Buch Lucius Burckhardt: Die Kinder fressen ihre Revolution

Wohnen - Planen - Bauen - Grünen

Lucius Burckhardt: Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen - Planen - Bauen - Grünen, 1985, Bild: Titelblatt.
Lucius Burckhardt: Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen - Planen - Bauen - Grünen, 1985, Bild: Titelblatt.

Erschienen
1984

Autor
Brock, Bazon | Burckhardt, Lucius

Herausgeber
Brock, Bazon

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1718-2

Umfang
440 S. : Ill. (z.T. farb.) ; 21 cm

Einband
kart. : DM 46.00

Seite 9 im Original

Vorwort

Große Männer sind gefährlich, weil kleine Männer ihre Gefolgschaft bilden. Gehören Herausgeber zur Gefolgschaft?

Sie neigen dazu, ihre Autoren zu raren Größen zu stilisieren, denn auf diesem Wege erhöhen sich die Herausgeber selber.

In ein Dilemma geraten Herausgeber so oder so. Erheben sie für ihre Autoren große Ansprüche, dann schaden sie den Autoren bei deren Kollegen, die die Fachgeschichte schreiben. Je bedeutender ein Autor, den die Fachgeschichte bisher übersah, desto wertloser die Urteile der Fachhistoriker; also werden sie alle Gründe aufbieten, die Edition des unbekannten Meisters ihres Faches nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Die Elogen eines Herausgebers kommen da gerade recht. Also darf der Herausgeber seinen Autor nicht als sehr bedeutend erscheinen lassen. Nimmt andererseits ein Herausgeber den Geltungsanspruch für die Werke des von ihm edierten Autors zu weit zurück, dann fragen sich die Leser, warum ihnen gerade dieser Autor empfohlen wird.

Auswege aus dem Dilemma? Zum Beispiel in der Entscheidung, daß die Anerkennungsstrategien der Fachkollegen weniger Aufmerksamkeit verdienen als das Interesse einer denkbar breiten Leserschaft? Wer aber unabhängig von ewartbaren Mißbilligungen oder Zustimmungen der Kollegen ist, wird leicht für eitel gehalten, denn Eitelkeit ist ja Desinteresse an den Einwänden anderer. Sich für unabhängig zu halten ist schon eitel. Mein Autor, Lucius Burckhardt, empfiehlt mir, eitler zu sein. Doch das Eingeständnis der eigenen Schwäche galt und gilt in deutschen Landen nicht gerade als Empfehlung, die es ja eigentlich ist.

Warum bedarf es überhaupt eines Herausgebers für die Schriften eines noch lebenden Autors? Die Antwort ist sehr einfach. Der Autor würde – wie er leider bewiesen hat – seine vereinzelten Schriften eben nicht selber wieder zugänglich machen.

Ist er zu bescheiden? Auch das wäre eitel! Muß ich meinem Autor empfehlen, weniger eitel zu sein?

Nein, mein Autor ist schlichthin zu engagiert, um sich selber darum zu kümmern, was er gestern schrieb. Heute reist er schon in anderen Regionen; missioniert Stadtbauräte in Sizilien oder in Konstantinopel; verhilft berserkerhaften Tatmenschen zu der dumpfen Ahnung, daß gegenwärtig und in nächster Zukunft die wahren Großtaten darin bestehen werden, möglichst wenig zu tun.

Und weil sich Lucius Burckhardt an seine eigenen Empfehlungen hält, gibt es bisher keine Edition seiner Werke. Was von ihm an abseitigen Orten in unscheinbaren Medien vorhanden ist, betrachtet er nur als Versuche, zu beweisen, daß man heute, zumal in den westlichen Industrieländern, alle Phantasie und Tatkraft darauf konzentrieren sollte, groß und großartig geplante Werke aller Art zu verhindern. In der Tat bedarf es inzwischen wohl größerer Kreativität, den Bau eines ›Schnellen Brüters‹ zu verhindern, als ihn zu konzipieren und zu realisieren. Sollte das auch für schnelle Schreiber gelten? Auf jeden Fall ist Vorsicht geboten, wenn der Schreiber ein Wissenschaftler ist – wenn sich also die Autorität einer mächtigen Institution seiner angenommen hat.

Auch die langsamen Autoren sind in einem Dilemma. Schreiben sie als freie Künstler, stützen sie also ihren Aussagenanspruch auf nichts als die eigene Persönlichkeit, werden sie kaum Autorität genießen; allerdings dürften sie als abenteuerliche Gestalten einiges Interesse erregen.

Nehmen die Schreiber hingegen die Autorität der Institution Wissenschaft in Anspruch, entmündigen sie sich selbst zu Funktionären des objektiven Geistes, was aber ja den Vorteil einbringt, persönlich nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können.

Interesse findet Lucius Burckhardt wegen seiner abenteuerlichen Fähigkeit, selbst zerredete Themen originell anzugehen – und zwar in äußerster, in angelsächsischer Einfachheit. Da derartige Tugenden bei uns rar sind, ist das Interesse an den Arbeiten Burckhardts sehr groß. Auch deshalb sollten diese Arbeiten jetzt herausgegeben, also zugänglich gemacht werden.

