicht verordnet werden. Die Form ihrer Aufhebung bestimmen wir selber dadurch, daß wir unsere Teilnahme an ihnen bestimmen können. Die Aktualisierung eines Environments zum Zwecke seiner verändernden Aufhebung ist das Happening. Es heißt, Environment sei eine Überführung des Tafelbildes in den Raum - so kann man auch sagen, das Happening sei eine Fortführung des Environments in den zeitlichen Ablauf des Nacheinander, der auch als Augenblick verstanden werden kann, in welchem alles zugleich abläuft. (Dazu siehe auch weiter oben.) Für den Entwicklungstrend ist aber wichtig, einmal gemerkt zu haben, wie sich die Teilnahmeform, die Partizipationsform an den Happenings verselbständigt hat: stieß jemand ein Glas um, ließ Muttchen der Tante ein Ei auf den Ärmel klatschen, tanzten zwei oder drei miteinander in auffälliger Weise ~ so rief die anwesende Gesellschaft fröhlich 'Happening'. Darin drückte sich schon der Wunsch aus, von der realen Basis der Happenings herunterzukommen, wobei die Aktivität der Teilnehmer nur noch durch Verabredung des Erwartbaren gesteuert würde, nicht mehr aber von materialen Vorbedingungen, zu denen auch bestimmte Räumlichkeiten oder Utensilien gehörten.
Solche Verabredungen werden in den Begriffen teach-in, sir-in usw. getroffen.
Das 'in' kennzeichnet die Aktivitätsausrichtung. Oder die Handlungsintentionalität.
Sie geht von jedem einzelnen Teilnehmer aus und führt auch wieder auf ihn zurück als Objekt eines anderen. Der Austausch ist ein Zustand, ein permanenter Vorgang, wie die Substantivierung der Worte zeigt. 'Teach, sit oder love' bezeichnen den Erwartungshorizont, in welchem sich die Teilnehmer bewegen werden, aber nicht etwa aus Angst vor Grenzüberschreitung, sondern um Unterschiede zu ermöglichen, welche zu weiteren Ausrichtungen von Aktivitäten gebraucht werden. Es kann also auf einem love-in durchaus auch ein teach-in stattfinden. Ob nun die Form eines blockierenden Niedersetzens (sit-in) oder die Form eines unaufhaltsamen Eindringens (go-in) oder die Form eines entlarvenden Belehrens (teach-in) praktiziert wird, es ist die Form der spezifischen Teilnahme, die Bestimmung der Aktivität des Einzelnen, die den Sachverhalt erst materialisiert. Auch 'die Straße' ist nur eine bestimmte andere Form der Teilnahme, der Partizipation. Ihnen entsprechen in der ästhetischen Praxis light-show, mixed media und multimedia-Aktivitäten. Onkel McLUHAN hat dazu unglaublich Einleuchtendes gesagt. Bitte lesen Sie bei ihm weiter. Hier fehlt der Platz.
siehe auch:
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Partizipation – kleines Stichwort zur Bewältigung der ästhetischen Praxis – Abschnitt in:
Ästhetik als Vermittlung
Buch · Erschienen: 1976 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Fohrbeck, Karla