Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
04.03.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
04.03.1995

Viehisch

Bloß starker Tobak von den Protestinteressierten? "Neue Judensterne für die PDS", hat die Zeit ausgemacht, obwohl sie nur das Verhältnis der PDSler im Bundestag zu anderen Abgeordneten und Fraktionen kennzeichnen wollte. "Jetzt wird den Rindern ein Kainszeichen vergleichbar dem ‚gelben Stern‘ aufgedrückt: ihre Herkunft und Rasse soll ihnen zum Todesurteil werden", klagen die deutschen Züchter schottischen Hochlandviehs, obwohl sie nur gegen die ins Auge gefaßte Tötung ihrer Galloway-Rinder protestieren. Soweit sind wir gekommen mit den Bekenntnissen gegen Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten.
Daß Züchter rassereiner Viehbestände die Vermarktung ihrer stolzen Erfolge gefährdet sehen, wenn sie sich der politisch korrekten Vermeidung des Begriffes "Rasse" nicht anschließen, ist vielleicht verständlich; aber ihre volkswirtschaftlich bedeutenden Lieblinge, die vom Rinderwahnsinn bedroht sind, mit den Juden in Beziehung zu setzen, die vom Rassismus bedroht waren und sind, läßt die gängigen Bekenntnisse zur politischen und kulturellen Aufklärung als das erscheinen, was sie tatsächlich sind: nachgeplapperte Versatzstücke von Selbstrechtfertigungen.
Man stilisiert sich zum Opfer, um unangreifbar zu werden, und die höchste Selbststilisierung, vor der jeder zu verstummen hat, ist eben die als Jude. Journalisten und Verbandsfunktionäre beuten die Verfolgung der Juden aus, wo sie vorgeben, deren Schicksal mahnend zu vergegenwärtigen.
Die gleichen Leute, die sich gegen die Relativierung des Holocaust so vehement zur Wehr setzen, scheinen nicht zu bemerken, daß ihre leichtfertige Ausmalung neuer Judensterne die Ermordung und Bedrohung der Juden gnadenloser und höhnischer relativiert als alle Identifikationen von Stalinismus und Nationalsozialismus. Oder ist das Absicht? Betreibt man die Vernebelung des politischen und sozialen Bewußtseins nach dem Motto, "wenn der Regisseur nicht weiter weiß, Trockeneis, Trockeneis", damit man nicht mehr so genau sieht, was nicht geleistet wird? In diesen Schwaden dumpfer Humanitätsbekenntnisse verstecken sich opportunerweise viele Kämpfer gegen Rassismus und Diskriminierung, für Freiheit und Selbstbestimmung, damit man nicht sieht, was sich hinter der Bühne der feierlich rhetorischen Deklamation abspielt.
Der jüngste Szenebericht aus den Welten hinter den Bühnenprospekten des Freiheitskampfes, den amnesty international über das Geschehen in der Kurden-Schutzzone des Irak veröffentlichte, läßt erkennen, was wir nicht erkennen wollen: wie vortrefflich die Selbststilisierung zum Opfer dazu genutzt werden kann, Mord und Totschlag, auch der eigenen Bevölkerung, zu rechtfertigen. Die Befreiungskämpfer schlachten die, in deren Namen sie sich radikalisieren, brutaler ab als das sprichwörtliche Vieh, in dessen Namen sich die Rassezüchter gegen rechtsstaatlich zustande gekommene Verordnungen erlauben, den Judenstern zu beschwören.