Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
06.05.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
06.05.1995

Ungeniert

"Schweinejournalismus" konstatierten Oskar und seinesgleichen aus allen Parteien. Empörend. Beleidigend. Zensurversuch! Dagegen müsse man anschreiben. Wie soll das aber gelingen, wenn sogar ZEIT-Redakteure, die Wahrer des Liberalismus, joh, joh, genau das mit Mutwillen praktizieren, was Lafontaine geißlerte:
Eben Schweinejournalismus.
"Alteigentümer sah man neben Immobilienspekulanten sich durch Grundbücher wühlen, immer still und heimlich", schreibt Robin Detje in DIE ZEIT 19/95, und er meint damit zwangsexilierte Juden, die ihren Besitz wiederhaben wollen (wußten wir's doch: besitzgierige Juden wühlen im Dunkeln...). Rolf Hochhuths intellektuelle Empörung über furchtbare Journalisten, christliche Antisemiten oder über Leichen gehende Humanisten kennzeichnet der ZEIT-Autor als "Querulantentum" (so isses, Intellektuelle sind Querulanten, die nichts anderes können, als mit jedermann zu rechten).
Hochhuth wird zum Treuhandabenteurer gemacht, er, dessen Kritik an der Treuhandpraxis von eben solchen Journalisten als Widerstand gegen Westimperialismus herausgestellt wurde; von Journalisten, die Wiedergutmachung, Haftung vor der Geschichte und kollektive Schuldbekenntnisse bis ins 10. Glied sogar von Bürgern der BRD einfordern, die keine 30 Jahre alt sind; von Journalisten, die Hochhuths Stücke als Initiativen zur Aufarbeitung der Vergangenheit emphatisch gegen die Elfenbeinturmartisten ausspielten, weil da endlich ein Dramatiker engagiert zur Zeitgeschichte Stellung bezogen habe, anstatt Avantgardespielchen zu betreiben.
Wenn solche Herren sich zu herrschaftlichen Instanzen aufsteilen, die gönnerhaft Erfolg und Nachruhm gewähren oder entziehen können - persönlicher Geltung sei Hochhuths ganzes Tun und Lassen gewidmet, so liest man; wenn solche Schreiber darauf abheben, den Dramatiker Hochhuth als bloßen Journalisten zu enttarnen - altes Kaiser- und Führerwort: "Was Kunst ist, bestimme ich", – dann, ja dann demonstrieren sie eben jene so beleidigende Vorhaltung "Schweinejournalismus" als Selbstverständnis in der einleuchtenden Annahme: Ist der Ruf erst ruiniert, schreibt es sich ganz ungeniert. Ganz ungeniert halten sie sich für Leuchten der Aufklärung - die armen Funzeln im Geiste sind die anderen.
Ganz ungeniert sind sie die wahren Hüter der demokratischen Verfassung - die anderen sind bloß feudale Egoisten. Ganz ungeniert sind sie aufopferungsvolle Humanisten - die anderen aber besitzstandswahrende Faschisten und Rassisten.
Ganz ungeniert wissen sie, was politisch korrekt, kulturell fortschrittlich, sozial einforderbar ist - die anderen sind dumme Reaktionäre, kalte Ausbeuter, charakterlose Interessenvertreter und vor allem unmündige verführbare Kleinbürger, denen nur zu trauen ist, wenn sie den richtigen Führern wie Heiner Müller folgen; den guten Intendanten wie Heiner Müller; den wirklich großen Dramatikern wie Heiner Müller, den wahren Patrioten wie Heiner Müller.
Das ergibt ganz nebenbei auch eine Bilanz zum 8. Mai, die Bilanz von Leuten, die sich seither so richtig befreit fühlen; also richtig ungeniert. Immer noch und immer wieder wollen sich diese Leute als bessere Deutsche beweisen, als Übergrößen - und wenn nicht als ganz einmalige, völlig unvergleichliche Verbrecher aus gekränktem Nationalismus und pervertierter Pflichttreue, so doch als Übergrößen des Verfassungspatriotismus und des radikalen Idealismus.
Ob unter Wilhelm Zwo, Hitler, Ulbricht, Adenauer oder Kohl: Deutschsein heißt für sie Ungeniertsein im wahnhaften Bewußtsein der eigenen unvergleichlichen Stärke: Mal militärisch, wirtschaftlich und vor allem jeistich - mal mit Kanonen, mit dem Scheckbuch oder mit bestechenden sozialen Leistungen. Und wenn's nicht klappt, dann waren es die gierigen, im Dunkeln wühlenden Juden, die zersetzenden, rechten Intellektuellen, die fehlgeleiteten Kleinbürger. Solche Hochhuths fand man jedesmal: 1918, 1933, 1945, 1961, 1989.
Aber dann feierten die wahren Deutschen wieder mal Befreiung von den Übeln: ganz ungeniert deutsch.