Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
01.04.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
01.04.1995

Lebensgenuss

Nach 30 Jahren Erfahrung mit den Gesetzen zur Förderung von Frauen und Minderheiten ziehen die Amerikaner in diesen Tagen Bilanz. In Denver wird höchstrichterlich verhandelt, ob es weiterhin vertretbar ist, bei Ausschreibungen öffentlicher Bauaufgaben nicht derjenigen Firma den Auftrag zu erteilen, die das beste Angebot macht, sondern derjenigen, die einem Mitglied einer förderungswürdigen Minderheit gehört. In Chicago sieht sich der "Oberbürgermeister" heftig attackiert, weil er etliche Anwärter auf den höheren Polizeidienst nicht nach deren Leistungen beförderte, sondern "nach Verdienst"; und verdienstvoll ist es, afrikanischer oder südamerikanischer Amerikaner zu sein.
Selbst edelste Namen im Mediengeschäft geraten ins Zwielicht, weil sie die Minderheitenförderung zur eigenen Förderung nutzten. Milliarden Dollar Steuergeschenke wurden von den Firmen kassiert, wenn sie pro forma einem Nichtweißen einen TV-Kanal verkauften, aber unterderhand weiter die Geschäfte machten.
Die Universität von Sacramento wird auf 2,5 Millionen Dollar Schadenersatz verklagt, weil eine ihrer Professorinnen mit ihrer Darstellung fraulicher Masturbationsgewohnheiten das Schamgefühl eines Studenten verletzte. Der erregte euroamerikanische Kommilitone beruft sich auf die allgemein anerkannte Praxis, gegen das Vorzeigen von explizit sexuellen Bildern gerichtlich vorzugehen, um zukünftige sexuelle Belästigungen zu verhindern.
Und in Omaha verlangt ein Afroamerikaner von einem Enzyklopädieverlag 40 Millionen Dollar Kompensation seelischer Beschädigungen, die ihm widerfuhren, als er auf der CD-ROM unter dem Stichwort "Nigger", das er fälschlich für das gesuchte "Niger" eingegeben hatte, die Erwähnung von Joseph Conrads Roman "The Nigger of the Narcissus" ertragen mußte.
Immerhin: die Amerikaner diskutieren diese gängige Praxis gutgemeinter Förderung sozialer Chancengleichheit und des Kampfes gegen Rassen- und Geschlechterdiskriminierung in aller Offenheit und mit größter Leidenschaft. Zum Beispiel von den Amerikanern lernen, daß ein noch so nuancenreiches und erprobtes Einwanderungsgesetz keine Probleme der Illegalität löst, zu deren Behebung ja für die BRD ein Einwanderungsgesetz gefordert wird. Trotz bestens ausgewiesenen Einwanderungsgesetzen steigt in den USA die illegale Zuwanderung derart stark an, daß auch die legale unter schweren Abwehrdruck gerät.
Man könnte auch in den USA lernen, wie das radikale, unerbittliche Beharren auf der sofortigen Erfüllung von einklagbaren Rechten bis zum letzten i-Punkt die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit untergräbt, mit der man diese Rechte vertritt. Jede Entscheidung und Unterscheidung werden als Diskriminierung auslegbar; jedes Urteil als blankes rassisches, soziales, religiöses Vorurteil darstellbar.
Gibt es einen Gemeinsinn, den common sense, ohne von allen geteilte Erfahrungen oder Lebensvorstellungen? Wohl kaum. Kann es eine Regelung des Zusammenlebens geben ohne common sense? Den weitestgehenden Verlust des Gemeinsinns (the death of the common sense) bilanzieren die Amerikaner, obwohl das Gegenteil mit der Förderung von Frauen und Minderheiten erreicht werden sollte. Die Mehrheit der Amerikaner (ohnehin Frauen und Minderheiten) ist zwar für die weitere Durchsetzung des Willens, allen gleiche Chancen zu garantieren; so eine Medienumfrage: Aber die Mehrheit der Frauen und Minderheiten meint auch, das könne wohl kaum über von jedermann einzuklagende Rechte oder über Quoten geschehen - sondern nur über "natürliche Privilegierung", soweit die von allen Gruppen völlig selbstverständlich angewendet werde.
Wie jeder Aufsichtsrats- oder Vorstandsvorsitz selbstverständlich nicht nach fachlicher Qualifizierung des Besten, sondern nach sozialer Qualifizierung des Geeignetsten vergeben wird, so sollten auch Frauen und Minderheiten schlichtweg privilegiert werden. Minderheiten zu fördern, heißt, sie zu privilegieren - zu den Rechten von jedermann kommen die Sonderrechte der jeweiligen Gruppe hinzu.
Na also - das wär's dann: natürliche Privileglerung, d.h. natürlicher Machtkampf legitimiert von höheren Zwecken, nämlich der Vermeidung von Machtkämpfen, deren Opfer die Frauen und Minderheiten ja gerade waren. Das ist zwar ohne Logik, aber eben doch common sense:
Leben heißt, das Privileg zu genießen, leben zu dürfen, anstatt bloß überleben zu müssen.