Burckhardt arbeitet als ordentlicher Professor für Stadtentwicklung und Landschaftsplanung an der Universität Kassel, die eine Gesamthochschule ist. Er nimmt die Autorität der Wissenschaft nicht in Anspruch – er kritisiert sie!

Auf originelle Weise, wie gesagt. – Aber Originalität und Einfachheit sind in den Wissenschaften selten gewürdigt worden. Originelle Kritik schon gar nicht. Sie ist unerwünscht, weil sie die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers unüberhörbar deutlich stellt. Das ist um so dringender geboten, als inzwischen wissenschaftliche Expertisen in erster Linie dazu dienen, von politischer, sozialer oder richterlicher Verantwortung zu befreien. Nicht die Politiker haben falsch entschieden – die wissenschaftlichen Expertisen waren falsch. Das ist der Tenor aller regierungsamtlichen Selbstentschuldigungen!

Eine Edition der Arbeiten Burckhardts ist auch angezeigt, damit der Kritiker der Wissenschaften selbst kritisiert werden kann; damit er auf die Verantwortung festgelegt werden kann, die er ausdrücklich für sich gelten läßt.

Burckhardt hat sich nie von Schuld freisprechen wollen. Er hat allerdings seine Einsichten genutzt, um sich möglichst nicht schuldig zu machen. Das sei keine Tugend, hört man. Wer sich nicht wenigstens dreckig mache, besser noch mit Blut besudele, könne nicht glaubhaft versichern, überhaupt ein Gewissen zu haben, ein Gewissen, das ihn nicht zur Ruhe kommen läßt, sondern zu neuen Großtaten des Geistes und der Kraft antreibt. – Eine denkwürdige Logik, die der Verkommenheit unseres Bewußtseins entspricht und die man schon den Emigranten aus den großen Taten des Dritten Reiches vorhielt. Diese Logik hat wieder Konjunktur bei deutschen Christen, die längst alle lieber verlorene Söhne und reuige Sünder sein wollen als gute Jedermanns, also gute Schweizer. Das Außerordentliche ist längst zum Normalfall geworden – das Selbstverständliche, das Unauffällige, verdient unsere Aufmerksamkeit. Weil uns Burckhardt das vorzuführen versteht, sollten seine Schriften zugänglich sein.

Und schließlich der wahre Grund für diese Edition. Am 12. März 1985 wird Lucius Burckhardt 60 Jahre alt. Zu derartigem Anlaß sind zumindest die Freunde verpflichtet, eine Dankschrift zu verfassen, zumal dann, wenn, wie im Falle Burckhardt, nicht länger verschwiegen werden kann, was sie dem Jubilar zu verdanken haben. Die Festschrift wurde also geplant. Die Verfasser der Beiträge erwiesen sich aber so wenig den Ansprüchen gewachsen, die durch die Schriften von Burckhardt vorgegeben sind, daß sie beschämt beschlossen, lieber gleich Burckhardt im Original zu veröffentlichen.

Zur Edition

Aus einsehbaren Gründen konnte nur etwa die Hälfte der verstreuten Veröffentlichungen Burckhardts aufgenommen werden – von den bisher nicht veröffentlichten, vor allem den Vorlesungen, ganz zu schweigen. Der Umfang der Edition war durch die Veröffentlichung in der Reihe der ›DuMont Dokumente‹ vorgegeben. Mit der Aufnahme der farbig wiedergegebenen Aquarelle ist das Übliche für solche Schriften ohnehin überschritten. Auch die unten erwähnten größeren Schriften Burckhardts blieben unberücksichtigt.

Es war auch nicht daran gedacht, eine historisch-kritische Ausgabe zu beginnen. Die Gliederung entstand aus der Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den vier zentralen Theoremen, mit denen Burckhardt arbeitet.

Die vier Theoreme heißen: ›Design ist unsichtbar‹; ›Pflege kann zerstörerisch wirken‹; ›Nur der kleinstmögliche Eingriff ist gerechtfertigt‹; ›Neue Werte kommen aus dem Müll der alten Kultur‹.

Der Herausgeber hat diese Theoreme in Verbindung mit den Aquarellen darzustellen unternommen. Sie folgen weiter unten. Für jedes der vier Hauptkapitel des Buches ist ein Beitrag herausgehoben, in welchem das zentrale Theorem jeweils besonders klar und umstandslos vorgeführt wird. Es sei dem Leser empfohlen, sich diesen Texten zuerst zu widmen.

Es wurde darauf verzichtet, die Texte mit Anmerkungen zu versehen. Nach Auffassung des Herausgebers ist dem Leser besser gedient, wenn er sich auf vier Bücher von vier Autoren einläßt, die hier empfohlen werden. Zum einen arbeitete Burckhardt selber seine Theoreme in unmittelbarer Beziehung auf jene Autoren aus. Zum anderen haben die Werke jener Autoren erst durch die Arbeiten Burckhardts wirken können. Burckhardt machte sie für uns rezipierbar.

