Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
14.01.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
14.01.1995

Kulturkampf ‘95

I. Wie Hitler zum Schauspiellehrer Devrient, gehe ich zum Schauspielleiter Castorf, um über Großes wieder groß zu reden. Ich will das lernen. Schauspielerei hält dazu an, mit einem Thema ernst zu machen - dem Ausdruck zu geben, was insgeheim antreibt und anzieht.
Ich will ernst machen. Schauspielerei verführt natürlich auch zum Lügen und zur Maske. Aber zu lügen ist die Voraussetzung dafür, mit etwas radikal ernst zu machen, indem man die Lügen selber glaubt. Ich will stark sein im Glauben, so wie es die Führer meiner Generationsgenossen empfehlen: Bohrer, Müller, Steiner, Strauß.
Ich will nicht länger ein Mainzelmännchen-Deutscher sein, sondern ein großer Deutscher. Ein Deutscher, der über Leichen geht; nicht mehr bloß demokratisch legitimiert, nicht immer im Rahmen der Sitten und Anstände; nicht kontrolliert von der Ökonomie der Verhältnismäßigkeit: immer, unbedingt, endlich mit ganzem Risiko, endlich ein ganzer Künstler.
Ich will verstehen und natürlich tief verspüren, was die Führer als Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit von Gewalt über Leben und Tod empfinden. Ich möchte Mitglied der Gottsucherbanden werden und zugleich in der Geschichte des Nihilismus, in den heiligen Legenden der Karfreitagsphilosophen eine feste, starke Position beziehen.
Ich möchte wieder aus vollem Herzen bekennen: Wir wollen Gott und damit basta! Erzwingt die Transzendenz durch Glauben, denn die Konsequenzen Eures Tuns sind hier auf Erden schon ganz wirklich. Auch ich möchte vor Bildern wieder beten können.
Die Kunst ist Kirche für Nihilisten, also für alle, die aus rückhaltloser Liebe blind sind, die vor Selbstmitleid tränenerstickt und schluchzend bekennen: Es geschieht dem Volk ganz recht, wenn die genialen Künstler verstummen, denn das Volk glaubt ihnen nicht mehr. Aber das Volk besteht ja aus lauter kleinen der großen Meister.
Es will ja glauben, damit die größten Geister sich wieder offenbaren. Das Volk nimmt Unterricht beim Führer. Wie alle Mächtigen ist er aber gar kein Schauspieler, denn er glaubt, was er sagt, immer, unbedingt. Für das Große gegen die Kleinheit; für das Gute gegen das Böse. Alle sind das Mal der Wende alter Götter.

II. Für Mama gegen Papa.
Heilig der Mann, der nichts Großes will, um seine Mordlust zu rechtfertigen. Heilig der Provinzialismus, die selbstgenügsame Beschränkung aufs Nächstliegende. Heilig die Filzpantoffeln, in denen man nicht schneller sein kann als der letzte Krüppel.
Heilig der sinnierende Blick und die Hände im Schoß. Heilig das matte Blatt, dem kein Gärtner droht, es zu pflegen. Heilig, was geht, wie es immer ging und nicht. wünscht, anders zu gehen.