Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
24.01.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
24.01.1995

Recht auf Sühne

"Darf ich Sie mal fragen, was wir eigentlich tun sollten, damit wir uns wirklich richtig verhalten bei den Feiern zur Auschwitzbefreiung? Alle werfen uns vor, die Deutschen verhielten sich falsch. Aber wie es denn richtig wäre, sagt keiner."
Was soll man auf diese alltäglich beim Einkaufen, in der Schwebebahn und an den Arbeitsplätzen, gestellte Frage antworten, wenn jede vermeintlich selbstverständliche Antwort umgehend neue Fragen provoziert?
Wer etwa mit Wolfram Schütte antwortete: "Der Zweck einer Erziehung nach Auschwitz müßte es sein, das einmal Menschenmögliche, das unter diesem Namen eines KZs zutage trat, unwiederholbar zu machen", wird sagen müssen, warum er denn die ethnischen Säuberungen unserer jüngsten Tage nicht verhindert habe. Weil "die Erziehung nach Auschwitz" bei uns noch nicht gefruchtet hat? Brauchten die gefestigten Demokratien Englands, Frankreichs, Hollands, Skandinaviens usw. überhaupt eine solche Erziehung? Warum gelang ihnen nicht die Verhinderung neuer Verbrechen im Namen völkischer oder rassischer oder kultureller Autonomiebestrebungen? In diesen Ländern gibt es ja keine Infamie der Leugnung und Verdrängung, keine Relativierung solcher Verbrechen.
Gerade wenn Auschwitz ein völlig unvergleichliches Verbrechen war, und die heutigen weltweiten Verfolgungen dagegen nur kleine Verbrechen sind, wäre doch umso eher zu erwarten gewesen, daß man sie jedenfalls hätte verhindern können. Wenn dazu aber offensichtlich niemand den Willen oder die Möglichkeiten besitzt, bleibt auch den heutigen Europäern "nur ein geistiges Mittel: erinnerndes Denken, das sich immer erneut dem Faktum Brutum stellt," so Schütte.
Was aber wäre damit zu erreichen, selbst wenn man diese Erinnerung nicht nur punktuell dokumentiert, sondern "systematisch aufarbeitet", wie man das jetzt mit der Gründung des Fritz-Bauer-Instituts beabsichtigt? Denn mit der jederzeit alle Überlegungen beherrschenden Erinnerung an die grausamsten Ereignisse ihrer Geschichte legitimierten und legitimieren ja gerade Ideologen der völkischen und rassischen Reinheit ihr Handeln, das für uns unmißverständlich verbrecherisch ist. Und andererseits kann man beim bösesten Willen nicht behaupten, in der Bundesrepublik werde die Erinnerungsarbeit nicht geleistet.
Seit langem gibt es keine künstlerischen, gesellschaftlichen oder politischen Anlässe, bei denen nicht auf Auschwitz, auf die Opfer und Täter nationalsozialistisicher Wahnhaftigkeiten Bezug genommen wird. Es gibt keine Tageszeitung oder sonstigen Journale, die nicht wenigstens in einem Beitrag jeder Ausgabe dokumentierten, daß die große Mehrheit der Deutschen sich dem Faktum Brutum stellt - mit der radikalen Schlußfolgerung, nichts, keine Schuldbekenntnisse, keine Entschädigungen, keine politische Zurückhaltung, kein Rückzug aus der Geschichte reichten wirklich hin, "das Unfaßbare wieder gutzumachen".
Da das so ist, stellt sich eben die Frage, was man denn noch tun könne, wenn das Menschenmögliche bei weitem nicht reicht. Sollte man auf die alttestamentarische Anweisung ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ (Strafe bis in die 10. Generation der Nachfahren) hoffen? Oder neutestamentarisch die schließliche Klärung solcher Fragen erst vom Gottesgericht am Ende aller Tage erwarten?
Hieße das nicht wieder, sich aus der Verantwortung zu flüchten - einer Verantwortug, für die es angeblich ja keine wirkliche Entsprechung im Verhalten und Handeln der Bürger und Staaten gibt? Wer dennoch auf Verantwortung setzt, muß sagen, welche Sühne er zu akzeptieren bereit ist - vor allem von jenen, die nicht selber mordeten, sondern durch ethnische Zuschreibung zum Volk und Land der Täter in die Verantwortung genommen werden. Wäre das zu sagen und das gesagt zu bekommen nicht "die wirkliche Art", den 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu begehen?