Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
04.02.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
04.02.1995

Heilsverbrechen

Die Tripolis Wuppertal - Solingen - Remscheid kämpft um ihre Freiheit. Rund 700 000 Menschen wollen sich von der Düsseldorfer Zentralgewalt des Landes NRW nicht länger unterdrücken lassen. Ihre ausgeprägten regionalen Traditionen sehen sie gefährdet. In erregten Debatten empören sich die Bürger über das geringe Interesse der zivilisierten Welt, vor allem des Fernsehens und der Zeitungen, für diesen Freiheitskampf. Die Wupperlaler speziell sind empört darüber, daß kein Mensch von ihrem schweren Schicksal Notiz nehme, denn sie seien in der sozialistischen Weimarer Republik per Verwaltungsdekret gezwungen worden, ihre Identitäten als stolze und älteste Industrieregion der Elberfelder, der Barmer, der Cronenberger aufzugeben. Der Kampf um die Bewahrung der kulturellen Identität von Elberfeldern und Barmern sei von der zentralistischen Macht bisher bloß unterdrückt worden; bis heute brächen bei jeder Party und jeder Ausstellungseröffnung die schmerzlichen Wunden wieder auf.
Das kann nicht länger hingenommen werden, verkündete die Oberbürgermeisterin Kraus. Jetzt gehen wir aufs Ganze. Wir fordern die Völker der Welt auf, ihrer Verpflichtung gerecht zu werden, unseren Freiheitskampf mit Geld, Waffen und Freiwilligen zu unterstützen.
Sie halten diese Meldung für einen schlechten Witz? 700 000 Menschen spielen verrückt? Wieso stellen Sie sich diese Frage nicht bei dem täglichen Berichten vom Freiheitskampf der Tschetschenen, die bringen es auch gerade nur auf 700 000 Menschen? Und die Hilfstransporte, die Söldner und Waffen fließen im täglichen Strom, begleitet von unseren erhabensten Freiheitsgefühlen samt tränenden Gemütsäußerungen.
Der ganze Kaukasus hat so viele Bewohner wie Nordrhein-Westfalen. Und was bringen diese Georgier, Armenier, Aserbaidschaner, Osseten, Abchasen, Adscharen, Inguschen und Tschetschenen an stolzer Bekundung ihres aufopferungsvollen Freiheitswillens nicht alles auf die Beine? Sie bewegen die Welt.
Und wir in Nordrhein-Westfalen? In einem Land, das durch Diktat der englischen Besatzungsmacht geschaffen wurde - nach 130 Jahren heftigster Auseinandersetzung mit den preußischen Usurpatoren, die im völkerverachtenden Machtgekungel von blutigen Despoten beim Wiener Kongress die Region zugeschoben bekamen ohne Abstimmung und Zustimmung der Bevölkerung?
Die preußischen Gewaltherrscher demütigten zum Beispiel die Kölner Bevölkerung bis zur völligen Erniedrigung, indem sie eine Eisenbahnbrücke über den Rhein direkt in den allerheiligsten Ostchor des Doms zielen ließen und unmittelbar neben dieser heiligsten Stätte des kulturellen Selbstverständnisses des freien Köln den Hauptbahnhof bauten; eine Verachtungsgeste von religiösen Überzeugungen, wie sie niederträchtiger kaum denkbar ist. Landsmannschaften wurden zerschlagen, indem man sie als Arbeitssklaven in die Bergwerke zwang, deren Profit die preußische militärische Unterdrückungsmaschinerie nährte.
Nochmal: Wäre eine derartige Beschreibung eines sich erhebenden Landes Nordrhein-Westfalen ein Irrsinn, eine Lächerlichkeit? Wenn ja, dann sollten wir uns deutlich gegen die alltägliche Darstellung solchen Irrwitzes in anderen Regionen der Welt verwahren. Die uns das aufnötigen wollen, betreiben damit ihre eigene Machtpolitik und ihre Geschäfte als Waffenfabrikanten wie als Publizisten, als professionelle Hilfsorganisationen wie als Politiker.
Desperado-Unternehmungen und ihre Bekämpfung als Befreiungstaten unter dem Banner von Nationalstaatlichkeit, Humanität und kultureller Selbstbestimmung auszugeben, heißt, deren Opfer zu verhöhnen, auch wenn die selbst ihre eigensten Interessen mit solchen Fälschungen etikettieren.
Die Opfer ihres eigenen Irrglaubens sind zwar durchaus von denen zu unterscheiden, die sich - auf bei den Seiten - berechtigt fühlen, jedermann auszulöschen, der dumm genug ist, an die nationales Heil versprechenden Ideologen zu glauben. Aber auch Heilsverbrechen bleiben Verbrechen; ja, gerade politisch kalkulierte Gewalttaten sind besonders schwere Verbrechen. Daran ändern vermeintliche Rechte und Freiheiten der Gegner nichts, weder im Kaukasus noch in NRW.