Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
27.05.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
27.05.1995

Kluge Kälber

Es wurde wieder gewählt. In NRW. Ein Trend bestätigt sich - der zur Zweidrittel-Gesellschaft. Bestenfalls zwei Drittel wählen, ein Drittel verweigert.
Verweigerer haben es schwer. Immer häufiger werden sie nach Wahlen mit geringer Beteiligung der Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichem Wohl und Wehe bezichtigt. Nun gehört aber zu unserer gehobenen Selbstfeier das Bekenntnis zur Verweigerung; nicht mitzumachen, nicht mitzulaufen, heiße, Widerstand zu leisten. Verweigerer seien charakterfeste, selbstbewußte, opferwillige Widerständler. Das kann natürlich nicht nur für ferne Zeiten unter Hitler/Stalin gelten.
So bestätigte Antje Volmer, Vizepräsidentin des Bundestages, daß Verweigerer nicht nur ein Grundrecht, sondern eine Grundpflicht wahrnehmen im Widerstand gegen unerträgliche Zumutungen. "Verweigerer dürften deshalb nicht ausgegrenzt werden", so Volmer, "Verweigerer sind ein normaler Teil des gesellschaftlichen Spektrums."
Klar, Antje Volmer meinte die Kriegsdienstverweigerer; warum nicht auch die Wahlverweigerer? Wenn volksmündlich gilt, daß nur die dümmsten Kälber ihre Metzger selber wählen, dann will offenbar ein Drittel der Wahlberechtigten sich wenigstens nicht als dumme Kälber ansehen, als Stimmvieh. Sie verweigern die Wahl in einem Akt des Widerstands, denn sie bringen zum Ausdruck, was sie nicht wählen können. Sie treffen ihre Wahl, indem sie nicht wählen. Eine andere Wahl haben sie nicht.
Wenn wir diese Entscheidung mit Volmer als ganz normale Verhaltensweise akzeptieren, anstatt Nichtwähler wie Gleichgültige und Asoziale auszugrenzen, könnten wir die Nichtwähler tatsächlich für eine der stärksten Parteien halten. Und deshalb müßten sie Volmer zufolge auch politisch repräsentiert werden, soweit die Politik und ihre Institutionen das ganze gesellschaftliche Spektrum repräsentieren sollen.
Ein schöner Gedanke, dem man zum Beispiel darin Geltung verschaffen könnte, daß die Gewählten bei ihren Entscheidungen zu bedenken ermahnt würden, warum sie bei so vielen als nicht wählbar gelten - und daß sie von den anderen auch nicht gewählt wurden wegen ihrer überzeugenden Leistungen, sondern weil sie als die kleineren Übel gerade noch durchgingen.
Aber auch die kleinen Übel walten unabwendbar. Sie wachsen sich zu unerträglichen Bedrohungen aus: Verprassen der Zukunft durch Staatsverschuldung; Bedrohung der zukünftigen Generationen durch ökologische Bedenkenlosigkeit; Vergessen der Zukunft durch soziale Verwahrlosung. Ob rot, grün, ob schwarz, oder bräunlich, die Wähler und Gewählten können auf diesen Wegen in die Katastrophe offenbar wenig ändern.
Wenn ohnehin alles läuft, wie es läuft, begehren viele dafür nicht auch noch Verantwortung zu übernehmen, indem sie die Übel durch ihre Wahl bestätigen. Sie sind kluge Kälber.
Und wir die Dummen? Wir lassen uns das gesagt sein und seufzen unter der schweren Last, die Wahrheit nicht akzeptieren zu dürfen, solange wir noch verantwortlich sein wollen, um unsere Würde vor dem gleichgültigen Schicksal zu behaupten.