Zum Theorem ›Gerade Pflege zerstört‹ lese man Robert Venturi, ›Lernen von Las Vegas‹, hrsg. von Lucius Burckhardt, Winterthur 1969.

Zum Theorem ›Design ist unsichtbar‹ lese man Christopher Alexander, ›Pattern Language‹, Oxford 1979.

Zum Theorem ›Gerechtfertigt ist nur der kleinstmögliche Eingriff‹ ziehe man Bernard Lassus, ›Les Habitants Paysagistes‹, Paris 1977, zu Rate.

Zum Theorem ›Alle Kultur regeneriert sich aus dem Müll ihrer Vorgängerin‹ sei empfohlen Michael Thompson, ›Theorie des Abfalls‹, Stuttgart 1982.

Zum Umfeld der Arbeiten Burckhardts

Zum größeren Teil sind die Diskussionen, die Burckhardt mit den erwähnten Autoren führte, die auch die Argumentationen, die er zu den zentralen Gedanken jener Autoren entwickelte, sehr viel älter, als es die Veröffentlichungsdaten der empfohlenen Schriften nahelegen.

Das geschah natürlich nicht unabhängig von den Tätigkeitsfeldern und Rollen, in denen Burckhardt während der vergangenen 25 Jahre gewirkt hat. Das gilt in erster Linie für
- die Tätigkeit als Gastdozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Dort unterrichtete Burckhardt Ende der fünfziger Jahre vor allem Geschichte der Perspektive;
- die Mitarbeit an der Nationalausstellung der Schweiz in Lausanne 1964;
- die Lehrtätigkeit an der ETH Zürich als Gastprofessor für Architekturentwurf in den Jahren 1970 bis 1973;
- die Tätigkeit als Hochschullehrer in Kassel seit 1973;
- die Arbeit als Vorsitzender des Deutschen Werkbundes von 1976 bis 1983;
- und insbesondere für die Arbeit als Redakteur der Zeitschrift des Schweizerischen Werkbundes ›Werk‹, die Burckhardt von 1962 bis 1972 verantwortlich leitete.

In diesen Jahren werden für Burckhardt einige Kollegen wichtig, deren Arbeiten jedoch später eine andere Entwicklung nahmen als die seine. Für die Zeit in Ulm ist besonders Horst Rittel zu nennen, mit dem Burckhardt auch später in Zürich »bösartige Probleme« studiert; das sind Probleme, für die es keine Lösung im herkömmlichen Sinne geben kann. Ab 1963 arbeitet Burckhardt eng mit Valter M. Förderer zusammen, dessen Genialität als Architekt schwer zu vermitteln bleibt. Gemeinsam veröffentlichen Burckhardt und Förderer 1968 ›Bauen ein Prozeß‹ eine Untersuchung zur Frage, warum immer alles schiefgeht, was schiefgehen kann.

1962 übernimmt Burckhardt die Redaktion der Zeitschrift ›Werk‹ als Nachfolger von Benedikt Huber und Alfred Roth. In dieser Zeitschrift konnte nur zwischen den Zeilen der Kampf gegen die offiziellen Stadtplanungen, gegen Globalstrategien und Maximalkonzepte seinen Ausdruck finden. Für diese Phase steht Burckhardts Konzeption des Regio-Kongresses (›Regionalismus und Planung‹), Basel 1965.

Ab 1966 entwickelt Burckhardt eine enge Freundschaft zu Christian Hunziker, der als Architekt und Hochschullehrer in Genf und Straßburg gegen das verbreitete Pathos der wissenschaftlichen Planung und gegen den Pomp des künstlerischen Entwerfens die andere Erfahrung des Handwerkers und Dilettanten zu setzen versucht.

Die Bereitschaft Burckhardts, sich auf derartige, häufig extreme, ja radikale Ansätze einzulassen, verdankt sich wohl der Sicherheit, die ihm sein großbürgerliches Elternhaus in Davos bot – sowie der weit zurückführbaren Familientraditionen, die entscheidend vom Kulturklima Basels geprägt sind.

Dennoch ist es erstaunlich, wie konsequent Burckhardt seine Arbeitsschwerpunkte entfaltete.
Von der Reaktion auf die ersten Informationen über das soziale Engagement der
modernen Künste, die ihm seine Schwester Jeannette Hesse als Assistentin von Le Corbusier geben konnte, –

über die 1.949 erzwungenen Referenden gegen den Korrektionsplan für die Entwicklung der Stadt Basel –

bis zur ersten umfassenden, sowohl systematischen wie historischen Analyse der »Unregierbarkeit moderner Gemeinwesen« und des »Sichdurchwurstelns« als einzig erfolgreicher Überlebensstrategie, die Burckhardt 1955 als Dissertation bei Salin und Jaspers schrieb – schon in diesen frühen Stadien seiner Arbeit zieht Burckhardt einen haltbaren Faden durchs Labyrinth der zeitgenössischen Lebenswelt.

Die Edition will diesen Leitfaden sichtbar machen. Es bleibt Sache des Lesers, ihn als roten Faden aufzugreifen.